Materialien 1969

An dem Tag der Akademieschließung ...

kam ich grad von Stadelheim und hatte zwei Mandanten besucht, die noch von der her saßen, und bin gleich in die Uni, wo die Versammlung wegen der Akademieschließung stattfand. Die Versammlung wurde aber gerade geschlossen mit den letzten Worten: «So, jetzt ziehen wir zur Akademie!» Und da sind alle – ich mit – zur Akademie gezogen, circa fünfhundert Leute, obwohl die Bereitschaftspolizei, die damaligen schon auf ein- bis zweihundert Meter herangerückt war. Ich habe mich gleich erkundigt, wo denn der AStA-Vorsitzende ist, denn der darf ja nun aus seiner eigenen Akademie nicht ausgesperrt werden. Das war sozusagen eine legale Sache. Ich habe dann den AStA-Vorsitzenden beiseite genommen und ihm vorgeschlagen, dass wir alle in die Räume des AStA gehen. Andere haben mit einem Stein oder was die Glastür eingeschlagen und sie aufgemacht, und bevor die Bereitschaftspolizei das ganze Gelände umzingelt hatte, waren immerhin einhundertdreiundzwanzig Leute drin, samt dem AStA-Vorsitzenden. Bevor die Bereitschaftspolizei das ganze Gebäude stürmte – wahrscheinlich hätte sie uns alle ziemlich verprügelt und eine ganze Reihe von uns einige Zeit lang im Gefängnis gehalten – fanden wir heraus, dass ein Telefon im AStA noch funktionierte. Darüber wurden die Namen aller Festgenommenen rausgegeben, damit sie gleich einen Anwalt haben, und die Presse informiert, Presseerklärungen abgegeben, kurz Öffentlichkeit hergestellt, die die Polizei immer für sehr hinderlich hält. Wir haben uns alle auf passiven Widerstand geeinigt, auf einen Sitzstreik, und wie sie die ersten verprügelt haben beim Raustragen, haben wir alle geschrieen «Aufhören!» und so, die Presse lauschte ja über den Telefonhörer mit.

Dann demonstrierte natürlich auch der Rest von den circa Fünfhundert, die nicht mehr vor der Bereitschaftspolizei in die Akademie gekommen waren, nachdem wir die Glastür eingeschlagen hatten – und auch durch unsere Telefonate kamen Leute dazu, die der Polizei bei unserem Abtransport in kleinen Gruppen ins Polizeipräsidium in die Ettstraße auf die Finger beziehungsweise die Knüppel schauten. Und im Endeffekt brauchte die Polizei erstmal fünf Stunden, um uns einzeln ins Polizeipräsidium abzuschleppen. Das Gefängnis im Polizeipräsidium war aber viel zu klein für uns Einhundertdreiundzwanzig – es waren ja auch noch andere, die NORMALEN Gefangenen, in der Ettstraße. Das ist schon eine wichtige Geschichte, sie enthüllt die Dimension, die die Bewegung angenommen hatte. Das versetzte die Behörden in Unruhe und war der Grund, warum sie dann die Anklage gegen mich wegen des Osterverfahrens erhoben haben. Weil diese Aktion so wirkungsvoll war, also große Öffentlichkeit geschaffen hatte um das ganze Theater mit den Polizei-Hundertschaften. Und wir hatten uns auf passiven Widerstand beschränkt.

Es war das erste Mal, dass im Polizeipräsidium massenhaft die Aussage verweigert wurde – es wurde immer nur nach einem Anwalt gefragt. Fingerabdrücke wurden verweigert, wenn sie gewaltsam genommen wurden, wurde sofort schriftlich Widerspruch eingelegt.

Diese ganzen, auch juristischen Tricks, alle legalen Widerstandsmittel, und zwar gewaltlose Widerstandsmittel, wie eben passiver Sitzstreik, wurden erfolgreich angewandt, so dass am nächsten Morgen alle Einhundertdreiundzwanzig wieder freigelassen werden mussten. Viele von uns machten einen Erfahrungsprozess im Gefängnis durch und spürten zum ersten Mal die Willkür der deutschen Behörden. Ein ganz ruhiger und braver Mensch, der ist jetzt Notar in Berlin, war auch dabei, er fragte mich: «Rolf, wie ist das denn möglich, wir sind um fünfzehn Uhr festgenommen worden, jetzt ist es zweiundzwanzig Uhr, wir sind zu dreißigst in einer viel zu kleinen Zelle eingesperrt, haben nichts zu essen und nichts zu trinken bekommen, ein Anwalt wurde auch nicht zugelassen!?« Da sagte ich: «Na, Du siehst doch, was hier im Gefängnis alles möglich ist!» Dann hat der so eine Abfalltonne in der völlig verdreckten Zelle genommen: «Rumms, Rumms!» weißt Du, so gegen die Tür geschlagen, und wie wir anderen auch «Essen!» oder «Anwalt!» gerufen – wir haben einen solchen Lärm gemacht da in der Ettstraße …

Warst Du mitgefangen oder als Anwalt dort?

Ich war mitgefangen. Aber wie ich schon sagte, ich war damals quasi in einer besonderen Situation. Ich hatte eine Mappe mit Akten von den Gefangenen, die ich in Stadelheim unmittelbar vor den Ereignissen in der Akademie besucht hatte, dabei, und als sie mich festgenommen hatten, das heißt meine Personalien aufgenommen haben, habe ich gesagt: «Das sind meine Verteidigerunterlagen, das fällt unter das Anwaltsgeheimnis, das geht Sie nichts an!» Und da haben sie mich mit der Aktenmappe ins Polizeipräsidium in die Zelle gesteckt. Sie haben nicht mal reingeschaut, so haben die damals noch – für heute unvorstellbar – den Anwaltsstand respektiert.

Ich bin dann nachts um zehn oder zwölf, also nach gut sieben Stunden Festnahme, zu der Einsatzleitung der ganzen Aktion gebracht worden, also zum Oberstaatsanwalt am Landgericht. Das war damals ein CSU-Mann, der jetzt Verfassungsschutzpräsident in Bayern ist und vorher stellvertretender Zuchthausdirektor in Straubing gewesen war. Häring heißt er, sein Bruder ist jetzt Polizeipräsident in München. Das ist eine Familie, da sind sie alle Polizisten … Der Oberstaatsanwalt erklärte mir dann, ich wäre in nach Artikel 18 oder 22 des PAG1. Das war meine erste Schutzhaft. Als ich fragte, «Ja, wieso denn?», da sagte der Oberstaatsanwalt «Da lesen Sie mal!» und gab mir ein Flugblatt, auf dem stand: «Auf zum Fischessen! Verderben wir den Bonzen den Appetit!» Das ist so ein speziell bayrischer Brauch, womit dem Ende der Faschingszeit und zu Beginn der Fastenzeit die Politiker vor sorgfältig ausgewähltem Publikum große Reden halten, die . Und nun wollten wir Studenten ihnen die nationalistische Suppe versalzen!

Das war uns schon einmal ungefähr ein Jahr vorher gelungen. In demselben Festsaal im <Schwabinger Bräu>, wo jetzt das stattfinden sollte, hatten die Rechten eine <Podiumsdiskussion mit Repräsentanten der CSU und mit Studenten> organisiert unter dem Motto: Mao-Marx-Marcuse; Deutschlands neue Linke? Prinz Konstantin von Bayern, Erster Vorsitzender der CSU München, war als einer der Vertreter der Rechten geladen und ich als einer der Linken. Die Rechten schwangen aufgeregt die hin und her. Als ich zu Wort kam, fragte ich sie erstmal, warum sie mich denn überhaupt eingeladen hätten. Ich hätte nämlich, so wie fast alle im Saal, weder Mao noch Marx noch Marcuse gelesen. Das betretene Schweigen im Saal versuchte ein Rechter vergebens schnell dazu auszunutzen, hastig in der gerade erschienenen zu blättern und etwas daraus zitierte, in der Hoffnung zu schockieren. Vergebens. Das Publikum war mehrheitlich auf unserer Seite und wollte Konkretes über unsere Vorstellungen von der <Demokratisierung von Universität und Gesellschaft> hören. Die Rechten schwiegen.

Plötzlich sage ich zum gewandt: «Nun haben wir lange genug über unsere gesellschaftlichen Vorstellungen gesprochen, jetzt wollen wir doch mal auch von Ihnen, Herr – oder wie wollen Sie genannt werden? – hören: Haben Sie überhaupt gesellschaftliche Vorstellungen, und wenn ja, welche?» Nach langem Zögern sagte der : «Ich bin für ein wiedervereinigtes Deutschland in einem geeinten Europa!» Fast der gesamte Festsaal brach in schallendes Gelächter aus. Solche und ähnliche Niederlagen in öffentlichen Versammlungen hatten die Rechten also in Erinnerung, als sie uns wegen der , auch zum zu kommen, gleich in polizeiliche nehmen wollten. Aber da war noch ein Haken. Das Flugblatt zum war unterschrieben worden mit . Und der Asta und die Einhundertdreiundzwanzig waren ja im Polizeipräsidium gefangen. Also fragte ich die Leute, die mir gerade im Polizeipräsidium die erklärt hatten: «Glauben Sie im Ernst, dass wir hier in der Haftanstalt Flugblätter entworfen und abgenudelt haben und die dann von hier aus in der Stadt verteilt haben?» Wütend und nervös fuhr mich der Einsatzleiter an: «Ach, wissen Sie – bei Ihnen ist ja alles möglich!» Und am nächsten Morgen sagte mir dann ein Polizeioffizier, als ich – gerade entlassen – schon wieder als Rechtsreferendar in Untervollmacht für Rechtsanwalt XY den letzten Gefangenen aus dieser unserer Besetzung freibekam: «Jetzt verstehe ich Ihre Strategie. Letzte Woche waren’s Dreiundvierzig, gestern waren’s Einhundertdreiundzwanzig, und wenn’s erst einmal Vierhundert sind, dann ist’s ganz aus!»

Andere Polizisten wollten sich gleich auf mich stürzen und mich verprügeln, als ich nach der strapaziösen Gefängnisnacht und in einer für sie völlig neuen Situation schon wieder mit einer Verteidigervollmacht dort auftauchte … Überhaupt sollte ich an dieser Stelle dazu sagen, dass ich 1967/68 praktisch der war. So wurde ich in der bürgerlichen Presse genannt. Wir lehnten als <Antiautoritäre> natürlich solche Titel ab. Aber wir erkannten schon an, dass es Leute mit bestimmter <Sachautorität> gibt. Und da hatte sich gezeigt, dass ich aus verschiedenen Gründen am besten ausdrücken konnte, was unsere Bewegung dachte und fühlte, und dass ich diese Stellung nicht dazu ausnutzen würde, mich plötzlich als <Führer> aufzuspielen, war den Genossen sowieso klar.

Die größte Veranstaltung, auf der ich gesprochen habe, war die mit dem Motto: «Gibt es einen neuen Anfang?» Eine Versammlung auf dem Königsplatz, veranstaltet von den Rechten, mit Polizeiminister, Oberbürgermeister – damals war’s der Vogel – und über zehntausend Teilnehmern, circa zwei Wochen nach den Oster-Morden 1968. Die Rechten wollten die Stimmung gegen uns nach der Medienpropaganda, wir seien verantwortlich für die zwei Morde, ausnutzen. Meine Rede dort hatte ich am Nachmittag heimlich in der für Rechtsreferendare in einem der fürchterlich stickigen Räume des Justizpalastes aufgekritzelt, was dem Text noch zusätzliche Wut und Aggressivität verlieh.

Die Rede war kurz und einfach, zehn Forderungen, jeweils umschrieben mit den wenigen Worten: «Es gibt solange keinen neuen Anfang, bis nicht …», Nachdem ich mit dem Vortragen des schriftlichen Textes fertig war, forderte ich einen öffentlichen Untersuchungsausschuss zur Aufklärung der Morde und den Stopp der Mobilisierung der gegen uns durch die SPD. Der Berliner Bürgermeister-Kollege von Vogel hatte nach der großen internationalen Anti-Vietnam-Konferenz in Berlin vom Februar 1968 eine zusammen mit den Rechten und mit allen, die im öffentlichen Dienst arbeiteten, veranstaltet: sie hatten frei bekommen, und ihr Erscheinen auf der Gegendemonstration war natürlich zur erklärt worden.

Das war eine sehr gute Rede, in der ich praktisch das ausgedrückt habe, was die Zehntausend gefühlt und gedacht haben, ganz der zornige junge Mann sozusagen, und ich habe gespürt, wenn man so vor zehntausend Leuten spricht, und die Massen mit Dir eins sind, welche Macht das uns verlieh. Und genau dieses Bild der Zehntausend und ihres Sprechers, die eins waren, hat dann das Staatsfernsehen so beeindruckt, dass es einen Auszug aus meiner Rede als erste Meldung in den Abendnachrichten brachte: «Scharfe Angriffe gegen die SPD richtete Rolf Pohle: Gerade Sie, Herr Vogel …»

Die Bullen und ihre Minister sowie Vogel waren außer sich. Was machten sie, um das Bild noch in der gleichen Nacht zu korrigieren? Sie warteten, bis die Masse der Demonstranten, ich natürlich auch, gegangen waren. Da waren dann noch ein paar hundert Rechte, Bullen und Demonstranten da. Und da inszenierte der Vogel mit einem naiven Linken, dem er in seinem autoritären Stil einfach über den Mund fuhr, ihn also nicht zu Wort kommen ließ, seine große Abrechnungsrede mit den Linken. Heute noch sind die Aufzeichnungen meiner Rede, wie so viele von meinen aufgezeichneten Reden und Diskussionsbeiträgen irgendwo versteckt, genauso wie der Film, der die zwei Morde zu Ostern 1968 aufgezeichnet hat. Und der Vogel kann einfach zum dreißigsten Jahrestag von 1968, also 1998, in der Süddeutschen Zeitung von seiner großen Rede am Königsplatz schwadronieren …

Vorausgegangen war die Studentenparlamentssitzung nach den Osterdemos, in der die Rechten uns unter Ausnutzung der ganzen Medienpropaganda angegriffen haben. Die waren wirklich empört, die haben wirklich geglaubt, wir hätten die zwei Demonstranten getötet. Ich war der Gegenredner, und das, glaube ich, war die beste Rede meines Lebens. Ich musste erstmal überhaupt die Gemüter besänftigen und die Erregung abklingen lassen, es waren Tausende von Leuten als Zuhörer da, das war wie ein Dikasterium2, sage ich Ihnen, wie ein Tribunal: «Haben Sie mit Steinen geworfen? Haben Sie Barrikaden gebaut?» Und wenn ja, wenn wir das gemacht haben, dann wären wir schuld an den beiden Toten.

So war die Stimmung bei der Mehrheit der Zuhörer, die nichts anderes von mir hören wollten, als die Antwort: «Ja oder Nein». Und in diesem Moment beginne ich mit einer Rede und sage: «Nun wollen wir erstmal sehen, was ist denn überhaupt vorgefallen, mit der ganzen Vorgeschichte und wie sich das entwickelt hat.» Irgendwie ist es mir dann gelungen, nach einer Stunde die Leute soweit zu bringen, mir zuzuhören. Da habe ich dann die ganze Vorgeschichte dargelegt, und die ganzen polizeilichen Ermittlungen und Anschuldigungen, die nichts als Lügen waren, und die ganzen Aussagen.

Und zum Schluss ist das Ganze dann umgekippt, zuerst waren die Leute nur wie in einem Tribunal und wollten nur wissen, was die Rechten auch immer gefragt haben: «Hast Du mit Steinen geworfen?» usw. Und da war ich natürlich glücklich, dass es mir gelungen war, die Leute zu überzeugen, und dass sie unseren Forderungen zustimmten, einen öffentlichen Untersuchungsausschuss über die Vorfälle einzusetzen, um aufzuklären, was passiert war, weil die Aufklärung durch den Staatsanwalt nicht reichte, und es wurde auch ein Stopp der Hetze in der Bild-Zeitung gefordert.

Auf einmal, als ich meine Rede beendet hatte, sagte mein Vorredner, der mir bestimmte Fragen gestellt hatte, die mittlerweile schon fast vergessen waren, und der zu den Rechten gehörte: «Sie haben ja noch gar nicht auf meine Fragen geantwortet!» Und da habe ich dann als Redner der Opposition und unter dem Beifall fast aller Anwesenden geantwortet: «Wir haben symbolisch Barrikaden gebaut, um die Auslieferung der Bild-Zeitung zu verhindern.»

Rolf Pohle


Rolf Pohle, Mein Name ist Mensch. Das Interview, Berlin 2002, 51 ff.

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1 = Polizeiaufgabengesetz

2 = altgriechischer Gerichtshof

Überraschung

Jahr: 1969
Bereich: Kunstakademie

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