Materialien 1992

Anti-WWG-Veranstaltung - 4. April

Am 4. April sollte im Haidhauser Bürgersaal eine Informations- und Diskussionsveranstaltung ge-
gen den WWG und die 500-Jahre-Kolonialismus-Feierlichkeiten stattfinden. Schon in der Woche vorher versuchte das Kreisverwaltungsreferat (KVR), eine „rechtliche Grundlage“ für offizielle Überwachung zu schaffen: Einschlägig bekannte Einzelpersonen wurden telefonisch kontaktiert – VeranstalterIn verzweifelt gesucht – und nicht gefunden! (Veranstaltungen in geschlossenen Räu-
men müssen nicht beim KVR und damit auch nicht bei der Polizei angemeldet werden.) Zweck der Telefonaktion war es, darauf hinzuweisen, dass das Lied „Die Rote Zora“ nicht gespielt werden dürfe, da „in Bayern die Uhren anders gehen“.

Schon auf der 8-März-Frauendemo wurde das Spielen des Liedes vom Einsatzleiter der Polizei ver-
boten, da es möglicherweise unter den Straftatbestand des § 129a (Unterstützung und Werbung für eine terroristische Vereinigung) fallen könne. Das Lied ist im Handel legal zu erwerben, und ein früheres Ermittlungsverfahren gegen einen Freiburger Radiosender musste eingestellt werden. Da dem KVR nicht bestätigt wird, dass das Lied nicht gespielt werden wird, dient dies später als Rechtfertigung für die Anwesenheit der Polizei, die nach § 12 des Versammlungsgesetzes zur Ver-
hinderung von Straftaten ihre Präsenz auch gegen den Willen der VeranstalterIn durchsetzen darf, obwohl die VeranstalterIn das Hausrecht hat.

Von Seiten der veranstaltenden Gruppen war geplant, die Veranstaltung ohne offizielle Präsenz von Polizei durchzuführen. Der Ablauf ist dann ungefähr so:

Schon ab 16 Uhr Bullenpräsenz vor dem Saal – offizieller Einlass: 19.30 Uhr! Im Folgenden wird ganz Haidhausen in ein polizeiliches Heerlager verwandelt.

Kurz vor Beginn versuchen einige „Staatsschützer“ in den Bürgersaal zu kommen, werden aber von den VeranstalterInnen und dem anwesenden Rechtsanwalt darauf hingewiesen, dass der offizielle Einlass erst um 19.30 Uhr beginnt.

An alle TeilnehmerInnen werden die Redebeiträge vorsichtshalber in fotokopierter Form verteilt. Außerdem gibt es am Eingang einen Reader mit Texten zum WWG zu kaufen. Gegen 19.30 Uhr stürmen knapp 30 USK-Bullen (Unterstützungskommando des Innenministeriums) gegen den Widerstand der ca. 300 Teilnehmerinnen in den Saal und werden mit Bierdusche, einem Transpa-
rent (Text: „Gegen Überwachung, gegen Kriminalisierung, Polizei raus!“), „Haut ab!“- und „SS, SA, USK!“-Rufen begrüßt. Es fliegen 1 oder 2 Biergläser, eine Flasche, ein Stuhl, wobei jedoch Vermu-
tungen bestehen, dass dies gezielte Provokationen von Zivis sind.

Per Lautsprecher wird die Polizei aufgefordert, den Saal zu verlassen, und zur Begründung der unten abgedruckte Text des Veranstaltungsflugis verlesen. Als feststeht, dass die Bullen bleiben werden, wird die Veranstaltung offiziell aufgelöst. Zum Abschluss ertönen im Saal wohlbekannte Töne und versetzen die Polizei in Aufruhr: Der Einsatzleiter gerät völlig aus dem Häuschen („Das Lied! Sie spielen das Lied!“). Noch mehr Bullen rennen in den Saal und die Enttäuschung ist groß, als sich herausstellt, dass es wohl doch die Originalversion „Pippi Langstrumpf“ war. (Gerüchte behaupten später, dass die Experten in der Ettstraße jetzt fieberhaft an einem triftigen Beweis da-
für basteln, dass „die starke Pippi“ eine terroristische Vereinigung ist.)

Jetzt dürfen alle durch ein USK-Spalier rausspazieren.

Die Bullen kontrollieren dann noch einen Pass, festgenommen wird keineR. Infomaterial wird von den Büchertischen beschlagnahmt und am nächsten Tag freut sich der Pressebericht aus dem Prä-
sidium: „Nach Abschluss konnte eine große Anzahl von Flugblättern eingesammelt werden. Die Auswertung auf mit Strafe bedrohten Inhalt bzw. auf das Presserecht dauert noch an.“

Gegen 21.45 Uhr werden in der Philharmonie am Gasteig Flugblätter verteilt, die über die Überwa-
chungssituation im Zusammenhang mit der Anti-WWG-Veranstaltung informieren. Megaphon-
durchsagen und Diskussionen setzten das Publikum, das gerade aus der antikolonialistischen Oper „Tierra“ kommt, in Kenntnis über den aktuellen Vorfall. Die OpernbesucherInnen sind überwie-
gend aufgeschlossen, nur der „Chef vom Dienst“ empfiehlt: „Das können sie am Marienplatz ma-
chen.“ Danke für den Tipp.

Am 4. April hat die Polizei gezeigt, dass sie sich notfalls mit Gewalt in jede linke Veranstaltung reindrängen will, um jede politische Diskussion zu zensieren und zu kriminalisieren. Die Bullen haben anscheinend eine hysterische Angst vor Hintergrundinformationen – welcher normale Mensch geht schon mit Helm und kugelsicherer Weste in den Haidhauser Bürgersaal? – dagegen fahren sie auf Kinderlieder tierisch ab.

Die Veranstaltung hat die Diskussion um Polizeipräsenz bei politischen Veranstaltungen an eine breite Öffentlichkeit gebracht; so berichteten alle größeren Tageszeitungen darüber, und die grüne Stadrätin Angelika Lex stellte eine Anfrage an Kronawitter. Dies kann als Erfolg des entschlosse-
nen Verhaltens von VeranstalterInnen und TeilnehmerInnen betrachtet werden. Außerdem konnte eine Veranstaltung der Frauenkoordination gegen den WWG am 6. April zum Thema „Situation von Flüchtlingsfrauen in der BRD“ „…ohne die offizielle Anwesenheit von Polizei und ohne sichtba-
re Polizeipräsenz rund um den Veranstaltungsort“ stattfinden. (Presseerklärung der Frauenkoordi-
nation)

Deswegen muss, besonders im Hinblick auf den WWG, diskutiert werden, ob/wie Veranstaltungen in Zukunft bullenfrei durchgeführt werden können. Die Meinungen von TeilnehmerInnen zum Thema „bullenfreie Veranstaltungen“ gehen von „auf keinen Fall Veranstaltungen mit angemelde-
ter Polizei durchführen“ bis „lieber zensierte Information, als gar keine!“. Irgendwo dazwischen gibt es verschiedene Möglichkeiten, mit der offiziellen Präsenz von Bullen umzugehen – dass wir keinen Bock auf die Anwesenheit von Bullen haben, ist hoffentlich inzwischen klar!

So wie bisher soll es nicht weitergehen – neue Ideen zum Thema bullenfreie Veranstaltungen sind gefragt!

Am 4. Mai um 19.30 Uhr findet im Haidhauser Bürgersaal eine zweite Veranstaltung mit dem sel-
ben Titel statt.
_ _ _

Rote Zora
(Kabarett Heiter bis Wolkig, nach der Melodie des Pippi-Langstrumpf-Liedes)

Staat und Macht und Geld
widewidewitt und Bullenschweine
alle groß und klein
tralalala kriegen eine rein.
Wir machen diese Welt
widewidewie sie uns gefällt.
Kampf dem Kapital
illegal legal ist scheißegal.

Hey rote Zora
Mollie hier Mollie da
Mollie hopsassa
Hey rote Zora
Du weißt, was uns gefällt!

Wir ha’m ein Haus
instandbesetztes Haus
den Peter und den Pitt,
die schauen nur zum Fenster raus.
Wir ha’m ein Haus,
den Peter und den Pitt,
der jeder Bullensau
mal kräftig in die Fresse tritt.

Hey rote Zora
Mollie hier Mollie da
Mollie hopsassa
Hey rote Zora
Du machst was uns gefällt!

Hey rote Zora
Mollie hier Mollie da
Mollie hopsassa
Hey rote Zora
Auf dass der Groschen fällt!
_ _ _

An alle Teilnehmerinnen wurde ein Flugblatt zur Situation der Veranstaltung verteilt. Ein Auszug:

In einer solchen Veranstaltung mit möglichst vielen zu diskutieren, praktische Ansätze zu entwik-
keln, kann für uns nicht losgelöst sein von den Umständen, unter denen dies möglich ist:

Zunehmend mehr Gruppen und Organisationen sind damit konfrontiert, dass bei ihren Veranstal-
tungen Polizei erscheint, sich offiziell Einlass verschaffen will, um den Verlauf der Veranstaltung zu überwachen. Wir halten diesen Zustand der polizeilichen Überwachung und Einschüchterung für untragbar und einen gemeinsamen Widerstand aller linken Gruppen und Organisationen gegen diesen Staatsterror für notwendig – ein Ignorieren bzw. eine passive Hinnahme wäre verhängnis-
voll.

Die offene Überwachung durch den Staat hat verschiedene Funktionen und Ziele: Die Vermittlung und Diskussion linker, staatskritischer und nicht konformer Themen, Ideen, Inhalte und Vorstel-
lungen soll behindert, eingeschränkt und mit Strafe bedroht werden.

Die polizeiliche Anwesenheit vor den Veranstaltungsorten und die direkte Überwachung durch die offiziell durchgesetzte Anwesenheit von mit Tonbandgeräten ausgerüsteten Beamten

~ soll Interessierte abschrecken (wer geht schon gerne in einen Polizeikessel, um zu einer Veran-
staltung zu kommen),

~ soll die VeranstalterInnen gesellschaftlich isolieren, stigmatisieren und hat bereits den Hauch von Kriminalisierung,

~ soll eine offene Diskussion unterbinden und die Schere im Kopf schärfen,

~ soll den staatlichen Zugriff auf Vortrags- und Diskussionsinhalte sowie auf deren Verbreiterin-
nen erleichtern und permanent androhen,

~ soll durch die Provokation, die sie darstellt und gegen die mensch sich machtlos wähnt, demü-
tigen und Resignation angesichts der Allmacht des Staates schüren und an dauernde Polizeiprä-
senz gewöhnen.

Aus diesen Gründen wollen wir die heutige Veranstaltung ohne polizeiliche Überwachung durch-
führen!


Stadtratte 10 vom Mai/Juni 1992, 12 f.