Materialien 2010
Ein Dampfkessel voll Ressentiments
von: Redaktion Luzi-M
Während etwa 150 Antirassist_innen vor der Reithalle protestierten, ereiferten sich drinnen rund 700 Bürger_innen mit Sarrazin.
Die in die Schwabinger „Reithalle“ verlegte „Diskussionsveranstaltung“ mit Thilo Sarrazin hat gezeigt, dass der Ex-Bundesbanker weit verbreitete rassistische Ressentiments bedient und dabei ein gefährliches Spiel betreibt. Vor der Halle verteilten die „Republikaner“ und Anhänger_innen der antimuslimischen „PI-News“ Flugblätter. Neben Neonazis von NPD und der „Bürgerinitiative Ausländerstopp“ waren rund 700 Bürger_innen gekommen, erleichtert darüber, dass „endlich jemand die Wahrheit“ sagt. Doch an Wahrheitsfindung war ihnen nicht gelegen.
Noch vor Einbruch der Dunkelheit hatte draußen die antirassistische Kundgebung unter dem Motto „Keine Ruhe für Rassist_innen!“ begonnen. Rund 150 Gegner_innen hatten sich versammelt, um – so die „antifa nt“ – „gegen die Sagbarkeit von Sarrazins rassistischen Thesen“, zu protestieren. In verschiedenen Redebeiträgen beleuchteten Aktivist_innen die Person Sarrazin, seine rassistische Hetze und die daran anknüpfende gesellschaftliche „Debatte“. Immer wieder wurde die Veranstaltung des Literaturhauses kritisiert, die billige rassistische Ressentiments „in den Rang des Diskutablen“ erhebe. Die Polizei verteilte einige Platzverweise, hielt sich ansonsten aber zurück.
Unterdessen mussten die Sarrazin-Fans bis zu drei Sicherheitskontrollen passieren, ehe sie ihrem sich als Märtyrer gerierenden Idol begegnen durften. Für viele scheint Sarrazin eine Art Aufbruchsignal zu sein, „endlich“ ihren Ressentiments freien Lauf lassen zu dürfen. Ungeachtet der Tatsache, dass dessen Buch „Deutschland schafft sich ab“ dank der immensen PR inzwischen eine Auflage von 650.000 erreicht, beklagt das Publikum die „linke Meinungsdiktatur“. Tatsächlich aber werden vor allem Sarrazins Kritiker Armin Nassehi und Achim Bogdahn vom Publikum niedergebrüllt.
Tosenden Applaus erntet dagegen der Provokateur für sein unqualifiziertes Gewäsch von der „Anatolisierung“, von „Judengenen“ und „dem Özil“, der die deutsche Nationalhymne nicht singen mag. Die Versuche Nassehis, sachliche Argumente gegen dessen Hetze anzubringen, scheiterten – mussten scheiten. Denn es war klar, dass es mit einem Sarrazin und dessen Anhang keine sachliche Debatte geben kann. Um so erstaunlicher, dass sich der Soziologe – verblüfft ob der „Proletarisierung des Publikums“ – das anders vorgestellt hatte. Dazu die Süddeutsche Zeitung:
„Weite Teile des Publikums sind außer sich vor Wut, schreien, brüllen gar. Und so geht das weiter: Ist Sarrazin am Ball, klatschen viele, steigern sich zur Ekstase. Läuft der Konter über die Zange Nassehi-Steingart, buhen die meisten oder zumindest die lautesten Besucher – das geht bis hin zu wüsten Beschimpfungen.“
Für Sonja Erikson von der „antifa nt“ zeigte die Veranstaltung „deutlich, wie wichtig dauerhaftes antirassistisches Engagement ist“ – und in der Tat: Die Reaktionen des Publikums ließen düstere Sorgen aufkommen. Das geifernde, schäumende Bürgertum hatte sich hier versammelt, um fernab jeder Vernunft – und flankiert von bekennenden Neonazis – ihrem apologetischen Heilsbringer zu huldigen. Wie gerne hätte mensch diesen Dampfkessel einfach von außen versiegelt …