Flusslandschaft 1993

Armut

Im Oktober erscheint die erste Ausgabe des Magazins BISS, Bürger in sozialen Schwierigkeiten. Das Ziel: Hilfe zur Selbsthilfe. 2011 wird BISS an über hundert Standorten in München von über hundert Menschen verkauft, die obdachlos sind oder es waren. Das Magazin ist die älteste und mit einer monatlichen Druckauflage von 35.000 Exemplaren (2011) eine der erfolgreichsten Straßen-
zeitungen Deutschlands. Vom Verkaufspreis, 1,80 Euro, behält der Verkäufer 90 Cent. Die Zeit-
schrift versteht sich auch als Lobby für gesellschaftlich benachteiligte Gruppen. Sie möchte ein Bewusstsein schaffen für die Belange obdachloser und armer Menschen. Eine schlanke, professio-
nelle Redaktion stellt das Magazin her, das von obdachlosen oder ehemals obdachlosen Menschen auf der Straße verkauft wird. Die Zeitschrift ist Mittel zum Zweck. Das heißt, ihr Budget wird so klein wie möglich gehalten, denn das Geld soll hauptsächlich den Verkäufern zugute kommen. – Neben dem Arbeitsangebot geht BISS auch die Entschuldung des Verkäufers und seine gesundheit-
liche Sanierung an. Beim Erstbezug einer Wohnung stellt ihm BISS Geld zur Finanzierung der Erstausstattung zur Verfügung. Gegebenenfalls sorgt BISS auch für geeignete Qualifizierungsmaß-
nahmen. – Verkäufer, die sich auch in der Zeitschrift engagieren möchten, haben die Möglichkeit, in die BISS-Schreibwerkstatt zu gehen. Einmal in der Woche bringen sie mit Hilfe einer Journali-
stin ihre Gedanken und Ansichten zu Papier. Unter der gleichnamigen Rubrik werden die Texte dann veröffentlicht. Durch diese Texte wird BISS in der Münchner Medienlandschaft einzigartig, denn relativ ungefilterte Beiträge von obdachlosen oder armen Menschen gibt es nur in der BISS zu lesen.

Überall sind Schlagzeilen über den „Sozialhilfe-Missbrauch“ zu lesen, dabei ist in Bayern die versteckte Armut besonders hoch. Obwohl sie einen Anspruch auf Unterstützung haben, gehen viele aus Scham oder Unwissenheit nicht zum Sozialamt. Und die laufende Kampagne gegen die „Sozialschmarotzer“ schürt die Angst vor den Behörden. Siehe auch „Gewerkschaften/Arbeitswelt“.

Sechs Millionen Deutsche leben unter dem Existenzminimum. Die Wirtschaftskrise und der damit verbundene Rückgang der Gewerbesteuer, der wichtigsten Geldquelle der Kommunen, sowie Veränderungen in der Steuer- und Sozialpolitik verschärfen die Situation. Die Bundesregierung plant Kürzungen bei Arbeitslosengeld und – hilfe, bei Wohn- und Unterhaltsgeld. Hier müssen dann bei der Sozialhilfe Länder und Gemeinden ausgleichen. In München beträgt für den Haushalt ’93 allein der prognostizierte Gewerbesteuerausfall 50 bis 80 Millionen Mark. Dieses Defizit entsteht dadurch, dass Großunternehmen ihre Gewinne mit den Investitionen in Ostdeutschland verrechnen können. „… ‚Im August, drei Tage vor dem Sommerurlaub, habe ich erfahren, dass unsere Teestube im Olympiazentrum geschlossen werden soll’, erzählt Marianne Schmutzer vom Münchner Verein für Soziale Dienste. Dabei sei die Teestube der einzige Treff für die Kinder und die Jugendlichen des etwa 10.000 Einwohner zählenden Olympiadorfes. Womöglich stehen die Chancen für die Teestube gar nicht einmal so schlecht. Zahlreiche Eltern aus dem Olympiadorf haben Protestbriefe gegen die Schließung des beliebten Kinder- und Jugend-Treffs ins Rathaus geschickt. ,Nur solche Aktionen bringen etwas’, weiß Frau Schmutzer vom Trägerverein der Teestube. Aber auch die Altenarbeit des Vereins in der Heilig-Geist-Kirche in München-Moosach erscheint als gefährdet. Der 6.000-Mark-Zuschuß soll gestrichen werden, obwohl der ,Bedarf sehr groß ist’. In hektischen Verhandlungen hat die rot-grüne Spitze im Münchener Rathaus noch weitere Millionen für das Sozialreferat aus anderen Etatposten gequetscht … Auch in anderen deutschen Städten regt sich inzwischen der Widerstand gegen die Sparvorhaben. In Stuttgart wollen die Initiativen aus dem Jugend-, Sozial- und Kulturbereich gemeinsam gegen die Rotstift-Politik der Stadt vorgehen. Auch in München würden Protestaktionen geplant, weiß Hella Hetschger vom Jugendring. Dem Münchner Oberbürgermeister Christian Ude scheint der Widerstand an der Basis durchaus ins Konzept zu passen. Er fordert von Bund und Ländern
mehr Geld für die Metropolen. Zusätzliche Aufgaben dürften den Kommunen nicht länger ohne zusätzliche Finanzmittel übertragen werden. Großstädte müssten einen gerechteren Anteil aus dem kommunalen Lastenausgleich erhalten, der ihre besonderen Leistungen auch für die umliegenden Gemeinden berücksichtigt. ,Wir können nur versuchen, die Diskussion über die Finanzausstattung der Großstädte tagtäglich zu einem politischen Kampfthema zu machen’, sagt Ude. Denn eine ,arme Stadt’, bedeute, dass ‚die ärmere Bevölkerung unter die Räder kommt und sich nur noch die Vermögenden problemlos über Wasser halten können.’“1

Immer mehr Menschen geraten in die Schuldenfalle. „… ‚Dass Menschen Schulden haben, ist
nicht neu. Neu ist, dass sie Schulden machen, um leben zu können’, sagt Hermann Frieser. Er
ist Bankfachmann in der Schuldnerberatungsstelle im Münchener Gewerkschaftshaus und sieht täglich, wer da kommt. ‚Hauptsächlich Niedrigverdiener’, stellt er fest: ,Schulden sind ihr Ausweg, der Armut zu entkommen.’ Doch immer nur für kurze Zeit. Rolf Hall (Name von der Redaktion geändert), Arbeiter in München, hat 2.150 Mark netto im Monat – 150 Mark mehr als 1990. Aber obwohl er sich nicht mehr leistet als damals, rutscht er ständig tiefer in die Miesen: Miete (jetzt 1.000 Mark!) und die Kosten für Energie, Fahrtkosten, Lebensmittel sind stärker gestiegen als sein Nettolohn, nämlich um 525 Mark. Die 500-Mark-Rate für den Kredit ist nicht geringer geworden. 1990 fehlten ihm am Monatsende schon jeweils 165 Mark, inzwischen 250 Mark … Hall hat einfach sein Girokonto immer weiter überzogen, um seine Kosten zu decken. Jetzt ist es mit 6.000 Mark belastet. Das Überziehen kostet rund 15 Prozent Zinsen, die die Schulden weiter erhöhen. Lange geht das nicht mehr so, meint Hermann Frieser: ,Entweder die Bank dreht ihm den Hahn zu und kündigt das Girokonto und den Ratenkredit. Dann muss er alles auf einmal bezahlen, kann es aber nicht und muss darum noch höhere Zinsen und Kosten zahlen. Oder sie schlägt ihm eine Umschul-
dung vor. Das machen vor allem die Teilzahlungsbanken gerne. Dann wird sein Ratenkredit aufge-
stockt, um das Girokonto auszugleichen.’ Viele kennen dieses Spielchen aus eigener Erfahrung. Erstmal kann man Luft holen, weil das Girokonto wieder im Plus ist. Aber schon am Monatsende sieht es noch düsterer aus als vorher. Frieser: ,Weil der Kredit höher ist, sind es die Raten natürlich auch, aber Hall kann doch heute schon die niedrigen Raten nicht zahlen!’ Der Schuldnerberater kennt Fälle, in denen der Kredit so auf 60.000 Mark hochgetrieben wurde. Bei den teuren Um-
schuldungen gab’s als Bonbon jedesmal noch etwas Bargeld dazu. Für die 60.000 Mark Kredit musste man dann zum Schluss 100.000 Mark bezahlen. ,Bloß nicht kopflos werden!’ warnen die Schuldnerberater alle, bei denen das Geld knapp wird. ,Nicht an die Falschen wenden und die Sache noch verschlimmern!’ Denn: An der vertrackten Situation der Schuldner verdienen viele Leute … Inkassofirmen zum Beispiel, berufsmäßige Geldeintreiber. Aus einer Schuld von 18.000 Mark machten sie bei Rita Andes eine von über 50.000 Mark, als sie mit dem Abzahlen nicht mehr gegen ankam – durch Zinsen, Zinseszinsen, Gebühren und Kosten. Manche Inkassofirmen kaufen sich für einen Spottpreis schon fast aufgegebene Rechungen von den Gläubigern und versuchen dann, sich das geschuldete Geld plus Gebühren und Zinsen hereinzuholen. Ihre Methoden sind besonders rüde: Drohbriefe, in denen dick gedruckt etwas von ,Haftbefehl’ steht, was reine Panikmache ist. Besucher an der Haustür, die mal handgreiflich werden, mal den Kampfhund an der Seite haben … Auch ,Kreditvermittlungen’ profitieren von der Krise. In Rätselheften und Zeitschriften locken ihre Anzeigen mit angeblich billigen Bargeld-Angeboten – ohne Bürgen, ohne Auskunft aber: meist mit schlimmen Folgen. Sicher ist: Diese Kredite sind furchtbar teuer, so teuer, dass viele Menschen ihr Leben lang nicht mehr von solchen Schulden loskommen. Auf die Banken sind die Schuldnerberatungen selten gut zu sprechen. Hermann Frieser ist vor allem empört, wenn sie Überschuldeten das Girokonto kündigen. ,Sogar dann, wenn das Girokonto nur auf Guthabenbasis geführt wird!’ erfährt er in seiner Praxis. Ihnen genüge manchmal schon ein negativer Vermerk über Zahlungsunfähigkeit im bundesweiten Auskunftssystem der Banken, der Schufa. ,Das ist schlimmste Diskriminierung’, meint Frieser. Er weiß, was am Konto hängt: ,Wer beim Arbeitgeber kein Konto angeben kann, auf das der Lohn überwiesen wird, macht sich gleich verdächtig. Wenn entlassen wird, ist der als erster dran. Wenn er arbeitslos ist, kriegt er bei der Bewerbung die Stelle erst gar nicht!’ …“2


1 Michael Linkersdörfer: „Riesenlöcher im Stadtsäckel – Die Rezession zwingt Städte und Gemeinden zu rigorosen Sparmaßnahmen“ In: Metall. Zeitung der Industriegewerkschaft Metall 20 vom 1. Oktober 1993, 9 f.

2 Regina Droge: „Im Nu in der Tinte – Rund 1,5 Millionen Bundesbürger sind zahlungsunfähig“ In: Metall. Zeitung der Industriegewerkschaft Metall 25 – 26 vom 13. Dezember 1993, 11 f.

Überraschung

Jahr: 1993
Bereich: Armut