Materialien 1969

Aktionsraum. 1 - Erinnerungen in Bewegung

ALFRED GULDEN

IM ZUG. NOTIZEN, während die Landschaft vorbeifällt. Wochenlang bin ich im Schneideraum gesessen, den kleinen Bildschirm vor Augen. Vorlauf, Rücklauf – ja, gut so, der Schnitt stimmt. Oder nicht. Und so weiter, von morgens bis abends. Ich lebe in dem Film, eine Dokumentation über einen Mann in Paris, und jetzt, das Notizbuch auf den Knien, den Schreibstift zwischen den Zähnen, soll ich Worte machen: Thema Aktionsraum 1, erinnern, was damals war, vor 25 Jahren, was davon geblieben ist. Aufschreiben. Aber wenn ich hinausschaue, bin ich noch immer im Schneideraum, nur der Bildschirm ist größer. Vorlauf, Rücklauf. Ohne Schnitt schießt die Landschaft vorbei, mit Tempo 242 km/h, habe ich auf dem kleinen Monitor im Gang neben der Toilette gelesen. Deutschland im Längsschnitt von Saarlouis bis Hamburg.

AKTIONEN, das kann man nicht beschreiben, die muß man erlebt haben, das geht einem durch und durch. Dieser Satz, vor über 20 Jahren von einem aus dem Publikum zu mir gesagt, als ich ihn bat, aufzuschreiben, was er bei einer Kunstaktion im Aktionsraum 1 erlebt hatte, geht mir nicht wieder aus dem Kopf. Aber ich will ja keine Aktion beschreiben, sondern über einen Raum berichten, eine aufgegebene kleine Fabrikhalle in München am Goetheplatz, »die näher an der Zahnklinik, näher an der Anatomie, näher an der Oktoberfestwiese , näher am Schlachthof, näher an Münchens größtem Kino lag als an Münchens Kulturlandschaft«, wie ein Kritiker damals schrieb. Für ein Jahr genau hatten wir — das waren Dr. Eva Madelung, die Mäzenatin, Peter Nemetschek) ein Kunstmaler, und ich — diese Halle gemietet, um dort ein Experiment zu beginnen, dessen Zielsetzung wir vage und allgemein formulierten mit »Bewegung erzeugen, öffentlichen Raum für Künstler schaffen, gesellschaftlich wirksam werden, verunsichern, das Publikum zu Akteuren machen, Zusammenarbeit progressiver Kräfte, Münchner Situation verbessern, beweglich sein, leicht auflösbar bleiben«. Von Beginn an wußten wir das genaue Datum für den Abriß der Halle. Am 20. Oktober 1970 waren die Bagger da. Und innerhalb von zwei Tagen war nur noch eine breite und tiefe Baugrube, wo es 367 Tage den Aktionsraum 1 gegeben hatte.

WAS AUSSER DEN ERINNERUNGEN geblieben ist: ein kleines Archiv mit Briefen, Informationsblättern, Fotos, Plakaten, Karteien, Kritiken, Ablehnungsbescheiden und Prozeßakten, Tonbändern und Katalogen, das Buch Aktionsraum 1 oder 57 Blindenhunde und der Film (16 mm s/w 45 Min.) gleichen Titels. Das Buch liegt neben mir auf dem Sitz, der Film in der Reisetasche. Das Buch ist Anlaß der Reise, den Film will ich heute abend in Hamburg im Kunstverein zeigen. Wie sie nach so langer Zeit auf den Aktionsraum 1 gekommen seien, hatte ich die beiden Organisatoren, junge Leute, sie bildende Künstlerin, er Galerist, gefragt. Zufällig seien sie irgendwo auf den Katalog, das Buch über den Aktionsraum 1 gestoßen und hätten sofort gewußt, das eigne sich für ihre Veranstaltungsreihe:

DAGEGEN/DABEI, Produktion und Strategie in Kunstprojekten seit 1969. Der Titel habe mit dem Künstler Vlado Kristl, der in Hamburg lebt, zu tun – ob von Kristl selbst oder über ihn, weiß ich nicht mehr. Mitte der sechziger Jahre, als ich nach München kam, lief dort gerade sein Film Der Damm. Und ich hatte mir damals fest vorgenommen, diesen Künstler kennenzulernen. Später, den Aktionsraum 1 gab es nicht mehr, er hatte sich in eine Wohn- und Arbeitsgemeinschaft verändert in einem angemieteten Altbau in München/Nymphenburg mit einer Druckerei und Satz, von der wir, inzwischen sieben Leute, lebten, kam Vlado Kristl zu uns und wollte ein Buch mit vielfarbigen Drucken anfertigen lassen. Auf unser finanzielles Risiko hin – natürlich. Nach langen Gesprächen und Kalkulationen stellte sich heraus, daß wir mit diesem Buch die Existenz unserer Wohn- und Arbeitsgemeinschaft aufs Spiel setzen würden. Vlado Kristls seelenruhige Antwort: »Dann seid ihr aber mit einem wunderschönen Projekt kaputtgegangen.« Und ich weiß noch, wie ich in unbeherrschter Wut ihn ansprang, schüttelte und »Du Taschenanarchist, du Taschenanarchist!« schrie. Die jungen Leute in Hamburg lachen, als ich ihnen diesen Vorfall von vor 20 Jahren erzähle, ja, doch, das könnten sie sich gut vorstellen.

AKTIONSRAUM 1 ODER 57 BUNDENHUNDE: Haßt ihr Künstler? Völlig daneben … Voll getroffen … Verrückt – nur einige der damaligen Kommentare zum Buchtitel. Wie die »Blindenhunde« in den Buchtitel gekommen sind? Wir, die Wohn- und Arbeitsgemeinschaft, die sich inzwischen Al Informationen nannte, saßen um den großen Küchentisch. Brainstorming. Wie sollte die Dokumentation, das Buch über den Aktionsraum 1 heißen? Titel um Titel wurde vorgeschlagen und wieder verworfen. Da fiel mein Blick zufällig auf die Lokalseite einer Tageszeitung 2.600 DM für einen Blindenhund stand da als Überschrift. Sei es aus Überdruß am Titelsuchen, sei es aus Jux, ich begann nachzurechnen, wie viele Blindenhunde man für das Geld, das das eine Jahr Aktionsraum 1 gekostet hatte, hätte kaufen können, und kam auf eine verblüffende Zahl: fast ebenso viele Blindenhunde wie Künstler im Aktionsraum 1 aufgetreten waren! Zur Buchmesse 1971 war die Dokumentation fertig. Wir hatten sie geschrieben, selber gesetzt (auf eigenem Composer: drei von uns hatten einen Satzlehrgang besucht) und selbst gedruckt (auf einer nagelneuen Heidelberger Druckmaschine 46×64, zwei von uns waren auf einem Drucklehrgang gewesen). Nur binden ließen wir außerhalb. Unser erstes, großes, eigenes Produkt. Von Null bis (fast) fertig im eigenen Haus … Auf der Buchmesse hatten wir das Glück, in die winzige Koje eines Verlages für Literatur zur Homosexualität, der plötzlich abgesagt hatte, einziehen zu können. Wir hatten ein Faltplakat als Prospekt gedruckt. Die Vorderseite zeigte das vergrößerte Titelfoto des Buchs: der Körper eines nackten Mannes, Brust und Gesicht gegen eine Wand gepreßt, die Beine von Schnüren auseinandergerissen. Über den kahlrasierten Schädel rinnt Blut in einer dünnen Linie aus einer Schnittwunde. Der Wiener Aktionskünstler Günter Brus mitten in seiner Aktion Zerreißprobe. Darunter in dunkelroten Großbuchstaben »Aktionsraum 1«. Die Plakat- oder Prospektvorderseite wurde von vielen mißverstanden. Erst wenn die meist männlichen Besucher, die ja einen anderen Verlag dort vermutet hatten, den Super-8-Film sahen, wurde ihnen klar, daß sie sich geirrt hatten. Ausschnitte aus Günter Brus’ Körperaktion Zerreißprobe liefen dort. Verschreckt, verstört, entsetzt gingen viele von ihnen schnell weiter, ohne nach dem Buch zu greifen oder sich zu erkundigen. Andere allerdings, die bis dahin, wie sie sagten, noch nichts von Aktionskunst gehört oder gesehen hatten, fragten nach, verwickelten uns in Gespräche. Ich habe das Plakat dabei, ich werde es in Hamburg zeigen. Die Rückseite ersparte uns oft lange Erklärungen. Dort war über den Aktionsraum 1 zu lesen:

»Ein Jahr Aktionsraum 1 kostet 150.000 DM – ein Blindenhund kostet 2.600 DM.
Dieses Buch ist kein Pracht-Kunstband, sondern ein offener Bericht.
Dieses Buch werden uns manche verübeln.
Mit diesem Buch wird die Kunstdiskussion härter.
Was hat Kunst heute mit Gesellschaft zu tun?
Wir wollten es genau wissen.
Ein Jahr lang gab es in München den Aktionsraum 1.
Der Aktionsraum 1 stand Künstlern für Experimente offen.
Das Publikum konnte aktiv werden.
Die Polizei war dabei.
50 Aktionen fanden statt.
Internationale Künstler gaben Anregungen.
Was kam dabei heraus?
Protokolle, Akten, Fotos, Analysen geben Ihnen Einblick…
Dieses Buch zieht das Fazit -
für uns: Wir werden keine Kunst mehr machen.
für Sie …?«

Wenn ich das heute lese … Jeder Satz ein Schlag. So war es gedacht. Damals. Ich weiß noch, ein harter Schlag ins Kunst-Kontor sollte das Buch sein, ein Schlag in den Magen des Kunstbetriebs, dachten wir. Es ist kein Volltreffer, kein Schlag in den Magen geworden, aber, wie ich immer noch finde, ein aufschlußreicher Erfahrungsbericht, das Dokument einer bewegten Zeit, eine klare Bilanz.

EINE HITLISTE von 1 – 10 (nur ein Spiel), will ich, ehe ich das Buch aufschlage, ohne langes Überlegen aufstellen, eine ganz persönliche Bestenliste der Künstler und Aktionen im Aktionsraum 1:

1. Brus
2. Penone
3, Nirsch
4. Höke
5. Dibbets
6. Brot
7. Gerz
8. Fabro/Boetti
9. Pläne und Projekte
10. Rinke/Brown

Aus dem Kopf heraus, ohne langes Überlegen: Stichworte, Namen.

ZERREISSPROBE von Günter Brus. Nie und nirgendwo habe ich ein Publikum so angespannt, still, bewegungslos, ja erstarrt, starr erlebt wie in den 25 Minuten dieser Aktion. »Eine Aktion kann man nicht beschreiben«; trotzdem, mein Protokoll, damals, unmittelbar nach der Aktion geschrieben:

»Material: Leintuch, Schnüre, Schere, Rasierklinge, Trinkglas, Zeichendreieck, Backformen, Ledergürtel. Aktion: Zerreißprobe. Datum: 19. Juni 1970. Beginn: 20 Uhr. Brus kniet, bekleidet nur mit Slip und Damenstrümpfen, auf einem weißen Tuch. Er legt ein durchsichtiges Plastikdreieck auf seinen Schenkel und schneidet an einer Kante entlang mit einer Rasierklinge ins Fleisch. Brus klappt das Dreieck zum Knie und wartet, bis das Blut am Dreieck hinunterläuft. Blitzschnelles Wälzen am Boden. Brus hakt zwei Schnüre neben der Wunde in den Strumpf und klafft ihn auseinander. Dann steht er auf und sagt mir ruhiger Stimme: >Kann mir jemand ein Glas hergeben?< Brus uriniert in das Glas. Der Urin ist grün. Und trinkt es aus. Er schneidet mit einer Schere Strümpfe und Slip auf. Brus steht nackt mit dem Rücken zu den Leuten vor der Wand. Rutscht angespannt an der Wand herunter, bis er kniet. Er schneidet sich mit einer Rasierklinge in den kahlen Schädel und wartet, bis aus dem Schnitt das Blut bis zum Gesäß läuft. Er bindet Schnüre um seine Knöchel und zieht mit den Schnüren die Beine auseinander. Dabei rutscht er an der Wand zu Boden. Er sagt mit ruhiger Stimme: >Ich hätt noch gern ein Glas! < Er schreit: >Nein! Nein!< Blitzschnelles Wälzen am Boden. Er steigt mit den Füßen in kleine rechteckige Wannen (Backformen) voll Wasser, rutscht aus, steigt in die nächsten. Mit ruhiger Stimme sagt er: >Kann man nicht das Fenster schließen?< Wartet aber keine Reaktion ab, sondern wirft sich zu Boden, peitscht mit einem Riemen (Ledergürtel) den Boden, schlägt ins Wasser, schreit, wälzt sich bis zur Erschöpfung, wölbt den Bauch, berührt den Boden nur mit Kopf und Füßen. Verharrt so. Geht dann durch die Zuschauer zur Toilette. Ende der Aktion. Dauer etwa 25 Minuten.«

Was hier nicht beschrieben ist, was ich aber höre, während ich mein Protokoll von damals lese, das ist das Keuchen, das heftige, stoßweise Atmen, das sind die Röchellaute des Aktionskünstlers, das Geräusch, das sein nackter Körper beim Aufschlagen auf den Steinboden der Fabrikhalle macht, das Klacken der Backformen, als Brus darin, damit zu gehen versucht und vor allem das ständige, ununterbrochene blecherne Rattern, Schnarren des Motors der nicht schallgedämpften 16mm Arriflexkamera, mit der die Aktion aufgezeichnet wird und das der ganzen Aktion einen seltsamen akustischen Zusammenhalt gibt … Nicht zu beschreiben ist, was Brus in der Einladung zu seiner Aktion so andeutet: »Es sollen schockartige Impulse ausgestrahlt werden, die den Zuschauer zunächst irritieren werden, sich aber später in eine wohltuende Konfliktlösung verwandeln.« Wer bei dieser Aktion dabei war, wer diese Aktion miterlebt hat, weiß, daß ich nicht übertreibe, wenn ich sage: Sie war wie ein Stich, ein Schuß, keine Distanzierung möglich, eine Erschütterung bis ins Mark, ein Urerlebnis, die Bilder eingebrannt.

Ach ja, der Ärztin, die wir bestellt hatten, daß sie Günter Brus sofort nach der Aktion behandeln, also verbinden sollte, wird es übel. Deshalb machen wir es. Brus ist für die Aktion Zerreißprobe aus Berlin gekommen. Dort lebt er (1970) »im Exil«, weil ihm in Österreich Gefängnis droht wegen »öffentlicher Beschmutzung staatlicher Symbole«, Nach der Aktion wartet draußen schon ein Auto, das ihn in eine Privatwohnung bringt. Denn es besteht immer noch ein Auslieferungsantrag. »Das ist meine letzte Körperaktion«, hat Günter Brus mir damals gesagt. Danach könne ja nur noch der »Herzschnitt« kommen.

Daß und wie aus dem Aktionskünstler Günter Brus seitdem ein »Bildschriftsteller« geworden ist, der heute in seinen Ateliers in Graz und auf Gomera arbeitet, Theaterstücke ausstattet, Romane schreibt und seine zeichnerischen Bilddichtungen macht, ist aus der Titelgeschichte eines großen deutschen Kunstmagazins zu erfahren gewesen. Dort ist auch zu lesen, daß die große Ausstellung im Pariser Centre Pompidou, die dem zeichnerischen Gesamtwerk von Brus gewidmet war, von Österreichs Bundeskanzler Franz Vranitzky und dem österreichischen Kunstminister Rudolf Scholten besucht worden ist.

DER PENONE-BAUM war, was mir als erstes in den Sinn kam, der Baum, ja, dieser Penone-Baum, sagte eine Frau bei der Tonbandbefragung über das Aktionsraum-1-Jahr. Die Frau sagte nicht Penone-Objekt, Skulptur, Plastik, auch nicht, der bearbeitete Holzbalken von Penone, sie sagt der Penone-Baum. Wie bei keiner anderen Aktion im Aktionsraum 1 wuchs über die Tage der Aktion aus dem ungläubigen Staunen die Erkenntnis, einmal, daß Penone wahr machte, was er in dem Informationsblatt zu seiner Aktion angekündigt hatte: »Ich werde eine Aktion ausführen, die 15 – 20 Tage dauert. Ich werde einen Holzbalken in die Zeit zurückbringen, in der er ein Baum war, und zwar in eine Zeit des Baumes, die ich an Ort und Stelle festsetze. Jeden Tag werde ich 2 — 4 Stunden daran arbeiten auf einem Raum von ungefähr 12×4 Meter. An dem Tag, an dem der Baum wieder jung geworden ist, werde ich abreisen. Natürlich werde ich den Baum nach Italien zurückbringen, aber wenn ihn jemand kaufen will, kostet er 1.000 Dollar.« Zum anderen, daß »etwas in den Dingen steckt«, man muß es nur suchen und herausfinden …

Mit Penone kam die Arte povera in den Aktionsraum 1, nach München, nach Deutschland. Eine Kunstrichtung, in der aus sogenannten armen, alltäglichen Materialien Kunst entstehen sollte. Eine Kunstrichtung, damals noch fast unbekannt hier, heute in der ganzen Welt ein Begriff.

Giuseppe Penone, aus einer Bauernfamilie in Piemont, greift in Wachstums- und Verfallsprozesse der Natur ein, macht so sichtbar, was es mit Werden und Vergehen, mit Zeit und Veränderung auf sich hat. Für mich war es eine neue Welt, über die Penone damals mit mir sprach, eine mir unbekannte Welt, die der Bauern, und wie er damit künstlerisch umging. Die Geschichte vom Acker seines Großvaters zum Beispiel, »in den die Mühe und Arbeit von Generationen hineingesteckt worden ist, und die Energie dieser Mühe und Arbeit ist in diesem Acker«. Oder wie Penone »die Vögel lesen lehrte«, indem er Buchstaben aus Brot backen ließ, die er dann auf dem Hausdach auslegte… Oder wie ihn der Bach kennenlernte, indem Penone die gegossene Hohlform seines Körpers in das Bachbett einlegte und der Bach diese Hohlform mit der Zeit mit Treibsand ausfüllte …

War die Zerreißprobe von Günter Brus ein Schlag, ein Stich, eine schockartige Erschütterung für den Zuschauer, so war Penones Baum-Aktion ein ruhiger, beschaulicher Erkenntnisprozeß über einen Zeitraum von 10 Tagen, eine Erfahrung, die sich ebenso tief festsetzte wie Brus’ Aktion. Giuseppe Penone war zur Zeit seiner Arbeit im Aktionsraum 1 gerade 23 Jahre alt. Heute, mit 47 Jahren, hat er Weltgeltung und stellt in den großen Kunsthallen aus. Mit 44 Jahren hatte er eine große Retrospektive in Rivoli bei Turin. Die Feuilletons berichteten in vielspaltigen Artikeln darüber. Ich war stolz (»wir waren die ersten«), bis ich las: »Liegende, stehende, teilweise bearbeitete Vierkantbalken, aus denen stachelige Holzspitzen ragen, beherrschen den ersten Raum. Für Penone bedeutet das, einen Wald zu rekonstruieren. Die Holzschichten wurden auf der oberen Hälfte der Stämme bis auf einen bestimmten Jahresring abgetragen. Der nun sichtbare Querschnitt der Jahresringe liefert Erkenntnisse über das Alter des Baumes und seinen Wachstumsrhythmus. Der Baum als Skelett, sein Leben liegt offen …« Aus dem einen »Baum der Erkenntnis« im Aktionsraum 1 war nach 20 Jahren also ein Wald in einer Kunsthalle geworden … Daß damals das Moderna Museet in Stockholm Penones Baum für 1.000 Dollar gekauft hatte, war uns eher wie ein Scherz erschienen – der Transport nach Stockholm auf einem Speziallader war erheblich teurer gewesen -, aber daß der Kunstmarkt so schnell auf die »arme Kunst« reagieren würde, damit hatte keiner von uns gerechnet. Vielleicht deshalb mein Unbehagen bei der Inflation vom Penone-Baum zum Kunsthallen-Wald …

ÖFFENTLCH KONTROLLIERTER FREIRAUM: Noch jetzt, nach so vielen Jahren, kocht die Wut hoch, wenn ich daran denke, wie damals die Avantgarde-Kunst in München »gefördert« worden ist … Am 27. Februar 1970 gegen 19.30 Uhr riegeln Polizisten das Gelände um den Aktionsraum 1 ab, Publikum wird nicht durchgelassen. Die öffentliche Veranstaltung des 7. Abreaktionsspiels von Hermann Nitsch ist verboten. Aus dem Ablehnungsbescheid der Landeshauptstadt München, betreff:

»Vollzug des Landesstraf- und Verordnungsgesetzes; >Aktion Hermann Nitsch< im Aktionsraum 1: … Der in der Ausnahmevorschrift des §1 Nr. 1 VergnAusnV verwendete Begriff >Theateraufführung< ist nach allgemeinen Auslegungsregeln eng auszulegen. Sogen. >Happenings<, bei welchen nach der Absicht des Veranstalters das Publikum nicht auf die Rolle des Zuschauers beschränkt bleibt, sondern in erheblichem Umfang selbst am Spielgeschehen mitwirken soll, fallen nicht mehr unter den Begriff der >Aufführung<. Unter >Aufführung< versteht man das Agieren >vor<, nicht >mit< dem Publikum. Von dieser Vorstellung geht jedenfalls der Verordnungsgeber aus, der auch in anderen Ausnahmetatbeständen die Befreiung von der Erlaubnispflicht davon abhängig macht, daß sich das Publikum – abgesehen von Beifallskundgebungen – im wesentlichen einer aktiven Mitwirkung am Spielgeschehen enthält (vgl. §.1 Nr.3, 5 und 7 VergnAusnV, die jeweils voraussetzen, daß bei den betreffenden Veranstaltungen nicht getanzt wird). Liegt aber schon keine Theateraufführung vor, so bedarf es keiner weiteren Überlegungen mehr darüber, ob ein höheres Interesse der Kunst gegeben ist. Die vom Antragsteller zu dieser Frage vorgelegten gutachtlichen Äußerungen sind daher für die Entscheidung ohne Bedeutung.«

Nach stundenlangen Verhandlungen und Überlegungen sagen wir um 22 Uhr die öffentliche Aufführung des 7. Abreaktionsspiels ab. Nitsch:

»Wir wissen, daß die Polizei die Veranstaltung auf jeden Fall abbricht, es kann sich um drei oder vier Minuten handeln, die wir durchziehen, dann wird die Aktion abgebrochen. Meine ganze Sache ist ein Gebäude, das mindestens eineinhalb bis zwei Stunden benötigt, und kann nur unter bestimmten Voraussetzungen sich entwickeln. Ich hab zuerst mit Schillerschem Heldentum spekuliert und wollte die Aktion trotzdem machen, und hätte auch sicher viele Anwesende auf meiner Seite, und ich sage ihnen ehrlich, mein Anwalt hat mir die Folgen dieses Unterfangens geschildert, und ich bin Österreicher, bin als Österreicher mehrfach vorbestraft und habe hier eine Aufenthaltsgenehmigung nur deshalb, weil ich mit einer Deutschen verheiratet bin. Hätte ich versucht, die Veranstaltung durchzuziehen, hätten die das sofort abgebrochen, ich wäre in einen anderen Rechtsstatus gekommen, und die Ausweisung wäre in naher Sicht gewesen.«

Daß das 7. Abreaktionsspiel als geschlossene Veranstaltung am nächsten Morgen vor Fernsehkameras und einem kleinen Kreis Publikum stattfand, änderte nichts daran, daß wir einen unbändigen Zorn auf die Stadt hatten, deren Ämter uns immer wieder Steine in den Weg legten und unsere Arbeit zu behindern oder verhindern suchten. Mit wie vielen Ämtern wir es zu tun hatten und wie viele Ämter sich um uns, um den Aktionsraum 1 kümmerten! Das Amt für öffentliche Ordnung, Abteilung Spiel, Tanz, Sperrstunde und die Verkehrsabteilung (Parkplätze), die Sprengstoffabteilung, das Stadtsteueramt (Vergnügungssteuer), das Zollamt, das Gewerbeamt, die Branddirektion, die Lokalbaukommission, die Post (weigert sich, »Aktionsraum 1« in das Telefonbuch aufzunehmen), bei Straßenaktionen die Verkehrsabteilung des AföO, die Abteilung für öffentliche Veranstaltungen und die bayerische Schlösser-und-Seen-Verwaltung. Nicht um den Aktionsraum 1 kümmern sich: das Kulturreferat der Stadt München oder irgendeine andere offizielle Kulturinstitution. Eine Woche nach der verbotenen Nitsch-Aktion sind vier Herren im Aktionsraum 1, um den Raum nach den neuesten Bestimmungen für Versammlungsräume zu überprüfen (»Es wird Jahre dauern, bis wir alle Lokale in München abgenommen haben, irgendwo muß man mal anfangen«). Ein Herr vom AföO erkundigt sich bei den Herren von der Branddirektion und der Lokalbaukommission eingehend, ob nicht doch irgendwelche Mängel vorhanden seien, ob 220 Personen nicht zuviel Publikum sei. Aber Türen, die nach außen aufgehen, sind reichlich vorhanden, die Notbeleuchtung und das Paniklicht funktionieren, Feuerlöscher und Löschdecke sind vorhanden. Die Raumdecke ist aus nichtbrennbarem Beton, ein WC für Frauen und ein WC für Männer ist vorhanden. Nur der Herr vom Gewerbeamt kann etwas beanstanden: In den WCs hängen Gemeinschaftshandtücher, und die Strohhalme für Cola sind nicht auffindbar … Von Anfang an melden wir alle Aktionen beim Amt für öffentliche Ordnung an. Von Fall zu Fall wird entschieden, ob eine Genehmigung erteilt wird. Bei Bernhard Höke stört das Wort »Mündungsfeuer« in der Einladungsinformation (11 Ordnungsauflagen), bei Paul und Limpe Fuchs (Musiker), daß sie sich vielleicht entkleiden (6 Auflagen), bei der Aktion Unberaten das Wort »Schlachten«; bei Brus (5 Auflagen) dürfen Jugendliche unter 18 Jahren nicht zugelassen werden und es dürfen natürlich keine Darbietungen gezeigt werden, die den Gesetzen oder guten Sitten zuwiderlaufen. Bei dem Arte-povera-Künstler Luciano Fabro (3 Auflagen) wird verfügt, daß bei den auftretenden Personen die Schamgegend und das Gesäß bedeckt sein müssen. Die Einhaltung der Auflagen wird jeweils von zwei Beamten in Zivil vom AföO kontrolliert. Wir diskutieren oft mit den Beamten. Sie haben von Kunst keine Ahnung, aber ein gesundes Volksempfinden (»Anschließend muß ich ein Lokal kontrollieren, wo Lesbische verkehren«). Die Polizei hat freien Zutritt: »Diensttuenden Beamten der Stadtverwaltung muß der Zutritt zu den Veranstaltungen jederzeit gestattet werden. Die Erteilung weiterer Auflagen bleibt vorbehalten.«

Im Scherz habe ich damals beim Verbot seines Abreaktionsspiels zu Nitsch gesagt, er werde noch zu den Ehren der Altäre erhoben werden und seine Aktionen in Kirchen machen können. Das ist längst kein Scherz mehr.

DIESER GERUCH VON FRISCHEM BROT! Eine ganze Nacht lang, das Brot wurde am Abend angeliefert, haben wir zu dritt den Aktionsraum 1 mit Brotscheiben ausgelegt. Fast 10.000 Brotscheiben waren es am Ende. Dieser betäubende Geruch von frischem Brot! Als wir morgens ins Freie taumelten, folgte uns dieser Geruch. Ich hatte ihn tagelang in der Nase, alles schmeckte nach ihm. Wir hatten eine Aktionsanweisung des Künstlers K.F. Günther befolgt, zum Erntedankfest 1970, gleichzeitig Oktoberfestzeit – und der Aktionsraum war nicht weit von der Wiesn entfernt -, die Halle mit Brot auszulegen. Diese Aktion überschnitt sich noch kurioserweise mit der gleichzeitigen Sammlung »Brot für die Welt« in München. Zur Aktion schrieb K.F. Günther an Josef Ertl, damals Landwirtschaftsminister, einen offenen Brief:

»bez. auslegung von 150 qm brotscheiben im aktionsraum 1
betr. lebensmittelüberschüsse
sehr geehrter herr minister, ich entnehme den heften 48/69 und 14/70 des Spiegel folgendes zitat (und alle im weiteren genannten daten): wenn sich die regierungschefs der sechs ewg-staaten … am 1. und 2. dezember (1969) treffen, thronen sie auf einem körnigen, fettigen, die ewg schier erstickenden gipfel, auf fünf millionen tonnen getreide – eine menge, die ausreicht, sämtliche autobahnen der bundesrepublik mit einer zehn zentimeter hohen schicht zu bedecken: 384.000 t magermilchpulver – das in säcken verpackt einen güterzug von 250 km länge (strecke aachen-frankfurt) füllen würde; 427.000 t butter – genug für 1,708 milliarden halbpfundpäckchen; 1,2 millionen t zucker, die zusammengepreßt einen würfel von 110 km kantenlänge ergäben. diese darstellung beeindruckte mich, als künstler stets auf der suche nach alltagsüberhöhungsgelegenheiten, unmittelbar in ihren anschaulichen vergleichen und gibt letzten anstoß zu diesem vorschlag: man verwende die in überproduktion anfallenden lebensmittel in kunstveranstaltungen.«

Über den provokanten Anstoß hinaus: Die in der Halle ausgelegten 10.000 Brotscheiben hatten auch einen hohen optisch-ästhetischen Reiz und eine ganz eigene taktile Qualität. Wer die Hemmschwelle überwunden hatte und auf dem Brotteppich ging, mußte zugeben, so etwas noch nie gespürt zu haben.

KUNST MIT KOKAIN: Was soll das hier, denke ich, als ich einen Zeitungsartikel vom September 1994 im Aktionsraum-Buch finde: In einem Kunstprojekt (»Station«) lagen in einer Galerie 500 g reines Kokain unter Panzerglas, bewacht von drei Polizeibeamten. Neben dem »Objekt« war ein Informationsstand der Polizei aufgebaut, wo vor den Folgen des Drogenkonsums gewarnt wurde. Ich hatte das ganze für einen gelungenen PR-Gag gehalten, bis ich las, was der Künstler damit im Sinn hatte: »Mir ging es bei dem Projekt um eine Kooperation mit der Polizei.« Deshalb setzte sich der Künstler »mit dem Pressesprecher des Polizeipräsidiums in Verbindung, der ihm dann bei der Realisierung seiner Installation eine große Hilfe war. Der Stoff mußte besorgt und eine Genehmigung vom Staatsanwalt eingeholt werden. Trotz der anfänglichen Probleme ist die Zusammenarbeit fruchtbar gewesen. Im Keller de … Galerie plaudern nun Polizisten und Besucher in trauter Eintracht über Kunst und die Welt.«

Eingelegt in das Aktionsraum-Buch war dieser Artikel, weil ziemlich genau 25 Jahre vorher Bernhard Höke in seinem Aktionsvortrag Drop out City über Drogen und Kunst gesprochen hatte. Und damit die ganze Tragweite Hökeschen Denkens und Handelns deutlich wird, soll hier die Passage über das »Joint-Bild« stehen:

»Eines meiner letzten Bilder war ein gerahmter Plexiglaskasten (alle äußeren Zeichen eines Kunstwerks) mit Marihuana-Joints (sog. Dreiblatt-Joints mit Papphülsenmundstück, in Trompetenform), welche zentralafrikanisches >Gras< (aus weiblichen Blüten der Hanfpflanze Cannabis sativa) mit etwas Tabak gemischt enthielten. Die Wandbox war mit der Aufschrift versehen >Bitte bedien’ dich und die Bilder stellen sich ein! < Der Preis des eingekauften Marihuana betrug 140 DM (es war erste Qualität und bei einem Grammpreis von 2,80 DM bei 50 g ein guter Preis). Zigarettenpapier 80 Pfennig, Karton 40 Pfennig, Rahmen antiquar 12 DM und Plexiglasbox 25 DM, also alles zusammen 178,20 DM. Leider kostete dieses Bild aber im Endverkauf 600 DM, wovon ich nach Abzug der 50 % Kunsthändlerrabatt 300 DM erhielt. Das Rauschgiftdezernat entfernte dieses Bild nicht aus der Ausstellung, weil es ein Kunstwerk war. Habe ich die Herren nun geäfft? Oder habe ich einen zu hohen Preis für das Kunstrauschgift verlangt? Ich neige immer mehr zu der Auffassung, daß ich ein zu teurer, dh. unredlicher Rauschgifthändler war, aber ein guter Künstler, weil der kunstsammelnde Rechtsanwalt dieses Bild wenige Wochen nach dem Kauf tatsächlich zerstörte, sich antörnte, und so der Inhalt des Bildes nur Ausgangsmaterial für eine Bilderwelt war, die sein Bewußtsein veränderte.«

NOCH KEIN WORT VERLOREN über Rinke oder Boetti oder Fabro oder die Pläne-und-Projekte-Ausstellung, als es aus dem Bordlautsprecher heißt, wir seien in Kürze in Hamburg. Nicht einmal die halbe Hitliste habe ich geschafft, schimpfe ich weiter und werfe das Aktionsraum-Buch zum Film in die Reisetasche. Auf dem Weg zum Kunstverein komme ich an langen Plakatwänden vorbei. »Plakatiert wird immer noch viel«, sage ich vor mich hin. Ein Mann dreht sich um: Ja, zum Kotzen sei das. Man wisse nicht mehr, wo hinschauen. Jede Ecke sei vollgeschmiert, verboten gehöre das! Und schon bin ich in unseren damaligen »wilden Plakatier-Nächten«: auf Bauzäunen und Häuserwänden, in Unterführungen und an Übergängen die Plakate so anzubringen, daß sie eine Chance hatten, nicht sofort abgerissen oder überklebt zu werden. München war damals ein Eldorado für das nächtliche wilde Plakatieren. Es gab Bauzäune, wo man hinschaute: durch U-Bahnbau und Olympiadevorbereitung. Einmal, ich werde es nie vergessen, waren wir in der Kaufingerstraße, nachts gegen drei, ich hielt Pinsel und Leimeimer, der andere die Plakate, rasten drei Polizeiautos auf uns zu, umstellten uns, die Polizisten sprangen heraus, ihre Pistolen auf uns gerichtet. Ich weiß, ich hatte wirklich Watteknie und einen leeren Kopf vor Angst. »Stehenbleiben! Nicht bewegen!«, und ich hielt Leimeimer und Pinsel krampfhaft fest, wußte nicht, ob ich Pinsel und Eimer über den Kopf halten sollte: »Hände hoch!« Ganz in der Nähe begann die Glocke einer Alarmanlage zu schrillen. Sofort stürzten die Polizisten zu einem Juwelierladen, wo ein Sturzbetrunkener immer wieder gegen die Auslagenscheibe fiel. Der Betrunkene wurde in ein Polizeiauto gestoßen. Zwei Polizisten kamen auf uns zu: »Und Sie, Sie beide bekommen eine Anzeigen wegen wild Plakatierens.«

PLÄNE UND PROJEKTE ALS KUNST: »Wissen Sie noch, wie Sie die Ausstellung, ich war damals Assistent von Harald Szeemann, wie Sie diese Ausstellung fotokopiert in Bern abgeholt haben? Eine ganze Ausstellung als Fotokopie. Das hatte es bis dahin noch nicht gegeben.« Zdenek Felix lacht. Er ist vorbeigekommen, um kurz guten Tag zu sagen. Muß gleich wieder weg, als Direktor der Hamburger Kunsthalle hat man Verpflichtungen. Ich erinnere mich, wie wir damals eine Nacht lang am Schweizer Zoll festgehalten wurden, weil die Beamten zwar die Rollen mit den Fotokopien der Ausstellung Pläne und Projekte nicht für zollpflichtig hielten, aber die Kataloge: aufgemacht wie Zeitungen (»Das ist doch weder ein Kunstkatalog noch eine Zeitung«), und der Experte »für sowas« kam erst am nächsten Tag … Die fotokopierte Ausstellung, im Aktionsraum an Stahlseilen aufgehängt, hatte, auch der intensiven, kostenaufwendigen Öffentlichkeitsarbeit wegen, einen relativ großen Erfolg beim Publikum und in der Presse. Vor allem aber ist der Aktionsraum 1 damit überregional bekannt geworden.

AKTIONSRAUM 1: Weshalb die 1 hinter dem Namen steht, versuche ich nach der Vorführung des Films dem jungen, vorwiegend studentischen Publikum zu erklären. Daß es nicht bei einem Aktionsraum hatte bleiben sollen, sondern der Münchner Aktionsraum von uns als Vorreiter und Modell gedacht war für Aktionsräume in Amsterdam, wo die Kabouters, die Hausbesetzer, im Stadtparlament saßen, in London, wo in den Docks eine Künstlergruppe arbeitete, in Köln, wo bereits das Kombinat 1 existierte, in Paris, wo die Gruppe Agentzia aktiv war, in Berlin, Mailand, Tokio, Melbourne – Aktionsräume in der ganzen Welt. Und die Aktionskünstler im Austausch. Nicht das verwertbare Produkt, Kunst als Handelsware, sondern der Vorgang sollte unterstützt, gefördert, bezahlt werden. Wie die Seiltänzer auch nicht vom Verkauf ihres Seils, ihrer Balancestange und Schuhe leben, sondern vom Vorgang, von ihrer Aktion. Und ich erzähle vom Schwung der bewegten Zeit damals in den Endsechzigern, von der Bewegung, die alle Lebensbereiche durchschüttelte. und daß der Aktionsraum 1 sich als Teil dieses Umbruchs gefühlt hatte, daß es damals Veränderungs- und Auflösungstendenzen in allen Kunstsparten gab, ob in Theater, Musik, Film oder bildender Kunst, daß es viele Querverbindungen und befruchtende Aggressionen gab und daß der wirkliche Drang da war, die »Kunst ins Leben zu überführen«, nicht Kunst im öffentlichen Raum zu machen, sondern den öffentlichen Raum zum Kunstraum.

NACH 25 JAHREN sich so in Begeisterung zu reden! Die Zeit verklärt, denke ich, und während der Zug Tempo aufnimmt, lasse ich den Abend im Kunstverein noch einmal Revue passieren: die aufgeschlossenen jungen Leute, die fast andächtig zuhörten, dann die Einladung in eine kleine Ladengalerie in Altona, in der drei junge Künstler wohnen und arbeiten, und die Radikalität, mit der in ihren Aktionen Kunst und Alltag ineinander übergehen … Und ich frage mich, ob wir damals nicht genug Geduld hatten, zu schnell aufgegeben haben; waren unsere Erwartungen zu groß, unser Anspruch zu hoch, wir zu arrogant? »Kassel« lese ich auf dem Streckenplan des Zugbegleiters, und mir fällt ein, wie Harald Szeemann einen Abend lang am Küchentisch unserer Wohn- und Arbeitsgemeinschaft saß, um uns zur Dokumenta V einzuladen, dort das Projekt Aktionsraum 1 (»Für uns gescheitert« — »Dann eben als gescheitertes Projekt«) vorzustellen. Und wir großspurig und bestimmt sagten: Kunst sei für uns vorbei, aus, erledigt, tot. Ein Glück, daß der Film Aktionsraum 1 oder 57 Blindenhunde täglich auf der Dokumenta V lief, denke ich; morgen werde ich wieder im Schneideraum sein, Vorlauf, Rücklauf — Schnitt.


Merkur. Deutsche Zeitschrift für europäisches Denken 553 Heft 4 vom April 1995, 297 ff.

Überraschung

Jahr: 1969
Bereich: Kunst/Kultur