Flusslandschaft 1993

Gewerkschaften/Arbeitswelt

Allgemeines
DGB

- Beamtinnen und Beamte
- BMW
- Deckel und Maho
- Deutsche Aerospace
- Digital Equipment
- Industrieanlagen-Betriebsgesellschaft
- Krauss-Maffei
- Merk-Telefonbau
- Metallindustrie
- Rhode & Schwarz
- Siemens


Selbstverständlich gibt es in allen gesellschaftlichen Feldern auch Missbrauch, egal, ob oben oder unten, hinten oder vorne. Selbstverständlich findet sich auch Missbrauch bei Krankenversicherung oder Sozialversicherung. Die Bild-Zeitung weist regelmäßig auf „Sozialbetrüger“ und „Sozial-
schmarotzer“ hin. Hierbei handelt es sich nicht um Unternehmer, deren schwarze Kassen sich in Luxemburg, Liechtenstein oder der Schweiz befinden, sondern um Arbeitssuchende, die zu Tricks greifen, um ihre Lage aufzubessern. Diese Öffentlichkeitsarbeit schürt Stimmung und ermöglicht der Bundesregierung eine groß angelegte Kampagne.1 Siehe auch „Armut“.

Siehe auch „SchülerInnen“.

DGB

Am Ersten Mai gibt es neben der offiziellen DGB-Kundgebung auf dem Marienplatz, auf der DGB-
Kreisvorsitzender Klaus Dittrich, Oberbürgermeister Kronawitter und der Vorsitzende der IG Medien, Detlef Hensche, sprechen, und eine alternative und antikapitalistische Demonstration,
die vom Pariser Platz in Haidhausen zur Holzstraße im Gärtnerplatzviertel führt.

BEAMTINNEN und BEAMTE

Von Januar 1994 an sollen nach dem Willen von Ministerpräsident Stoiber die rund 206.000 Beamtinnen und Beamten des Landes und der Kommunen wieder vierzig statt 38,5 Wochen-
stunden arbeiten, ein Signal auch an die privaten Unternehmen, bei Tarifverhandlungen auf eine Ausdehnung der Wochenarbeitszeit zu drängen. Angestellte und Arbeiter im öffentlichen Dienst sollen ebenfalls wieder länger arbeiten. Die Gewerkschaften künden eine Protestwelle an.

BMW

„BMW-Kohl: Horst Teltschik, ehemals Berater von Kanzler Kohl und mittlerweile Vorstandsmit-
glied bei BMW, profiliert sich dort auf seine weise. Locker vom Hocker diktierte er einem Reporter des Krawall-Blatts ‚Super-Illu’ in die Feder: ‚Wenn die Stadt München so weiter macht, schließen wir München. Wir brauchen nur das Werk Regensburg ein Stück auszubauen, dann kommen wir ohne München aus.’ Sprüche, die nicht nur die 20.000 BMW-Beschäftigten in München kaum anders verstehen können denn als Erpressung. Doch bei so was lässt sich kein feines Unternehmen gern erwischen. Und so erklärte ein BMW-Sprecher gegenüber der etwas gediegeneren Deutschen Presse-Agentur, die flotten Teltschik-Sprüche seien ‚überinterpretiert’ worden. ‚Der Sitz des Unternehmens und auch die Produktion bleiben unverändert in München erhalten.’“2

DECKEL und MAHO

Die Werkzeugmaschinenhersteller Deckel (München) und Maho (Pfronten) fusionieren. Mitte Juli wird bekannt, dass von den insgesamt 2.700 Arbeitsplätzen 1.500 bis Mitte 1994 abgebaut werden sollen.

DEUTSCHE AEROSPACE

Die Deutsche Aerospace AG (DASA) will, wie sie im Oktober 1992 bekannt gegeben hat, von insgesamt 75.400 inländischen Arbeitsplätzen 7.500 abbauen. Am 17. März demonstrieren 1.000 Beschäftigte aus Friedrichshafen, Oberpfaffenhofen, Nabern in Baden-Württemberg und aus Neuaubing vor der Aufsichtsratssitzung in Ottobrunn. Dann heißt es, die DASA will ihre Betriebe in Neuaubing (Deutsche Airbus) und an fünf weiteren Standorten in Bayern mit insgesamt 16.000 Arbeitsplätzen schließen. Am 25. Oktober demonstriert die Neuaubinger Belegschaft und blockiert eine Brücke auf dem Mittleren Ring. Auf einem Transparent steht: „Nieder mit den Airbus-Bossen – Unser Werk wird nicht geschlossen.“ Ein Sprechchor lautet: „Marmor, Stein und Eisen bricht, doch wir in Neuaubing nicht. Reuter, Schrempp und Mehdorn schrein, doch wir sagen NEIN.“3 Am 10. November soll eine bundesweite Demonstration in Bonn stattfinden. Siehe auch „CSU“ 1992 und „Frauen“.

DIGITAL EQUIPMENT

Die IG Metall warb im letzten Jahr bei Digital Equipment GmbH (DEC) um Mitglieder in der Hoffnung, einen Arbeitskampf durchstehen zu können. (Siehe „Gewerkschaften/Arbeitswelt“ 1992.)

„Seit Mitte 1992 wurden 700 Stellen (auf derzeit 4050) abgebaut, durch Betriebsvereinbarungen gesicherte Sozialstandards gekündigt, Unternehmensbereiche ausgegliedert – und so soll es nach den Vorgaben der US-Zentrale auch weitergehen. Eine Konzernstrategie, deren Kochrezept Punkt für Punkt einem (auch von IBM benutzten) Standardwerk der St. Gallener Unternehmerberatungs-
schule entnommen ist – wie der DEC-Betriebsrat Anfang März auf der Betriebsversammlung in München unter Gelächter der 600 Kolleginnen und Kollegen enthüllte.“4 Die 3.500 Beschäftigten wollen Rationalisierungsschutz und eine betriebliche Interessenvertretung. Am 3. März verlassen für knapp zwei Stunden 1.300 Computerspezialisten an allen bundesdeutschen Standorten ihren Arbeitsplatz. Am 25. März findet ein Warnstreik mit Demonstration von hundert Mitarbeitern vor der Münchner Hauptverwaltung statt. Die Geschäftsleitung: „Die Schirme der IG Metall müssen vom Betriebsgelände entfernt werden.“5

„Richard Polzmacher, Bezirkssekretär bei der Bezirksleitung München und Mitglied der Digital-Tarifkommission: ,Das Problem von Digital in Deutschland ist ein Spitzenmanagement, das die Intelligenz der Beschäftigten unterschätzt. Das ist ein Fehler, der sich auch auf den Geschäftserfolg auswirken muss. Nach unserem Eindruck hat die Geschäftsführung durchaus freie Hand, die Konflikte sozialverträglich und im Einvernehmen mit den Belegschaftsvertretern zu lösen. Doch
sie setzt lieber auf die eigene Betonköpfigkeit. Und genau so geht es nicht.’“6 Am 3. und 4. Juni stimmen 84,9 Prozent der 1.000 Organisierten aller fünfzehn bundesdeutschen Niederlassungen in der Urabstimmung für den Streik. Am 14. Juni geht in den beiden Berliner Niederlassungen nichts mehr. Dann ziehen Köln, Hannover, Bremen, Hamburg, Siegen und Essen nach. Die Digital-Standorte in Süddeutschland arbeiten noch; die Streikleitung braucht sie als Reserve, um eventuell noch den Druck erhöhen zu können.7

INDUSTRIEANLAGEN-BETRIEBSGESELLSCHAFT

„Bund verstößt High-Tech-Betrieb – Als ,schöne Tochter’ feierten Politiker wie Franz Josef Strauß und Manfred Wörner vor sieben Jahren noch die bundeseigene und in Staatsregie geführte IABG Industrieanlagen-Betriebsgesellschaft (IABG). Heute fühlen sich die 1.460 Beschäftigten des Test- und Analysezentrums am High-Tech-Standort Ottobrunn bei München wie heiße Kartoffeln, die um jeden Preis fallengelassen werden. Das Unternehmen wird privatisiert und zu 45 Prozent nebst industrieller Führerschaft an den US-Konzern BDM verkauft – ohne angemessene Vorsorge für die sozialen Ansprüche der Belegschaft. Die vom IABG-Betriebsrat seit Beginn der Privatisierungs-Vorbereitungen geforderte Ausfallbürgschaft durch den Bund für etwa anfallende Sozialpläne findet in Bonn offenbar keine Befürworter. Kanzler Kohl hielt es nicht mal für nötig, einen Brief der Belegschaftsvertretung zu beantworten.

,Dieselben Herren Staatsdiener, die sich Personalreduzierungen im eigenen Bereich nur als Frühpensionierungen vorstellen können …, erklären eiskalt, es sei eben Schicksal und die IABG-
Belegschaft müsse den Preis für die positiven politischen Veränderungen eben zahlen’, heißt es in der Presseerklärung des Betriebsrats von Ende August, in der die sozialen Verpflichtungen des Bundes eingefordert werden. Deutlich mehr Resonanz in der Öffentlichkeit hingegen fanden die Differenzen zwischen der bayerischen CSU-Regierung und dem IABG-Verkäufer Theo Waigel, der dem US-Unternehmen den Zuschlag gab. Denn die IABG testet nicht nur militärisches Gerät (wie den Tornado, Jäger 90), sondern Hochtechnologie deutscher und europäischer Konzerne, die im Wettbewerb mit US-Konzernen stehen. Ob die Auftraggeber ihre Neu-Entwicklungen einer IABG zum Test anvertrauen werden, die unter Regie einer US-Firma läuft, bleibt abzuwarten.“8

KRAUSS-MAFFEI

„Rüstungskonversion“: Seit Jahren argumentiert die IG Metall, dass Rüstungsbetriebe nicht von ihren Produkten abhängig sein müssen, sondern auf zivile Produktionen umsteigen müssten. Die Firma Krauss-Maffei hat den Umstieg von der „Wehrtechnik“ in Teilen ihrer Produktion geschafft. (Siehe auch „Medien“.)

Andere Betriebe, denen die Aufträge nach der Beendigung der Ost-West-Konfrontation wegbre-
chen, müssen schließen. Wenn Standorte geschlossen werden, sind nach gängiger Argumentation entweder die Produktionskosten zu hoch oder die Absatzmöglichkeiten auf dem Markt zu gering. Die Begründungen orientieren sich immer an betriebswirtschaftlichen Konzepten. Da erhebt sich Widerspruch: „Besteht auf der Welt wirklich eine Überproduktion von Stahl? Gewiss nicht. Viele arme Länder bräuchten Land- und Baumaschinen, Eisenbahnschienen, Kraftwerksturbinen, Omnibusse, Lastwagen. Aber auch in den relativ reichen Industrieländern bräuchten viele neue, schadstoffarme Autos; die Kommunen bräuchten neue Nahverkehrsbahnen. Es wäre also genug Bedarf vorhanden. Doch in einem Kapitalsystem ist nicht der wirkliche Bedarf Maßstab der Pro-
duktion, sondern der Profit. Das Profitstreben aber deckt sich nicht mit den wirklichen Bedürfnis-
sen der Menschen. Was für wenige mehr Profit bedeutet, bedeutet für die Mehrheit mehr Arbeits-
losigkeit. Da kann man nichts machen, sagen die vielen, die alles machen könnten. Die Oberen sind zu mächtig, sagen die meisten, die ihre Oberen mächtig machen. Geld regiert die Welt, sagen die vielen, ohne deren Arbeit es kein Geld gäbe. Artur Troppmann, W-8000 München“ 9

MERK-TELEFONBAU

Die IG Metall startet in eine neue Tarifbewegung. Wieslawa Waclawek (46), Packerin bei Merk-
Telefonbau
in München: „Wir haben soviel Stress in der Arbeit – den Urlaub brauchen wir, damit wir nicht kaputtgehen. Sollen die Unternehmer uns doch mal vormachen, wie sie bei 1.200 Mark Miete von 2.000 Mark netto im Monat leben können.“10 — Der Betrieb wirft vor allem ältere Beschäftigte auf die Straße.11

METALLINDUSTRIE

Vom 1. April an beträgt die tarifliche Wochenarbeitszeit in der bayrischen Metallindustrie 36 statt 37 Stunden. 1995 soll nach einem von der IG Metall seit 1990 durchgesetzten Stufenplan die 35-Stunden-Woche gelten.

Konjunktureinbruch: Ende 1992 erwarteten die Gewerkschaften allein in der Münchner Metallindustrie den Verlust von 20.000 Arbeitsplätzen. Tatsächlich sind es Ende 1993
30.000 Arbeitsplätze.

RHODE & SCHWARZ

Bei Rohde & Schwarz sind Arbeitsplätze vakant. Die Belegschaft wehrt sich.12

SIEMENS

„Siemens-Azubis kämpfen um Lehrwerkstatt: Schließung vertagt – Prüfung bestanden – Arbeitsplatz im Eimer! So sieht nach dem Willen etlicher Metallarbeitgeber in Bayern im Frühjahr die Zukunft ihrer Auszubildenden aus. Vorreiter dieser Art von ,Zukunftsgestaltung’: der Siemens-Konzern (METALL berichtete). Betriebsräte und Jugend- und Auszubildendenvertreter in München haben den Kampf um den Erhalt der renommierten Zentralen Ausbildungswerkstatt aufgenommen. Die 500 Siemens-Azubis von der Hofmannstraße waren gemeinsam mit ihren Ausbildern zur Protestdemo auf die Straße gegangen, als der Plan von der Schließung ruchbar wurde. Der Protest hatte immerhin den Erfolg, dass die endgültige Entscheidung nun auf März verlegt und im Vorfeld weitere Verhandlungen anberaumt wurden.

Die Betriebsräte vom Standort Hofmannstraße, wo die ZAG angesiedelt ist, verlangen vor allem eine detaillierte Kalkulation über die Einsparmöglichkeiten, die Siemens durch Aufsplitterung der Ausbildung in München angeblich erzielen will. Nicht wesentlich ist die Frage, welchem Unter-
nehmensbereich die Ausbildung zugeordnet wird, wohl aber, ob die ZGA auf dem Niveau und in dem Umfang wie bisher fortgeführt wird. So sehen es auch die Auszubildenden: ,Wir sind zu Siemens gegangen, weil hier an der Hofmannstraße wirklich umfassende Ausbildungsmöglich-
keiten vorhanden sind. In einer Hallenecke in Poing kann so was sicher nicht gewährleistet werden.’ Die Auszubildenden beraten derzeit über die nächsten Aktionen, mit denen sie ihre
ZGA verteidigen wollen. H. M.“13

„Die zentrale Lehrwerkstatt in München bleibt erhalten: Erfolg für Siemens-Azubis – Aktionen lohnen: Die Münchner Siemens-Auszubildenden, die gemeinsam mit ihren Ausbildern im letzten Dezember für den Erhalt der Zentralen Gewerblichen Ausbildung (ZGA) an der Tölzer Straße demonstriert hatten, konnten sich durchsetzen. Der Konzernvorstand gab seine Pläne, die Ausbildung aufzuteilen und größtenteils nach Poing zu verlagern, jetzt auf. Die ZGA bleibt. Nicht abbringen ließen sich die Konzernplaner allerdings bisher von der drastischen Reduzierung der Ausbildungsplätze an nahezu allen Standorten. Auch in der Tölzer Straße, wo 1992 noch 69 Azubis eine qualifizierte Ausbildung beginnen konnten, sollen im kommenden September nur noch 45 eingestellt werden, 1994 sollen es nur noch 30 sein. Von den derzeit noch 37 Ausbildern sollen mit Rückgang der Ausbildungsplätze nur noch 15 übrig bleiben. Wen wundert’s also, dass sich die Siemens-Azubis über ihren Erfolg nur mit halbem Herzen freuen können. Immerhin: Durch den Erhalt der ZGA ist gewährleistet, dass sich für diejenigen, denen Siemens eine umfassende, qualifizierte Ausbildung versprochen hat, die Zusage auch einhalten lässt. Hannelore Messow”14

Bei Siemens-Nixdorf in Neu-Perlach sollen IT-Experten entlassen werden. Das öffentliche Vorurteil sieht sie zumeist als versponnene Einzelgänger ohne gesellschaftliches Bewusstsein.
In Wirklichkeit sind sie anders.15

Siemens setzt an seinem Standort Balanstraße rigoros MitarbeiterInnen an die Luft.16


1 Siehe „Missbrauch der Arbeitsämter“ von Hannelore Messow.

2 Metall. Zeitung der Industriegewerkschaft Metall 14 vom 19. Juli 1993, 20 (07).

3 Metall. Zeitung der Industriegewerkschaft Metall 24 vom 26. November 1993, 16.

4 Hannelore Messow:/Jörg Rode: „Warnstreiks an allen Computern” In: Metall. Zeitung der Industriegewerkschaft Metall 6 vom 19. März 1993, 24.

5 Metall. Zeitung der Industriegewerkschaft Metall 7 vom 2. April 1993, 19.

6 Hannelore Messow: „Erster Streik in der Computer-Branche – Bei Digital stimmen 85 Prozent für den Arbeitskampf“ In: Metall. Zeitung der Industriegewerkschaft Metall 12 vom 14. Juni 1993, 13.

7 Siehe „Erfolg mit dem richtigen Partner von Hannelore Messow.

8 Metall. Zeitung der Industriegewerkschaft Metall 19 vom 17. September 1993, 19.

9 Metall. Zeitung der Industriegewerkschaft Metall 7 vom 2. April 1993, 2 f.

10 Metall. Zeitung der Industriegewerkschaft Metall 21 vom 15. Oktober 1993, 12.

11 Siehe „Team der eisernen Besen“ von Hannelore Messow.

12 Siehe „Phantasie rettet Arbeit“ von Hannelore Messow.

13 Metall. Zeitung der Industriegewerkschaft Metall 2 vom 22. Januar 1993, 20 (07).

14 Metall. Zeitung der Industriegewerkschaft Metall 7 vom 2. April 1993, 20 (07).

15 Siehe „Brüchige Fundamente“ von Hannelore Messow.

16 Siehe „Auf der Abschussliste“ und „Siemens feuert fristlos“ von Veronika Mirschel.