Materialien 2010
Immer in Bewegung bleiben!
Zehn Jahre Mobilisierung gegen die NATO-Sicherheitskonferenz in München (2001 – 2010) Nach langen Überlegungen und Diskussionen haben wir uns entschieden, uns aus dem Aktionsbündnis gegen die NATO-Sicherheitskonferenz zurückzuziehen.
Der Grund für diese Entscheidung liegt darin, dass wir seit längerer Zeit zunehmend mit unserer Rolle im Bündnis und dessen Zustand unzufrieden sind. Wir haben den Eindruck, uns bewegen zu müssen, damit sich für uns und andere wieder etwas entwickeln kann, wieder Raum für Veränderungen aufgemacht wird; denn Stillstand und Stagnation ist das Ende jeder politischen Bewegung. Das heißt natürlich nicht, dass es nicht auch in Zukunft weiter viele Gründe dafür gibt, gegen die NATO Kriegspolitik und die Münchner Sicherheitskonferenz (Siko) auf die Straße zu gehen.
Umso mehr, als sich unsere politische Einschätzung von 2001, die zu den Mobilisierungen gegen die Siko geführt hatte, leider mehr als bestätigt hat.
Trotz der objektiven Notwendigkeit, Widerstand gegen die Siko zu leisten, spielen für uns aber der subjektive Faktor und der politische Prozess innerhalb der Protestbewegung sowie das emanzipative Potenzial in den Interventionen eine entscheidende Rolle.
Zwischenruf:
Während wir dieses Papier gerade kollektiv geschrieben und diskutiert haben, um unseren Austritt aus dem Bündnis zu kommunizieren, haben wir erneut genau das Gegenteil gemacht. Oder anders gesagt: Wir haben in das Schweigen und Nichthandeln interveniert, als „Vermittlerin“ eine Auseinandersetzung eingefordert und einen Vorschlag für eine gemeinsame Initiative gegen staatliche Repression gemacht. Wir haben es einfach nicht ausgehalten, dabei zu zu schauen, wie ein Genosse und Gründungsmitglied des Bündnisses vor Gericht gezerrt werden sollte, ohne dass seine eigenen Strukturen das Bündnis informiert, um diesem staatlichen Angriff mit einer gemeinsamen Solidaritätskampagne offensiv entgegen zu treten. Nachdem wir bereits vor Monaten mitgeteilt hatten, dass wir einen solchen Repressionsangriff auch als Angriff auf uns begreifen, mussten wir wochenlang – zunehmend fassungslos – verfolgen, dass auf alle unsere Nachfragen nichts passiert, weil der „Ball flach gehalten werden sollte“. Was für ein politischer Blödsinn! Wir sind zwar froh über die aktuelle Solidarität quer durch das gesamte Bündnisspektrum, doch hätten wir uns eigentlich gefreut, wenn es anders dazu gekommen wäre.
Im Folgenden wollen wir die Gründe für unsere Entscheidung nachvollziehbar machen, und freuen uns, mit allen, die dazu Lust haben, darüber in den nächsten Wochen zu diskutieren.
„Von Genua nach München – Stoppt die Kriegspolitik der NATO!“
Diese Parole vom Sommer 2001 drückte die politische Idee der Mobilisierung gegen die NATO-Sicherheitskonferenz aus: Die Bewegungen gegen Krieg und kapitalistische Globalisierung zusammen zu bringen – auch im Alltag.
Unter diesem Motto mobilisierte das Bündnis gegen die NATO-Sicherheitskonferenz und schrieb in seinem Aufruf im Herbst 2001: „Die weltweite kapitalistische Ausbeutung und ihre militärische Absicherung sind zwei Seiten ein- und derselben Medaille, – eines Systems, das sich ausschließlich am Profit orientiert und das sowohl in Friedens- als auch in Kriegszeiten über Leichen geht … Die Münchner Sicherheitskonferenz ist kein lokales Ereignis. Sie ist das Davos der NATO und ihrer Militärstrategen.“
Uns ging es damals um eine praktische Kritik an blinden Flecken in der Anti-Globalisierungsbewegung, die zu diesem Zeitpunkt zwar viel über Tobin-Steuern und globale Ungerechtigkeit gesprochen hatte, aber den inneren Zusammenhang einer sich eskalierenden Militarisierung der Innen- und Außenpolitik der westlichen Staaten ausgeblendet hatte. Wir sahen uns mit einer Entwicklung konfrontiert, die zur militärischen Absicherung der globalen kapitalistischen Interessen einen permanenten Ausnahmezustand herstellt. Einer Entwicklung, die global zu einem zeitlich und räumlich entgrenzten Kriegszustand führt. Heute, zehn Jahre später, ist diese Einschätzung für alle sichtbare Realität geworden.
Nicht umsonst nahmen wir damals Bezug auf Genua. Die Bewegungen von Seattle und Genua hatten neue Räume aufgemacht, die Wege aus dem neoliberalen Elend der 90er Jahre wiesen. Für uns war klar, dass es nach der globalen Niederlage der Linken, die 1989 endgültig manifest geworden ist, eine Chance für neue Ansätze nur geben konnte, wenn sich möglichst viele Menschen inhaltlich und praktisch auf neue Organisierungsversuche im globalen Maße einlassen.
Das Bündnis war zu dieser Zeit ein Ort, in dem offensiv gefordert wurde, die NATO-Konferenz nicht störungsfrei über die Bühne gehen zu lassen, ein Ort, an dem nicht taktisches Verhalten, sondern die Bereitschaft einer gemeinsamen Diskussion und politischen Entwicklung vorherrschte, mit der Perspektive zusammen eine politische Strategie – praktisch wie inhaltlich – zu entwickeln. Und um diese politische Klarheit und Entschlossenheit wurde leidenschaftlich gestritten und gemeinsam gerungen. Genau das machte in den folgenden Jahren auch die bundesweit beachtete Qualität des Münchner Bündnisses aus.
Das war der Gegenseite nicht entgangen. Die Stadt reagierte mit Ausnahmezustand und Demonstrationsverbot, im Bündnis wurde damit offensiv und radikal umgegangen. Der gemeinsame Entschluss, sich dem Verbot nicht zu beugen, wurde 2002 belohnt durch eine Demonstration, an der über 10.000 Menschen die Polizeiketten durchbrachen und die politischen Inhalte trotz Verbote auf die Straße und so (mindestens) bundesweit transportierten.
Damit war der Versuch der staatlichen Organe, den Protest im Keim zu ersticken und den Brückenschlag zwischen radikaler Kritik an der kapitalistischen Globalisierung als Bestandteil einer neuen Antikriegs-Bewegung zu verhindern, kläglich gescheitert.
Lokal, bundesweit und international entwickelte sich eine erfreulich lebendige Dynamik: Das Bündnis gegen die Nato-Sicherheitskonferenz wuchs stark an und bereits im Sommer 2002 wurde auf internationalen Treffen beschlossen, im Januar und Februar 2003 mit gemeinsamen Aufrufen in vielen Sprachen gegen das World Economic Forum (WEF) in Davos und die Siko in München zu mobilisieren. Der damalige Siko-Leiter Horst Teltschik formulierte ganz richtig: „Was das Weltwirtschaftsforum in Davos für die Spitzenvertreter der internationalen Wirtschaft ist, ist die Sicherheitskonferenz in München für die Repräsentanten der strategischen Gemeinschaft.“
In München bildete sich eine Aktionseinheit aus dem linken Bündnis gegen die Nato-Sicherheitskonferenz, attac und dem Münchner Friedensbündnis, das gemeinsam für 2003 ankündigte: „Wir lassen uns das Recht auf Meinungs- und Versammlungsfreiheit nicht nehmen oder durch Verbote einschränken. Wir werden auch 2003 unseren Protest auf die Straße tragen.“ Die Qualität des damaligen Bündnisses zeigt auch eine Präambel, die von allen beteiligten Organisationen in ihren Aufrufen übernommen wurde: „Wir sind Teil der weltweiten Widerstandsbewegung, die sich seit Seattle über Genua, Porto Alegre und Barcelona entwickelt hat und wir lassen uns nicht auseinander dividieren.“
Angesichts einer spürbar großen Mobilisierung gegen den bevorstehenden Angriff auf den Irak in der Gesellschaft und speziell in den Gewerkschaften sahen sich SPD und einige DGB-Chefs gezwungen, auf die inhaltliche Klarheit der linken Mobilisierung zu reagieren. OB Ude erklärte am 10. Januar 2003 im Münchner Merkur: „Ich will nicht gegen die Konferenz demonstrieren. Mir wäre eine Gelegenheit für eine friedliche Demo gegen den Krieg im Irak lieber.“ Denn das Bündnis gegen die Sicherheitskonferenz habe sich, so Ude, nicht eindeutig von Gewalt bei den Demonstrationen abgegrenzt. Der Protest gegen die Konferenz richte sich außerdem, so der OB weiter, auch gegen die Bundesregierung.
Obwohl die Medien damals nur noch von der guten und der bösen Demonstration sprachen, stimmten die teilnehmenden Menschen mit den Füßen ab. Auf der Kundgebung von SPD und DGB waren rund 7.000 Leute, bei uns waren es 25.000. Attac und Friedensbündnis ließen sich nicht auf die Seite von SPD und DGB ziehen und viele Teilnehmerinnen der SPD-DGB-Kundgebung kamen danach auf unsere Demo. Das war ein politischer Erfolg für unser Bündnis und eine offensichtliche Niederlage für Ude und die Gegenseite.
Die beiden Jahre des Erfolgs führten im dritten Jahr zu der Entscheidung im Bündnis, im Jahr 2004 den Schritt vom Protest zum Widerstand zu wagen. Es sollte dieses Mal nicht mehr nur demonstriert, sondern auch aktiv blockiert werden. Aber dieses Vorhaben sollte nicht aufgehen. Das Bündnis konnte sich nicht darauf einigen, das Wort „Blockade“ offensiv auszusprechen, aus Angst vor Repression wurden die geplanten Aktionen umschrieben. Damit begann der lange Prozess der Zersplitterung des Bündnisses. Die linksradikalen Gruppen konnten sich nicht zwischen zentralen und dezentralen Blockaden einigen, Attac, Friedensbündnis und DKP organisierten eine „Umzingelung“. Alle drei Konzepte waren zum Scheitern verurteilt, einerseits, weil es unmöglich war, an einem Werktag so viele Menschen zu mobilisieren, andererseits weil wir unsere Kräfte nicht mehr gemeinsam eingesetzt haben. Im Nachhinein erwies es sich als fatal, dass das Bündnis und alle beteiligten Gruppen dieses Scheitern nicht ausreichend diskutiert und analysiert haben. Diese mangelnde Auseinandersetzung und damit die Nichtbeachtung der Frage, was für Konsequenzen ein solches Scheitern auf die Mobilisierungsfähigkeit – besonders bundesweit und international – hat und haben wird, führte in der Tat zu einem spürbaren Rückgang der Beteiligung an Demos und Aktionen selbst.
In den ersten Jahren war es noch selbstverständlich, dass wir Mobilisierungsveranstaltungen im ganzen Bundesgebiet und darüber hinaus angeboten und durchgeführt haben. Die Gegenaktivitäten zur Siko wurden als wichtiger bundesweiter Event begriffen, Schlafplatzbörsen und Rahmenprogramme wurden organisiert. Allen war klar, dass nur eine breite Mobilisierung uns die Kraft geben würde, tatsächlich einen spürbaren Widerstand gegen das jährliche Treffen der Kriegsstrategen auf die Straßen zu tragen. In den Folgejahren bröckelte diese Bereitschaft aber immer mehr ab, bis dahin, dass die Siko-Demo heute mehr oder weniger nur noch eine regionale Bedeutung hat und nur noch wenige Menschen von außerhalb auf die Demo kommen.
Für viele von uns war auch die Initiative der Antikriegskongresse von 2003 bis 2005 sehr wichtig: Sie stellten den Versuch dar, in München im Rahmen der Mobilisierung gegen die Siko ein Forum für eine kontinuierliche Debatte mit bundesweiter Bedeutung über die zunehmende Militarisierung der Innen- und Außenpolitik zu schaffen. Der Charakter der Kongresse war deshalb von uns bewusst als ein aktivistischer bestimmt worden – von und für Aktivistinnen. Mit dem erklärten Ziel, langfristig einen stärkeren inhaltlichen wie praktischen Zusammenhang zwischen verschiedenen „Politikfeldern“ und notwendigen Interventionen konkret werden zu lassen und so eine gemeinsame strategische Bestimmung von antimilitaristischen und antipatriarchalen, antikapitalistischen und antirassistischen Aktionen möglich zu machen – nach drei Kongressen (2003, 2004, 2005) haben wir das Projekt beendet, weil wir den Eindruck hatten, dass sich das Verhältnis von zu vielen Menschen zu den Kongressen dahingehend geändert hatte, zu konsumieren, statt aktive TeilnehmerIn zu sein: Statt die Chance eines solchen Forums zu begreifen, gewann bei vielen GenossInnen ein taktisches und instrumentelles Verhältnis die Oberhand. leider!
Dabei vergessen wir nicht, dass damals noch viele Menschen, Gruppen und Organisationen Aktivitäten zur Siko beigesteuert haben. So gab es z.B. 2005 das Radioballett, die Jubeldemo von der Börse zum Tagungsort der ersten Finanzierungskonferenz oder kleinere Störaktionen, die tatsächlich den Transfer der Tagungsteilnehmerinnen zumindest punktuell behindert haben und vieles mehr.
Trotzdem beschlich uns in dieser Zeit schon das Gefühl, dass dem Bündnis und auch dem internationalistischen Block die politische Bestimmung, die Interventionsfähigkeit und damit auch die Ausstrahlungskraft und Dynamik verloren zu gehen droht. Aus der Diskussion zwischen den bundesweiten Initiativen KiF (Krieg ist Frieden) und Libertad! kam in dieser Situation der Vorschlag, die Auseinandersetzung um Folter und die unmenschlichen Haftbedingungen der Gefangenen in Guantanamo zum Inhalt der nächsten Mobilsierung zu machen und im Februar 2006 wieder politisch offensiv zu handeln. Einerseits, weil es offensichtlich war, dass die Linke, auch die radikale, es bis dahin versäumt hatte, den Prozess der schleichenden Normalisierung von Foltereinsätzen zu erkennen und andererseits, um dem internationalistischen Block wieder eine aktuelle politische Bestimmung zu geben.
Es sollte vor dem Block eine Gruppe orange gekleideter und unkenntlich gemachter „Guantanamo-Häftlinge“ laufen. Das war für uns nicht allein eine Intervention gegen den unerträglichen Zustand der Folter und Lager, sondern zugleich auch ein praktisches Zeichen gegen die zunehmenden Repressionsmaßnahmen wegen (angeblicher) Vermummung setzen. Im Vorfeld hatten wir diese Idee mit dem internationalistischen Block besprochen und ihn aufgerufen, sich dazu politisch offensiv zu verhalten und sich ab einem bestimmten Punkt selbst mit Folterkapuzen zu vermummen. Diese Idee wurde mit der Begründung abgelehnt, dass das eine Gefährdung des Blocks darstellen würde, weil die Polizei ihn dann wegen „Vermummung“ angreifen würde. Diese Argumentation haben wir sehr bedauert: Weil sie Ausdruck eines formalisierten und entfremdeten Politikverständnisses ist und weil wir diese Auseinandersetzung mit den Staatsorganen besser gefunden hätten, als die ritualisierten Rangeleien um die Seitentransparente.
Als zweiter Grund für die Ablehnung der gemeinsamen Aktion wurde von Vertretern des Blocks immer wieder das Unwohlsein angesprochen, sich in die Rolle von Al-Kaida-Mitgliedern zu begeben. Für uns zeigte sich darin das Unverständnis der AktivistInnnen für einen fundamentalen Solidaritätsbegriff und ein absolutes Folterverbot. Nicht die Frage, wer gefoltert wird, darf ausschlaggebend für die absolute Ablehnung von Folter sein. Jede andere Position trägt den Kern der Spaltung und damit auch die faktische Anerkennung des Ausnahmezustands bereits in sich. Seitdem gab es keine substantiellen Debatten und unsere Kritik am Formalismus des Blocks lief ins Leere.
Seit Mitte 2006 sind wir in dem bundesweiten Organisierungsprozess der „Interventionistischen Linken“ (IL) aktiv und waren damit in die Vorbereitung der Großdemonstration und den Blockaden in Rostock/Heiligendamm stark involviert. Auf bundesweiten IL-Treffen wurde beschlossen, dass die Siko in München den Auftakt für das Jahr 2007 und die Aktionen gegen den G8-Gipfel werden sollte. Diese Bezugnahme wurde vom Bündnis aufgenommen und im Nachhinein waren auch eine überraschend große Menge an AktivistInnen aus München und Umgebung in Rostock/Heiligendamm vor Ort. Das war ein Erfolg, das hat uns gefreut. Am Dilemma des Siko-Bündnisses selbst konnte das aber leider später nichts verändern.
Mit den subjektiven Erfahrungen der erfolgreichen Blockaden in Heiligendamm im Gepäck wurde für die Siko 2008 zwar noch von vielen Entsprechendes für München diskutiert. Es waren aber weder Strukturen bereit, die notwendigen Konzepte zu erarbeiten, die die Heiligendammer Aktionen in einem urbanen Umfeld gebraucht hätten, noch die entsprechende Mobilisierung zu organisieren, um überhaupt eine ausreichend große Anzahl an Aktivistinnen davon zu überzeugen.
So blieb es bei einem ideologischen Blabla, aus dem nichts Vernünftiges herauskommen konnte. Niemand hatte sich gefunden, die nötigen Arbeiten zu übernehmen und vor allem gab es niemand, der die politische Verantwortung übernehmen wollte für ein ernstgemeintes Blockadekonzept.
Erst im Herbst 2008 haben sich Menschen vor allem aus Köln und Düsseldorf dann die Arbeit gemacht, das Blockadekonzept für die Anwendung in einer Großstadt zu bearbeiten. Mittlerweile haben die erfolgreichen Aktionen in Köln 2008 und in Dresden 2010 gezeigt, dass es praktisch möglich und erfolgreich sein kann – als gemeinsame Intervention, nicht jedoch als voluntaristische Absichtserklärung ohne praktische Basis.
Wenn ideologische Phrasen wichtiger sind als das Ringen um praktisches Handeln kann das zu einem tragischen Realitätsverlust führen, wie am Abend des 9. Februar 2008, als ein Sprecher des Münchner Bündnisses die langweiligste und kürzeste aller Siko-Demos mit den Worten beendete, wir hätten jetzt erfolgreich den Empfang in der Residenz blockiert, obwohl der zu diesem Zeitpunkt noch gar nicht stattgefunden hatte.
Im Vorfeld der Siko 2009 übernahm Wolfgang Ischinger (Chefdiplomat der Bundesregierung) den Vorsitz der Sicherheitskonferenz. Damit war die Ära des kalten Kriegers und Atlantikers Horst Teltschik beendet. Aber mit der Entscheidung für einen professionellen Chefdiplomaten wurde das Interesse der deutschen Regierung, die Siko zur Bühne ihrer Außen- und Sicherheitspolitik zu machen, noch offensichtlicher.
Am 15. Dezember 2008 schrieb Ischinger in einem Essay in der Süddeutschen Zeitung seinen berühmten Satz: „Auch in der Politik sind viele Errungenschaften ohne vorangegangene Krise kaum denkbar: die Europäische Union von heute wäre ohne die große Krise Europas, die zwei Weltkriege hervorgerufen hatte, nie zustande gekommen“ .
Zwei Tage später forderte Martin Löwenberg Ischinger auf, seine Ämter niederzulegen und sich öffentlich zu entschuldigen: „Als Überlebender der deutschen Konzentrations- und Vernichtungslager des Nationalsozialismus empfinde ich eine solche historische Verdrehung der Tatsachen als unerträglich und halte sie für historisch inakzeptabel sowie für politisch gefährlich.“
Auf der ersten Pressekonferenz des Bündnisses wurde diese Initiative als Kritik an Ischinger zwar noch thematisiert, aber als Ischinger dann Vertreter von attac zu einer Diskussion einlud, waren Teile des Bündnisses nicht mehr in der Lage, dieser Verlockung zu widerstehen. Das Ringen um eine gemeinsame Position im Bündnis verlor an Gewicht gegenüber der Möglichkeit, seine eigenen politischen Ansichten öffentlich und angeblich medienwirksam kundzutun. Die Forderung von Martin Löwenberg verlor damit übrigens leider auch die Unterstützung: Man kann ja schlecht jemanden zum Rücktritt auffordern, mit dem man diskutieren will. Auch das wurde nicht mehr gemeinsam politisch reflektiert.
Für uns war die Siko 2009 wieder die Möglichkeit auf ein größeres internationales Event zu mobilisieren. Im Frühjahr 2009 fand der NATO-Gipfel in Strasbourg statt, wir hatten mit plakatierten Umzugskartons eine eigenständige Aktion im Umfeld des internationalistischen Blocks gemacht, die zwar viele gelungen fanden, die aber keine weiteren Diskussionen auslösen konnte und an der desolaten Situation des Bündnisses und des Blocks nichts geändert hat. Denn die einen hetzten immer offener gegen den bösen „Schwarzen Block“ und der begnügte sich auch bereits seit Jahren in der Kultivierung seiner angeblich radikalen Kleiderordnung, die zur reinen Attitüde zu verkommen droht. Aber zumindest fanden alle Kisten ein würdiges Ende bei den Blockaden in den Straßen Strasbourgs.
Auch nach dem Nato-Gipfel erfüllten wir erneut eine „Vermittlerrolle“ im Münchner Bündnis und versuchten mit einer gemeinsamen Diskussion und einem gemeinsam getragenen Positionspapier des Bündnisses, das die Vorkommnisse in Strasbourg unaufgeregt zu analysieren versucht hat, den sich weiter anbahnenden destruktiven Spaltungsversuchen von verschiedenen Kräften im Bündnis konstruktiv entgegen zu wirken. Doch unser Eindruck verstärkte sich, dass viele sich eigentlich nicht mehr riechen können und die taktischen Spielchen sich verstärkten.
Im Sommer 2009 kam es dann zum Eklat. attac organisierte eine Veranstaltung mit Ischinger ausgerechnet an dem Ort, an dem sich seit Jahren das Bündnis gegen die Sicherheitskonferenz trifft: Einige AntikriegsaktivistInnen aus dem Internationalistischen Block organisierten eine Blockade vor dem Eine-Welt-Haus-Tor, es kommt zu unschönen Szenen untereinander, in deren Verlauf sogar der Ruf nach der Polizei laut wird. Ischinger kommt zwar nicht mehr dazu zu reden, die Veranstaltung wird abgebrochen, aber der Spaltkeil ist gesetzt und alle reden nur noch über den Sinn und Unsinn, mit Ischinger zu reden.
Und anstatt mit kühlem Kopf – trotz der Emotionen – den Mechanismus zu analysieren, den Ischinger mit seiner taktisch-selektiven Initiative bewusst in Gang gesetzt hat, wurden lieber der Ärger und die Vorurteile kultiviert, die viele schon lange mit sich herumgetragen hatten.
Und, wie es nun mal so ist bei Kernspaltungen, schossen die verschiedenen Kerne des großen Ganzen mit voller Energie in die unterschiedlichsten Richtungen und manche verirrten sich sogar bei der Staatsanwaltschaft, was bis heute zu keinen politischen Konsequenzen im Bündnis geführt hat und was die Lageeinschätzung, wer eigentlich im Zweifelsfalle, wenn’s hart auf hart kommt, mit wem auf welcher Seite der Barrikade steht, sitzt oder kämpft, nicht gerade einfacher gemacht hat.
Vertrauen, Respekt, gegenseitige Neugier und das Interesse gemeinsam zu handeln sind wichtige Voraussetzungen und Grundlagen für eine produktive Dynamik in politischen Prozessen. Misstrauen und Verrat sind dagegen ein schleichendes Gift, von dem Bündnisse gelähmt oder sogar zerstört werden.
Wenn man in einer solchen Situation nicht bereit ist, sich die Zeit und Energie zu nehmen, die inhaltlichen Differenzen wirklich auszutragen und zu Lösungen zu kommen, ist das grob fahrlässig und politisch fatal. Unsere Kritik richtet sich an fast alle Seiten im Bündnis. Anstatt sich gemeinsam die Wirkung „des schleichendes Giftes“ von Spaltkeilen und gegenseitigem Misstrauen bewusst zu machen, entwickelten immer mehr Mitglieder ein unproduktives taktisches Verhältnis zueinander.
Politisch und menschlich inakzeptabel ist die Sprachlosigkeit und Ignoranz, mit der weite Teile des Bündnisses einen weiteren Konflikt bisher aussitzen wollten: Die Tatsache, dass jemand aus einer Bündnismitgliedsorganisation belastende Aussagen vor der Staatsanwaltschaft und inzwischen auch vor Gericht gegen ein anderes Mitglied des Bündnisses gemacht hat.
Der Austritt von attac München gegen den Rat vieler bundesweiter attac-Mitglieder war darüber hinaus provinziell und sektiererisch. Etwas seltsam mutet auch an, dass etliche Mitglieder von attac zwar als attac-Mitglieder dem Bündnis offiziell den Rücken kehren, aber dann bei der Nachbereitung der Siko 2010 plötzlich wieder auftauchen und als Mitglieder des Münchner Friedensbündnisses mit diskutieren, um die Karten für die Zukunft neu zu mischen.
Auch das ist ein Ausdruck eines taktischen Verhältnisses zu unserem Bündnisprozess, den wir für kontraproduktiv halten. Statt die Konflikte inhaltlich und offen auszutragen, verkommt die strategische Bestimmung des Bündnisprozesses zum taktischen Spiel um scheinbare Macht und Einfluss – ein trügerisches Ansinnen: Der Vorschlag, man könne es ja 2011 mit einem „Sternmarsch“ probieren, nur deshalb, weil man nicht mehr gemeinsam demonstrieren will, ist absurd. Aber auch auf linksradikaler Seite sehen wir bisher nicht gerade viele, die Interesse haben, für etwas Gemeinsames zu streiten, dafür auch mal Energie aufzuwenden und sich nicht nur in der eigenen ideologischen Ecke der selbstgerechten Radikalität gut zu fühlen.
Die Entwicklung des Bündnisses von einem interessanten Prozess mit bundesweiter Relevanz zu einem Organisationsrahmen, in dem alle ihre eigene Agenda haben, in dem untereinander ein taktisches Verhältnis und zunehmend gegenseitige Missverständnisse und Misstrauen sich ausbreiten, kritisieren wir scharf. Dafür sind fast alle Seiten verantwortlich. Viele Gruppen haben sich aus dem Bündnisprozess in den letzten Jahren ohnehin bereits schweigend rausgezogen. Und das Bündnis war bisher nicht in der Lage, den Wechsel zu Ischinger politisch gemeinsam zu begreifen. Kaum jemand erkennt den Ernst der Lage bisher, worum es eigentlich geht neben verletzten Eitelkeiten und bornierten Befindlichkeiten: Es geht um nicht weniger als 10 Jahre erfolgreiche gemeinsame Antikriegspolitik.
Da könnte man sich eigentlich schon ein wenig mehr Zeit nehmen, um Fragen zu stellen – zum Beispiel: Warum fanden wir alle und mit uns viele Menschen bundesweit das Münchner Bündnis wichtig und interessant? Und mit welcher Perspektive?
Das Bündnis ist natürlich auch heute nicht per se falsch. Aber es fehlt die ehrliche Bereitschaft zu einem gemeinsamen politischen Prozess. Wichtig wäre dafür auch die Entscheidung, dass alle Spektren um diese Frage ernsthaft ringen. Das sehen wir im Moment nicht. Wir haben diese Entscheidung getroffen, weil wir nicht glauben. dass unsere Rolle als Vermittler das Bündnis aktuell aus dar Krise führt. Stattdessen verdeckt sie häufig nur die Konflikte.
Selbstverständlich ist der Ausgangspunkt von 2001 für uns noch gültig, weshalb wir das Bündnis vor zehn Jahren mitbegründet haben. Und selbstverständlich werden wir weiter politisch arbeiten, ob im Kampf gegen kapitalistische Globalisierung oder Castortransporte im November 2010, ob in Dresden 2011 und anderswo gegen Nazis oder bei einer praktisch intervenierenden Anti-Kriegspolitik. Aber wir ziehen uns jetzt aus dem Bündnis zurück, nicht etwa, weil wir Bündnispolitik in Zukunft generell oder die Arbeit und das Ringen um emanzipative Perspektiven in politischen Bündnissen für weniger wichtig erachten würden. Ganz im Gegenteil. Wir sind auch in Zukunft auf der Suche nach solchen Prozessen.
Aber in einer Situation der Selbstblockierung und des taktischen Schweigens oder der Ermüdung, halten wir es gerade für uns und unserer Rolle, die wir im Bündnis bis zuletzt hatten. also die einer „Vermittlerin“, einer Instanz. die das Bündnis trotz größter Widersprüche immer wieder zusammenzuhalten versucht, für produktiver, den Raum frei zu geben, Platz zu machen für Neues. Denn unsere permanente Vermittlerrolle hält offensichtlich einen Status Quo aufrecht, den wir gar nicht mehr haben wollen und der zunehmend kontraproduktiv wird. Vielleicht können so auch jüngere und andere Menschen eine andere Rolle und Bedeutung im Bündnis einnehmen.
In der Hoffnung auf eine neue Dynamik gegen den politischen Stillstand:
Denn in Gefahr und höchster Not bringt der Mittelweg den Tod!
September 2010
Interventionistische Linke (IL), München
Erklärung, Archiv der Münchner Arbeiterbewegung.