Materialien 2010
Bayerns Gymnasiasten platzt der Kragen
10. Februar 2010
In Bayern ist der Pionierjahrgang des achtstufigen Gymnasiums in der Oberstufe angekommen. Die neue Q11 muss mit rund 35 Wochenstunden etwa fünf Unterrichtsstunden mehr die Schulbank drücken als die Schülerinnen und Schüler des alten G 9 in der Jahrgangsstufe 12. Manche Schüler haben drei bis viermal Nachmittagsunterricht. Rechnet man dann noch die notwendige „Heimarbeit“ dazu, dürfte die 60-Stundenwoche keine Seltenheit sein. Das ist weit entfernt von jener Humanisierung einer Arbeits- und Lebenswelt die man eigentlich in einem Land wie Deutschland mit Fug & Recht erwarten dürfte. Schülerinnen und Schüler sind zusätzlich belastet durch berechtigte Vermutungen zum Abitur 2011 und fehlende Studienplätze. Das reicht und so wird ein Schülerstreik organisiert. Über „Facebook“ und „SchülerVZ“ wird organisiert. Am 12. Februar wird gestreikt.
Die Hauptkritikpunkte
1. Belastung durch hohe Stundenzahl:
♦ Mindestwochenstundenzahl: in vier Halbjahren im G8 (132) rund 20 Prozent höher als im G9 (108),
♦ in der Praxis 34 bis 38 Wochenstunden in der Q11, d.h. Erhöhung um 30 Prozent,
♦ nicht altersgemäße wöchentliche Arbeitsbelastung von 50 bis 60 Stunden, Fahrt- und Wartezeiten durch „Freistunden“ nicht mitgerechnet,
♦ somit ein klarer Verstoß gegen das Jugendarbeitsschutzgesetz,
♦ Nachmittagsunterricht an drei bis vier Tagen (De-facto-Ganztagsbetrieb),
♦ Vorbereitung für den nächsten Tag bis in die Nachtstunden,
♦ hohe Belastung vor allem für Fahrschüler, die im Flächenstaat Bayern in der Mehrzahl sind, Rückkehr nach Hause oft erst nach 18 Uhr.
2. Zu hohes Leistungsniveau:
♦ versprochene Kürzung der Lehrplans um 1/9 de facto nicht erfolgt,
♦ mehr Stoff in kürzerer Zeit,
♦ zu hohe Anforderungen in den geplanten Abituraufgaben,
♦ wegen zu wenig Vorbereitungszeit und hoher Klausurendichte kaum zu bewältigender Leistungsdruck,
♦ teilweise unkalkulierbares Anforderungsniveau in Klausuren sowie unzureichende Vorbereitung auf Aufgabenstellungen der Oberstufe,
♦ Festlegung auf Abiturfächer (Deutsch, Mathematik, Fremdsprache), für die unter Umständen keine Neigung und Begabung vorhanden ist,
♦ zusätzliche zeitliche Belastung durch Seminare zur Berufsorientierung,
♦ damit insgesamt erschwerte Bedingungen gegenüber der jetzigen K12, dem Konkurrenzjahrgang im Kampf um die Studienplätze,
♦ kaum Freizeit und Zeit für soziales Engagement, Sport, Musik oder den Führerschein.
Die Forderungen der Streikenden:
Sofort:
♦ Überarbeitung der Lehrpläne und Reduzierung der Stofffülle,
♦ mehr Lehrer und kleinere Kurse,
♦ bessere Vorbereitung auf die Anforderungen der Oberstufe,
♦ gerechte Abituraufgaben (Grundkursniveau) und Chancengleichheit im Hinblick auf den doppelten Abiturjahrgang,
♦ bessere räumliche Voraussetzungen (Aufenthaltsräume),
♦ bessere Busanbindungen für die Schüler im ländlichen Raum.
Für die nachfolgenden Jahrgänge:
♦ Mehr Zeit für Bildung,
♦ Wahlfreiheit zwischen G8 und G9,
♦ weniger Stunden in der Oberstufe, z.B. durch Abschaffung der wenig effektiven und teuren Intensivierungsstunden und damit mehr Fachstunden in Unter- und Mittelstufe,
♦ dafür mehr Lehrer und kleinere Klassen,
♦ mehr Wahlfreiheit in der Oberstufe bzgl. der Abiturfächer,
♦ Umstellung des Systems auf echten Ganztagsschulbetrieb mit entsprechender räumlicher und personeller Ausstattung,
♦ damit mehr Zeit für musische, sportliche und soziale Angebote an den Schulen.
Gestreikt wird am 12. Februar 2010 in Augsburg, Bamberg, Bayreuth, Kempten, München und Würzburg. In München beginnt die Demonstration am 12. Februar 2010 um 10.45 Uhr am Odeonsplatz, die Route führt von dort zur Staatskanzlei und dann wieder zurück zum Odeonsplatz. Um 11.00 Uhr beginnt die Kundgebung, auf der unter anderen Otto Herz, Reform-Pädagoge und Diplom-Psychologe, Ulrike Köllner, Vorsitzende der Gymnasialeltern Bayern e.V. und Klaus Wenzel, BLLV-Präsident reden werden.
Natürlich wird, wie das so üblich ist, wenn man „erziehen“ will, gedroht. Der Ludwig Unger, Pressesprecher des bayerischen Kultusministeriums stellt fest: „Wer am ‚Bildungsstreik’ teilnimmt, fehlt unentschuldigt im Unterricht.“ Mit einem Paket leerer Versprechungen will man beruhigen und verspricht 38.000 zusätzliche Studienplätze und 3.000 Stellen an den Hochschulen samt Geld für zusätzliche Studienräume.
Die Landesschülersprecher der bayerischen Gymnasien erklären: „Wir, die Landesschülersprecher der Gymnasien in Bayern können die Forderungen des Q11 Streiks sehr gut nachvollziehen und wollen diese konstruktiven Vorschläge unterstützen. Die enorme Stundenzahl in der neuen Oberstufe und die damit verbundene Belastung sollte unbedingt in die öffentliche Diskussion gelangen. Eine weitere Überarbeitung der Lehrpläne sollte dringend in Erwägung gezogen werden! Gerade der extrem häufige Nachmittagsunterricht muss so möglichst stark reduziert werden, um den bayerischen SchülerInnen wieder mehr Spaß am Lernen und höhere Leistungsanreize zu verschaffen. Denn die harte Arbeit der SchülerInnen soll und muss sich in guten Noten und einem schönen Schultag wiederspiegeln.“
Nötig wäre auch in Bayern „Eine Schule für Alle“ von der ersten bis zur zehnten Klasse in Ganztagsform. Eine Schule, die alle Schulformen, auch Förderschulen und Gymnasien einbezieht. Ein zweigliedriges Schulsystem, wie es zur Zeit praktiziert wird, dient nur der Rettung des Gymnasiums. „Eine Schule für alle“ soll sich an den individuellen Lernbedürfnissen einzelner Schülerinnen und Schüler orientieren. Sie muss integrativ (Kinder mit und ohne Behinderungen lernen gemeinsam), barrierefrei und sozial sein. Diese Schule ist jahrgangsübergreifend, fördernd und kennt keine Ziffernnoten. Sie fördert das soziale Miteinander und den Spaß am Lernen.
Statt „Verwahranstalt“ muss die Schule Plattform für soziale Entwicklung sein, so dass nicht nur das gemeinsame, ganztägige Lernen, sondern auch eine gemeinsame Gestaltung der Freizeit dazugehört. Sportliche Betätigungen, Hobbies und frei verfügbare Zeit kommen zu kurz. Vielfältige Sport-, Musik- und Freizeitangebote fördern das soziale Miteinander, die Freude am Lernen und sind wichtig für eine gesunde Entwicklung.
Freitag – Schulstreiktag, ob das reicht wird sich noch herausstellen. Es gibt noch viele Freitage in einem langen Schülerinnen- und Schülerleben!
Dieter Braeg