Materialien 2009

Tomatenprozess

16. Dezember 2010

Liebe Freundinnen und Freunde,
liebe Genossinnen und Genossen,

Ganz herzlichen Dank dafür, dass Ihr zu dem Prozess gekommen seid, auch denen unter Euch, die nicht kommen konnten, mir aber ihre Solidarität bekundet haben!

Als Angeklagter fühlt man sich ganz anders, wenn man weiß, dass man nicht alleine dasteht. Der Saal war ja brechend voll, es waren so viele gekommen, dass fast die Hälfte draußen bleiben muss-
te. Schade! Aber angeblich gab es keinen anderen freien Saal mehr.

Zum Ausgang des Prozesses: ich sehe darin einen Erfolg für uns alle, zeigt die Geschichte doch, dass man nicht klein beigeben darf und aufs Ganze gehen muss, wenn man etwas erreichen will. Das hat vor allem Gaby Heinecke, meine Anwältin, getan. Zitat aus der SZ: „…Und die Hamburger Juristin lässt das Gericht gleich spüren, dass sie für einen glatten Freispruch notfalls auch mit sehr harten Bandagen kämpfen wird.“

Einen glatten Freispruch haben wir zwar nicht erreicht, das unter den gegebenen Umständen aber mögliche: Einstellung des Verfahrens, Übernahme aller Kosten durch die Staatskasse.

Ein Wermutstropfen bleibt dabei, dass Artikel 20 des Grundgesetzes nur peripher zur Sprache kam. Wie Ihr wisst, sieht der Artikel ein Widerstandsrecht vor, „wenn andere Hilfe nicht möglich ist“, wobei dahingestellt bleibt, WIE dieser Widerstand genau aussieht. Im vorliegenden Fall war er zwar nur klein und schimmlig und hatte sein WIRKLICHES Ziel, das ca. 300 Meter entfernte Ver-
waltungsgericht, verfehlt, war aber zumindest schon mal von ROTER Farbe. Das ist schon was – oder?

Dass Art. 20 GG nicht Kern des Verfahrens wurde, daran bin ich selber nicht ganz unschuldig, weil ich – ein sehr mäßiger Redner – es zu Beginn des Prozesses versäumt habe, darauf einzugehen.

Vielleicht hat das Ergebnis aber auch einen gewissen Einfluss auf die anderen Prozesse, die anste-
hen. Soweit mir bekannt, haben ja über 25 junge Leute – unter ihnen die SDAJler – nach dem 8. Mai diesen Jahres auch Strafbefehle bekommen. Meine Solidarität gilt selbstverständlich ihnen, wenn sie vor Gericht stehen. Jeder von uns, der kann, sollte da hingehen.

Besonders gefreut habe ich mich über die Schulklasse, die da war. Dank an Hacki, der das möglich gemacht hat!

Ich grüße Euch alle noch mal ganz herzlich und möchte Eure Aufmerksamkeit zum Schluss auf eine kleine Zusammenfassung meines Genossen und Freundes Wolfgang S. (s.u.) richten, die er herumgeschickt hat.

Günter Wangerin
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Der Tomatenprozess:
„Und wenn’s ins Auge geht, dann schmerzt es!“

…ich hätte nicht gedacht, dass die Richterin am Amtsgericht es so persönlich nehmen würde in ihrem Schlusswort, als sie obigen Satz sagte, denn es muß sie wirklich geschmerzt haben, in allen Kontroversen mit der Verteidigerin Gabriele Heinecke nachgeben zu müssen. Da nützte es nichts, sich darauf zu berufen, dass in Bayern „wir halt immer schon das eine so und das andere anders gemacht haben“, denn in dem kleinen Heftchen der Hamburger Rechtsanwältin standen die Geset-
ze eben so drin, wie sie für die ganze BRD gelten.

Und offenbar war sie es überhaupt nicht gewohnt, auf die Frage „Wollen wir uns darüber wirklich streiten“, die entschiedene Antwort zu hören: „Ja, wenn’s sein muss“! Also rückten die Zuschauer noch weiter zusammen, um wenigstens einen Teil der über 100 Interessierten teilnehmen zu las-
sen, durfte die Verteidigerin neben dem Antifaschisten Günter Wangerin sitzen und nicht hinter ihm, konnten damit auch Absprachen zwischen beiden stattfinden und wurde das Verfahren gegen ihn eingestellt mit der Maßgabe, dass alle Kosten die Staatskasse zu übernehmen hätte, obwohl auch das „noch nie so gehandhabt“ wurde.

Vorausgegangen war ein Trauerspiel der Vertreter der Staatsmacht, die noch nicht einmal wussten, um was es bei der Demonstration ging, die sie da zu schützen hatten und Gabriele Heinecke ließ ihnen keine Chance auf Ausflüchte. Tatsächlich meinten sie, es ging wirklich nur um 2 Tomaten, die sie entweder nicht wirklich, aus den Augenwinkeln oder in einer Plastiktüte verpackt sahen, die einmal zwischen ihnen oder 20 cm über ihnen flogen, gerade oder im Bogen und die eine Entfer-
nung von bis zu 15 Metern hätten fliegen sollen.

Vielleicht war es der Richterin selbst klar, dass dieser Prozess eigentlich im Freispruch hätte enden müssen. Sie traute sich nicht. Deshalb ihr Vorschlag, das Verfahren einzustellen, das die Staatsan-
waltschaft offenbar schon von Anfang an als verloren sah. Der verzweifelte Versuch am Schluss, sich mit dem Satz zu retten: „Und wenn’s ins Auge geht, dann schmerzt es“, war wohl Ausdruck ihres eigenen Empfindens.

Wolfgang


Rundbrief von Günter Wangerin nach seinem Prozess.

Überraschung

Jahr: 2009
Bereich: Rechtsextremismus