Materialien 2010

300 Jahre Oktoberfest

Uns hams dengerscht1 no nia ned2 richtig eigschenkt, schwoammas owe3

Die grüne Wiese (Mir sagn „Wiesn“!4) vor den Toren der weiß-blauen Metropole unter dem westli-
chen Hochufer der einst reißenden Isar hätte sich nicht träumen lassen, dass sich auf ihr einmal der größte Bier-Event der Welt breit macht. In der Stadt residierte vor dreihundert Jahren, also 1810, der König, die Musikkapelle marschierte und das behäbige, festlich gekleidete Bürgertum jubelte dem Fürsten bei der Eröffnung anlässlich der Heirat des Kronprinzen zu. Der meinte aner-
kennend: „Volksfeste freuen mich besonders. Sie sprechen den Nationalcharakter aus, der sich auf Kinder und Kindeskinder vererbt. Ich wünsche nun auch Kinder zu erhalten und sie müssen gute Bayern werden.“ Das Fest aber wuchs mit der Zahl der Einwohner, die zwischen 1800 und 1850 von 40.000 auf 100.000 und bis 1900 auf 600.000 anschwoll.

Die Menschen hatten einen Durst, und die Bierindustrie expandierte. Über die Bierbarone, die mit kluger Heiratspolitik, mit geschicktem Baulanderwerb für ihre Bierburgen und Fabriken, mit aus-
giebiger Pflege der politischen Landschaft und mit fetten Investitionen in moderne Technik (zum Beispiel in „Lindes Kühlmaschinen“ um die Mitte des Jahrhunderts) ihre Imperien vergrößerten, hieß es „brauen, bauen, sauen“. 1820 gab es in München noch 57 Brauereien, 1870 nur noch 16. Das ist schon goldrichtig, wenn die Nachfrage steigt und die Anbieter der Ware weniger werden.

Da die Krüge irden waren, in die das blonde Naß verfüllt wurde, befand sich häufig mehr Schaum im Gefäß als Bier. Dann eilte mancher, der dies bemerkte, erbost zum Schanktisch, um die mäßig volle Maß auffüllen zu lassen. Vergeblich! Unwillig raunzend ließ der Schankkellner einen Sprutz in den Humpen, so dass der Inhalt erneut erregt aufschäumte, und schob ihn grimmig Richtung Gast mit der Bemerkung: „An Foam (Schaum) möchts ja aa!“5

Da hätte man am liebsten geschrieen „Auf gehts beim Schichtl“ und hätte ihn mitgeschleppt zum großen Zauberer und Kuriositätenpräsentator gleichen Namens, der seit 1869 jedes Jahr in seinem Etablissement die „Enthauptung einer lebendigen Person mittels Guillotine“ vorführte. Aber man wusste doch, es hat keinen Zweck.

Im Krieg 1870/71 kämpften die Völker diesseits des Rheins gegen die jenseits desselben. Wenn wir das Verhältnis der Gefallenen zur Bevölkerungsgröße einer Ethnie in Relation setzen, stellen wir fest, dass überproportional mehr Bayern starben als zum Beispiel Württemberger oder Rheinländ-
er oder gar Preußen. Dies liegt entweder daran, dass Bayern besonders tapfer sind oder besonders deppert, was manche Ethnologen dem übermäßigen Bierkonsum zuschreiben. Vielleicht sind sie aber auch besonders tapfer UND besonders deppert.

Nachdem Bayern 1871 im Deutschen Reich auf- und unterging, strömten immer mehr Preußen (Mir sagn „Breissn“!), also alle Nichtbayern ins Land. Jetzt wurde die Wiesn auch zur Attraktion für Touristen, die die exotische Welt des Alpenvorlands als „fabelhaft, phänomenal oder drollig“ empfanden. Wir Bayern waren nicht blöd: „Die Breissn brachtens Puiva6 und mir ham eana zoagt, was sehn ham wollen.“

Wo da Teifi oamoi higschissn hat, da scheisst a wieda hi

Wenn aus einem 200-Liter-Hirschen locker 250 bis 280 Maß herauszuzaubern waren, dann wurde ein grantiger Münchner noch grantiger. Erregung und Befriedung charakterisieren die Dialektik des Saufens. Der berechtigte Zorn über das mittelmäßige Einschenken regte den Kreislauf derart an, dass der Erregte in der existenziellen Notlage eines massiven Durstes zuweilen zunächst einen tiefen Schluck dem Kruge entnahm, sodass der danach aufgesuchte Schankkellner mit Recht sagen konnte: „Da hast du quergstreifts Arschloch ja scho was wegzuzelt, geh weida, schleich di!“

Der enttäuschte Münchner gründete 1899 einen „Verband zur Bekämpfung betrügerischen Ein-
schenkens“, schaffte Satzung, Vorstand, Kassier, Sitzungen und alles, was dazugehört. „Je mehra mir san, umso besser!“ Am End waren auch Wiesnwirte Mitglied im Verein und vor allem konser-
vative Politiker, die sich eine Popularität versprachen, indem sie sich demonstrativ an die Spitze der Bewegung setzten. Der enttäuschte Münchner wurde nachdenklich: „Da wo da Teifi oamoi higschissn hat, da scheisst a wieda hi, glab mas!“

Um die Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert wuchs die Stadt enorm. Menschen strömten vom Land hierher auf der Suche nach Arbeit. Auf der Wiesn tummelten sich Arbeiterinnen und Arbei-
ter, die sich ein billiges Vergnügen gönnten und ihrer Sensationslust nachgaben. Bsuffane Wag-
scheitl7 gabs, wo man hinsah. So kann man auch vergessen! „Löwenbräu“ zum Beispiel produzierte im Jahr 1900 auf einer Betriebsfläche von 90.000 Quadratmetern etwa 640.000 Hektoliter Bier, 1910 bereits über 810.000. Das Zelt der „Bräurosl“ bot 1910 bereits 12.000 Besuchern Platz.

Im Ersten Weltkrieg, in dem ebenfalls überproportional viele Bayern starben, fiel die Wiesn aus. Karl Valentin unterhielt nach dem Ersten Weltkrieg zusammen mit Bert Brecht auf dem Oktober-
fest eine Schaubude.

Im Tausendjährigen Reich, das 1933 anhob, blieb wiesnmäßig alles beim alten. Die Wiesnwirte zo-
gen ein, im Festzug winkte die Prominenz wie eh und je, die Trachtler juchzten, plattelten, jodel-
ten, goaßlschnalzten, schwenkten Fahnen. Und die gusseiserne Bavaria, die aus dem Bierschaum Geborene, hielt wie immer das Kranzerl über die griabigen Saufbriada und die vertrottelten Noa-
gerlzuzler8 und die herzigen Madln, die in ihren Steckerlfischen herumstocherten und verstohlen nach den Stenzen9 lurten.

Wir wissen nicht, ob im Zweiten Weltkrieg überproportional viel Bayern ihr Leben ließen. Es ist aber sehr wahrscheinlich. Auch in diesem Krieg ist die Wiesn ausgefallen. Das war schon schad. Aber der Krieg ging vorbei und Genaueres über die Nazizeit wollte eh kaum jemand wissen. Es war ein Glück, dass 1945 die Amerikaner kamen. Die wussten, was ein Oktoberfest ist, und haben es 1948 wieder eingeführt.

Mir samma die mehran, mir samma die schweran10

Oberbürgermeister Thomas Wimmer (der Wimmer Damerl) hat dann in den 50ern das demon-
strative Anzapfen eingeführt. Ende der 60er Jahre kamen schließlich nicht nur die 68er, sondern die Wiesn wurde ein Massenfest. 1975 besuchten über 6 Millionen Menschen die Wiesn; die Maß Bier kostete 3,75 Mark.

Es dürfte in den 70er Jahren gewesen sein, als sich die Glasgefäße durchsetzten. Jetzt hätte der von der Seite einsehbare Maßkrug die Einschenkmoral endlich heben können. Der Eichstrich schwebte exakt 16,5 cm oberhalb des Krugbodens. Trotzdem, wenn sich der Foam gesetzt hatte, befand sich der Bierspiegel oft zwei Fingerbreit oder mehr unter dem Eichstrich, was zu nicht seltenen, aber vergeblichen Protesten führte, obwohl an jeder Schänke ein Schild angebracht war, dass schlecht gefüllte Krüge nachgeschenkt werden. Aber was soll man groß diskutieren, wenn man allgemein weiß, dass eine Maß als gut eingeschenkt gilt, wenn das Bier sich eine Daumenbreite unterhalb des Eichstrichs aufhält. Das tut es ja dann auch nicht lange.

Überhaupt: Einschenkmoral. Einer, der hier lebt in der nördlichsten Bastion des Vatikan, weiß, dass eine geforderte Moral ohne eine real existierende A- oder Unmoral keine Existenzgrundlage hat. Das ist ja das Schöne. Jeder weiß, was los ist, und jeder behauptet scheinheilig das Gegenteil.

Dann kam es zu einer der schlimmsten Katastrophen. Am 26. September 1980 um 22:19 Uhr ex-
plodierte in einem Papierkorb am Haupteingang des Oktoberfests eine Rohrbombe. Dreizehn Menschen wurden getötet, zweihundertelf verletzt, achtundsechzig von ihnen schwer. Der rechts-
extreme Hintergrund war jedem klar, der ein bisschen Verstand hatte. Die Bayrische Staatsregie-
rung aber verhinderte, vertuschte, verschleierte. Bis heute ist das Verbrechen nicht endgültig aufgeklärt.

Überhaupt Verschleiern! Mit der Zeit wurde die Wiesn nur noch ein Abbild vom Original. Man tat so als ob. Fette Braurösser zogen Wägen mit aufgereihten Holz-Banzen, auf dem Bock saß ein ge-
mütlicher Bierführer. Das alles aber war ein Schmarrn, nur noch eine Attrappe. In Wirklichkeit kam das Bier in die Festzelte über Leitungen aus großen Containern.

Mei, es is, wias is

Um die Wende zum 21. Jahrhundert setzte sich auf der Wiesn eine neue Kleiderordnung durch. Wer dazugehören wollte, hatte sich in Tracht zu gewanden. Früher erkannte man den Zuagroa-
sten11 an der besonders üppig bestickten, funkelnagelneuen Lederhose. Münchnerinnen und Münchner blieben dem Trend gegenüber zunächst skeptisch, aber da die Hiesigen sowieso zu einer Minderheit wurden und die preußische Mehrheit wie selbstverständlich das Oktoberfest verdirn-
delte, sagte man, „Mei, es is, wias is“12, und kaufte sich auch so eine Phantasie-Uniform. Früher hat man sich lustig zum Fasching verkleidet, jetzt macht mans weniger lustig für die Wiesn.

Sehen und gesehen werden, das Motto zählte. Vieles sollte man aber nicht sehen. Für Verletzte gab es die praktischen Schiebetragen mit Sichtschutzplanen, im Volksmund „Banane“ oder „gelber Sarg“, die die Rettungssanitäter eilig in die Krankenstation beförderten.

Mit der Einführung des Euro-Krugs – ich glaube, es war 2004 – verschwanden auch die Einker-
bungen an den oberen Ansätzen der Henkel. Ursprünglich dienten diese der Befestigung von auf- und wieder herunterklappbaren Zinndeckeln. Einen erfreulichen Nebeneffekt hatten diese Kerben: An ihnen brach der Krug vom Henkel, wenn er mit Realem, zum Beispiel mit einem Schädel, kolli-
dierte. Den ursprünglichen Zweck der Vertiefungen hatte man aber schon bald vergessen und ver-
mutete jetzt, dass hier der menschenfreundliche Hersteller des Kruges eine Sollbruchstelle einge-
baut hat, damit der Genießer des sackrischen13 Gesöffs bei handgreiflichen Auseinandersetzungen nicht so schwer verletzt oder gar getötet wurde, dass er als Konsument ausschied.

2010 hatte ein seltsam subversives Kommando „Bayernrauchfrei“ mit Hilfe eines Volksentscheides durchgesetzt, dass nur noch in Privaträumen oder unter freiem Himmel eine Zigarette glimmen durfte. Der positive Volksentscheid beruhte auch auf dem lange aufgestauten Impuls, der herr-
schenden Staatspartei eins auszuwischen. Zugleich traf man die mit der herrschenden Staatspartei verbandelte Großgastronomie an einer empfindlichen Stelle.

Zunächst wollte die Stadt aus Angst vor den rauchenden Säufern auf der Wiesn eine Ausnahmege-
nehmigung erlassen. Da wurden die Bierbarone jenseits des Münchner Burgfriedens, die erzwun-
genermaßen rauchfreie Volksfeste wie das Dachauer belieferten, zwengs dem OB Ude seiner Extra-
wurscht14 sauer. Einer verklagte den OB, sodass 2010 auf dem Oktoberfest das Rauchverbot zwar galt, aber mit Gewalt nicht durchgesetzt wurde, da dies als zum Scheitern verurteilt angesehen wurde.15

S is koa Sein mehr, s is koa Bleim mehr,gscheider is, wama si ganz stad verzupft16

Demselben seltsamen subversiven Kommando, dem es noch nie einleuchtete, dass zum Teil harm-
lose Drogen verboten waren, andere, weniger harmlose und als der bayrischen „Kultur“-Tradition verpflichtete aber erlaubt waren, plante nun einen Volksentscheid, der Alkoholausschank an Men-
schenansammlungen, die die Zahl 3 überstiegen, untersagte. Die schlichte und politisch affirmative Begründung war, dass die gesellschaftlichen Folgekosten des massenhaften Bierkonsums gerade von Jugendlichen die Volkswirtschaft so beeinträchtigen, dass Kapital und Wirtschaft ihre Konkur-
renzfähigkeit verlören. Zunächst kam es zu massierter Öffentlichkeitsarbeit.

In den folgenden Jahren prägte Ordnungsfetischismus das Geschehen. Drei Sicherheitskordons mit spezifischen Kontrollszenarios umspannten das Oktoberfest-Gelände. Menschen, deren Äußeres nicht den Erwartungen entsprach, die an den gewöhnlichen Wiesnbesucher gerichtet waren (Dirndl, kurze Wichs oder Buxn, Joppn, Wadlstrümpf oder Stutzn bzw. Lofer, Haferlschuah, Hüatei, gemäßigt einfältiger Gesichtsausdruck), wurden sistiert17 und am Betreten der Wiesn ge-
hindert.

Orte, die anreisenden Volksgruppen wie Italienern, Australiern … gesonderte Übernachtungsmög-
lichkeiten boten, waren für andere Menschen hermetisch abgeschlossen. Niemand sollte die Berge von Abfall, Scherben und Exkrementen sehen oder gar mit Medien dokumentieren. Das Image einer „sauberen Wiesn“ durfte nicht beschädigt werden; schließlich betrug der Gesamtumsatz der Wiesn etwa 450 Millionen Euro. Die Fremdenverkehrsdirektorin hatte schon Jahre vorher die Pa-
role ausgegeben, im Wettbewerb mit anderen Städten könne man „den schweren Säbel der Gemüt-
lichkeit nicht aus der Hand geben.“18

Das Jahr 2040 gab der Wiesn dann den Todesstoß. Wie jedes Jahr wollte Oberbürgermeister Christian Ude(93) anzapfen, holte mit gewohntem Schwung aus und schlug zu. Die Presse beob-
achtete das Ritual, 9 Milliarden Menschen verfolgten das Geschehen weltweit an den heimischen Screens. Nach dem zweiten Schlag, der den Wechsel in das Spundloch19 treiben sollte, zerbarst die schon morsche Hülle der Bierfass-Attrappe und zum Vorschein kam die Anzeige eines ordinären Manometers sowie eine ernüchternde Bierleitung, deren anderes Ende in irgendeinem Biercontai-
ner zu vermuten war. Die Anwesenden waren zunächst fassungslos, ein Aufseufzen erschütterte das Zelt, Fremdenverkehrsdirektorin Dr. Yvonne-Yaqueline Johannson fiel in Ohnmacht und allen war klar, dass dieser Imageschaden nicht wiedergutzumachen war.

Aus is und gar is und schad is, dass wahr is20

Wenige Jahre später war der Volksentscheid der Initiative „Bayern vorne und vor allem nüchtern“ erfolgreich. Mehr als drei Menschen, die offensichtlich eine Gruppe bildeten, erhielten nichts mehr ausgeschenkt. Die Wiesn verschwand aus München. Die Stadt benötigte jetzt jedes Areal für ihr Wachstum.

Heute ist Beijing der Ort des Oktoberfestes. In einer Höhe von 280 Metern über dem Boden reali-
siert China ein ganzjähriges Oktoberfest vor einer gewaltigen, naturidentisch kolorierten Alpenku-
lisse und einer Bavaria, die die New Yorker Freiheitsstatue um das sechseinhalbfache überragt, mit allen Attraktionen, die zur Hochzeit der Wiesn diese berühmt gemacht haben.

Damit sich die Bewohner_innen der Megalopolis MUC-BY eine Vorstellung von der glorreichen Vergangenheit Münchens machen können, wurde im Segment Bavariaring, IV. Level, auf mehre-
ren hundert Quadratmetern(!) eine feeds-virtuelle upstreamversion des events reanimiert:

Wir stehen inmitten von Buden, Fahrgeschäften, Horden von Menschen, die wie vor hundert Jah-
ren in ihrer eigentümlichen Verkleidung die Zelte füllen, im Lärm von Blasmusik und im Dunst von Zigaretten, Alkohol, Urin und Erbrochenem schreien, auf die Tische springen und sich auszie-
hen.

Der Zutritt ist nur Erwachsenen mit robuster Nervenstärke gestattet. Der Eintritt beträgt 2 World pro Person, Behinderte, Rentner_innen und Gruppen erhalten Ermäßigung: 1 World und 50 Penns.

Sollten Besucher_innen vom Gebotenen irritiert sein oder sich gar abgestoßen fühlen, bitten wir Sie zu bedenken, dass unsere Vorfahren in archaisch anmutenden Traditionen aufwuchsen, in einer grausamen und politisch zweifelhaften Wirklichkeit Fluchtmöglichkeiten suchten und nicht zuletzt der Herdentrieb der menschlichen Gattung den gemeinsam verantworteten Tabubruch als Ventil für den aufgestauten Überdruck verinnerlichter Zwänge ermöglichte.

3010. 27.9. – 17.49 – GüGer by Portal Gaudiblatt-Konzern to MUC Level I – VIII – free by Dr. Jason von Bismarck, Regierender Administrator MUC-BY – QR to #gaudiblatt.

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1 Unübersetzbar, meint soviel wie „dennoch“ oder „trotzdem“, heißt aber auch „freilich“ und „alldieweil“ sowie „Es war einmal“.

2 = noch nie nicht. Eine doppelte Verneinung kann dem mathematisch interessierten Mitteleuropäer wie eine Bejahung vorkommen; wir dagegen potenzieren das Negative mit Verdoppelung oder auch Verdrei-, vier, oder Verfünffachung, ohne dabei je an die Mathematik zu denken. Beispiel: „Na, bei uns hats überhaupts niamois nia ned koane Oar ned gem." = Wir hatten in unserem Geschäft noch nie Eier im Angebot.

3 = schwemmen wir es hinunter! Eine eigentümlich fatalistische Einstellung gegenüber einer als unveränderlich angese-
henen schlechten Wirklichkeit.

4 Fälschlich wird die Wiesn mit einem Apostroph zwischen „s“ und „n“ verunziert. Da dieser Apostroph herkömmlich ein „e“ ersetzt, die Wiesn aber eine einzige ist und nicht mehrere, ist der Apostroph hier ein Schmarrn.

5 An dieser Stelle sei vergnügt darauf hingewiesen, dass neben den alten GriechInnen, MittelägypterInnen, AlbanerInnen, BewohnerInnen der Färör-Inseln, FinnInnen, TürkInnen, RumänInnen und LettInnen nur noch die Bewohner Altbaierns den Optativ als eigene Konjugation des Verbums verwenden. Der Optativ verspricht Zukunft und verleiht zugleich der Hoffnung Ausdruck.

6 = Pulver, umgangssprachlich für „Geld“.

7 Das „schwankende“ Wagscheit ist als Teil der Anspannvorrichtung das größere der drei Zughölzer, an denen die Stränge der Braurösser, aber auch aller anderen Zugtiere befestigt sind, so Ludwig Zehetner. Ein bsuffanes Wagscheitl spricht ex-
zessiv dem Biergenusse zu und kann sich daher kaum mehr im Waagrechten halten, allerdings auch kaum im Senkrechten.

8 Ein Noagarl liegt dann vor, wenn Reste des zur Neige gegangenen Bieres unnütz als Lackerl (= Pfütze) am Boden der Maß ein trauriges Dasein führen.

9 Gutaussehende, ihrer körperlichen Vorzüge durchaus bewusste, hiesige Mannsbilder.

10 = Uns geht es den Umständen entsprechend saugut.

11 Ein hereingeschmeckter Fremder, ein Gast, dem man vieles nachsieht, solange er a Puiva (Geld) mitbringt.

12 Hier drückt sich wiederum eine beinahe fatalistische Grundeinstellung im Gemütshaushalt der Altbaiern aus, die unter anderem dazu führt, dass es heute nur drei Länder auf der Welt gibt, in denen eine staatstragende Partei länger als ein-
einhalb Jahrhunderte die politische Verantwortung für Sicherheit, Demokratie und Fortschritt trägt: Volksrepublik China, Nordkorea und Bayern.

13 Sackrisch, eigentlich sakramentisch, = verdammt, verflucht.

14 = infolge der Tatsache, dass der Münchner Oberbürgermeister eine Sonderregelung anstrebte. Der auf das Pronomen „wegen“ folgende verschliffene Dativ erspart uns umständlich formulierte und gestelzt wirkende Nebensätze.

15 Ein Verbot ist nur dann eines, wenn es durchgesetzt werden kann. Insofern schaun Altbaiern erst einmal, ob ein Schandarm (Exekutive) in der Nähe ist. Wenn nicht, gibts kein Verbot. Dem versucht die Kirche mit einer jenseitigen Autorität Paroli zu bieten, regelmäßig mit Erfolg und trotzdem vergeblich.

16 = vom langsamen und naturgemäßen Verschwinden

17 Vorstufe des Arretiertwerdens. Festgehaltenwerden, Aufnahme der Personalien und Platzverweis.

18 Gerd Holzheimer ist unbedingt zuzustimmen, der folgendes ausführt: „… Welche Sprache soll uns also diese Wirklichkeit, die ist oder nicht, entbergen, um mit Heidegger zu sprechen, wenn nicht eine, in deren Brüchen Lichtungen entstehen, in denen uns wenigstens für Augenblicke das Seiende zum Sein wird? Ohne dass die Bayerischen es so richtig merken, geben sie sich die größte Mühe, dass so, wie sie reden, von den Schwierigkeiten dieser Wahrnehmung etwas zu spüren ist. Eine außerordentliche Weite im Sprachgebrauch, bei jedoch gleichzeitig massiven Unvereinbarkeiten. Nicht einmal das alles versöhnende »und«, das sonst qua grammatikalischer Konvention grundsätzlich nur Gleiches verbindet, tut ein Gleiches im Bayerischen, etwa wenn es beim »Kindlein« des Ludwig Thoma heißt: »Und der Merkel hat ihm gezeigt, dass er voll Kreide hinten ist, und dass ich es war«; das gehört inhaltlich nur vermeintlich zusammen, grammatikalisch jedoch stellt es die Satzteile mehr gegeneinander, als dass es sie verbindet; verständlich vor dem Hintergrund der Sprache eines Volkes, dessen Zusammensetzung sich bei jedem einzelnen Sprecher anders und auch da wiederum nur ungleich ballt …“ Gerd Holzhei-
mer, Denk dir nix. Ein Bayern-Lexikon, Leipzig 1999, 87.

19 Der hineingeschlagene Hahn, Wechsel genannt, trieb ursprünglich den Zapfen, genannt Spund (lateinisch: (ex)punc-
tum), aus dem Loch mitten in das Gebräu hinein.

20 Heinrich Hoffmann von Fallersleben hat dagegen sein Poem „Vom Schlaraffenland“ folgendermaßen beendet: „Aus is, gar is, schad’, dass net wahr is!“


Oktoberfest-Gaudiblatt, München September 2010, 3 f.

Überraschung

Jahr: 2010
Bereich: Lebensart

Referenzen