Flusslandschaft 1968

Alternative Szene

Das Märzprogramm des Club Voltaire in Schwabing bietet an: „Zur Problematik der Notstands-
gesetze“, Vortrag mit Diskussion mit Lothar Schubert (SDS München), „Theorie der Subkultur“, Vortrag von Dr. Dr. Dr. Rolf Schwendter (Wien), „Über das Widerstandsrecht“, Vortrag von Klaus Friedrich (Club Voltaire), „Bericht über Eindrücke in griechischen Gefängnissen“ von Barbara Haug, „Die Hammersinger aus Berlin mit ihrem Kabarett „Volkskörperpflege“. – Der Vorsitzende der Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft (GEW), Wolfgang Graf, wirbt öffentlich um Ver-
ständnis für die aufmüpfige Jugend.1

Dr. Hans Kilian hält am 29. März bei den Jungsozialisten einen Vortrag „SPD zwischen Dutschke und Lübke — Kulturrevolution im Westen“ in der Gaststätte Engelsburg in der Maxvorstadt.

Die Linke trifft sich im Club Leviné in der Knorrstraße 29 in Milbertshofen.

Die Szene trifft sich auch im Trikont-Café in der Schellingstraße 16 in der Maxvorstadt gleich hinter der Universität. Der zentrale APO-Treff2 wird auch „Trikontladen“ genannt und ist 12 qm groß, so dass schon wenige Menschen ihn überfüllt erscheinen lassen. Rechts an der Wand hängt über dem Brett, auf dem die Tassen und Gläser abgestellt werden, ein großes Porträt von Lenin, um ihn herum gruppiert viele Zeitungsausschnitte und Bilder. Acht Fotos zeigen Polizeibeamte. Ein Zettel daneben weist auf sie mit einem Pfeil und der Schrift „Popo‘s“ hin. Sie sind Angehörige der Politischen Polizei. Unter ihnen befindet sich auch ein Mitarbeiter des us-amerikanischen Auslandsgeheimdienstes CIC. Die Überschrift eines Zettels lautet „Wichtige Kennzeichen“. Darun-
ter stehen die KfZ-Kennzeichen unter anderem von Autos des Polizeipräsidiums München. Auf der Café-Maschine ist deutlich „Make love, not war“ zu lesen. Am 16. Februar 1968 betritt ein Polizei-
aufgebot den linken Treff und beschlagnahmt die Programmentwürfe einer neu zu gründenden KPD auf den Seiten 11 – 16 von 46 Exemplaren der Deutschen Volkszeitung vom 16. Februar. – Der CIC bedeutet den deutschen Behörden, sie mögen sich doch bei ihren Ermittlungen zurückhalten. Er habe das Ganze im Blick und im Griff. Schließlich kommt es zu einer eleganten Lösung des Pro-
blems. Der Hausbesitzer plant schon seit 31. März die Beendigung des Mietverhältnisses und kün-
digt Aschenbrenner. Bücher und Zeitschriften zu verkaufen verstoße gegen den Vertrag. Schließlich sei nebenan ein kleiner Zeitschriftenkiosk, dem man nicht Konkurrenz machen dürfe. Aschenbren-
ner pocht vergeblich auf die mündliche Absprache. Am 31. Oktober schließt der Trikont-Laden, das noch übrig gebliebene Inventar wird versteigert. Fritz Teufel und Reinhard Wetter leiten die Aukti-
on für Alois Aschenbrenner. Die allerletzten Exemplare werden in einer „Bücherverbrennung“ den Flammen übergeben, die Polizei sieht zu. Demonstranten protestieren vor dem Lokal. Aschenbren-
ner und Rainer Jendis suchen nach neuen Räumen für das Café.

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Rolf Schwendter lädt zur 1. Sitzung der Projektgruppe „Subkultur“ am 6. Mai in den Club Voltaire in Schwabing.

Im Mai bilden sich um Helge Sommerrock und Thomas Schmitz-Bender die Arbeiter-Basisgrup-
pen
(ABG). Offiziell am 5. Juni gegründet verstehen sie sich als Teil der außerparlamentarischen Opposition und werden zur Vorläuferorganisation des Arbeiterbundes für den Wiederaufbau der KPD.

Am 21. Juni kommt es zu so genannten Gammler-Krawallen in Schwabing; eine Hundertschaft der Bayerischen Bereitschaftspolizei wird eingesetzt.

Erst ist es Alfred Meier, 8 München 27, Trogerstraße 40, der einen Republikanischen Club (RC) eröffnen will. Dann ist es soweit. Vlado Kristl, Martin Sperr, Heinar Kipphardt, Laurens Straub, Fritz Teufel, der Mitte Juli von Berlin nach München umgezogen ist, und andere gründen in der Max-Emanuel-Brauerei in der Adalbertstraße 33 in der Maxvorstadt am 23. Juli den RC mit fröhlichem Klamauk, der einigen ernst gestimmten Organisatoren Kopfzerbrechen macht.4 „Repu-
blikanischer Club: Die durch Auseinandersetzungen mit Münchner Kommune-Mitgliedern recht stürmisch verlaufende Gründung schreitet weiter voran. Interessenten wenden sich an: Inge Hein-
richs, 8 München 13, Adelheidstraße 12.“5 Über dem Eingang zum RC in Bogenhausen ist zu lesen, „wer malt, vögelt nicht“ und daneben steht: „malen = 6ualverdrängung“. Wenn der RC „fast immer von dem gleichen winzigen Kreis gutmütig aufeinander eingespielter Disputanten frequentiert wird, so hängt das damit zusammen, dass ein erschwingliches Lokal nur im Osten der Stadt gefun-
den und somit die Distanz zwischen dem Club und den unsteten Protestmenschen Schwabings zu groß wurde. Oft kommen Grüppchen des schicken linken Establishments in ihrem Maxi-, Mini- oder Lederlook mal über die Isar herüber, hören zehn Minuten in die Gedankenwelt der Stammlin-
ken, lesen noch mal gelangweilt die säuischen Wandkritzeleien längst entschwundener Anarchis-
ten (‘Spucken erlaubt’ — ‘Vögeln macht frei!’ — ‘Mucky is high’). Dann gegen sie auf Zehenspitzen, enttäuscht: ‘Wieder nichts los!’ …“6

Auf dem Olympiaturm wird am 13. Oktober das „Komitee zur Verhinderung der Olympischen Spiele in München“ gegründet. Es heißt: „Wir lassen es nicht zu, dass man Leistungsfanatiker und Sportidioten pauschal als die Jugend der Welt bezeichnet“. Ein Poster, auf dem Fritz Teufel in langen Unterhosen und mit Unterhemd, auf das die olympischen Ringe dekorativ gestickt sind, zeigt, geht weg wie warme Semmeln.

Auf einer Diskussionsveranstaltung der Humanistischen Union (HU) über die „Sexwelle“ meint Soziologe Dr. Horst Holzer am 2. Dezember: „Das freie Liebesleben, die Sexualität, wird von den Herrschenden dazu benutzt, die Masse der Menschen von den eigentlichen Problemen abzulenken und ihre eigene Macht zu festigen … Die gegenwärtige Sexwelle ist eine von der Profitgesellschaft gelenkte Bewegung … Die Herrschaft kann damit den Trieb beeinflussen und das Ich des Men-
schen ausschalten.“

Das andere Kino in der Westendstraße 123, von Helmut Rings und Hannes Fuchs am 1. Oktober im ehemaligen Eden-Kino eröffnet, stellt am 4. Dezember sein Dezember-Programm vor: Filme von Haaf, Hubmann, Kypri, Schroeter, Furtwängler, Schoon und anderen.

Es sieht so aus, als ob Protestbewegungen etwas bewirken. In der Szene heißt es: „Wir bringen die versteinerten Verhältnisse zum Tanzen.“ Da hat einer Marx gelesen: „Die Kritik, die sich mit die-
sem Inhalt befasst, ist die Kritik im HANDGEMENGE, und im Handgemenge handelt es sich nicht darum, ob der Gegner ein edler, ebenbürtiger, ein INTERESSANTER Gegner ist, es handelt sich darum, ihn zu TREFFEN. Es handelt sich darum, den Deutschen keinen Augenblick der Selbst-
täuschung und der Resignation zu gönnen. Man muss den wirklichen Druck noch drückender ma-
chen, indem man ihm das Bewusstsein des Drucks hinzufügt, die Schmach noch schmachvoller, in-
dem man sie publiziert. Man muss jede Sphäre der deutschen Gesellschaft als die PARTIE HON-
TEUSE (den Schandfleck) der deutschen Gesellschaft schildern, man muss diese versteinerten Verhältnisse dadurch zum Tanzen zwingen, dass man ihnen ihre eigne Melodie vorsingt! Man muss das Volk vor sich selbst ERSCHRECKEN lehren, um ihm COURAGE zu machen. Man erfüllt damit ein unabweisbares Bedürfnis des deutschen Volks, und die Bedürfnisse der Völker sind in eigner Person die letzten Gründe ihrer Befriedigung.“8

Jahrzehnte später werden Bücher geschrieben, Filme gedreht, Interviews gemacht, alles über „68“. Ein Mythos wird den Moden folgend in den Medien verwurstet, einige Versuche, sich diesem Jahr oder diesen Jahren ernsthaft zu nähern, werden publiziert7 und münden 1999 in eine erste größere Ausstellung.9 Dabei taucht immer wieder die Frage auf, ob, und wenn, warum die „Achtundsechzi-
ger“ in München und Bayern anders waren, was zuweilen absurde Theorien nährt.10

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Briefverschlusswapperl, gedruckt bei Herbert Hösl in der Feilitzschstraße 7 im Hinterhof in Schwabing

(zuletzt geändert am 24.6.2020)


1 Siehe Grafs „Studentenkrawalle — Schülerkrawalle“.

2 „Das Trikont-Café war die Kommandozentrale, die Aktionszentrale. Da wurde ständig beraten. Da gab’s Bücher und Kaf-
fee, Suhrkamp und MaoTsetung-Plakate und die rote Bibel gab’s noch dort … Der unkundige Zeitgenosse wird sich das Hauptquartier der Revolution sicherlich ein wenig anders vorstellen – ein bißchen untergründiger, bedrohlich, voller Ge-
heimdienst-Atmosphäre. Doch er irrt: Die Zentrale der Münchner Studentenunruhen ist tatsächlich in einem jedermann zugänglichen Café von drei mal drei Metern untergebracht. Hier planen sie, dichtgedrängt, auf welches Einsatzzeichen hin man bei der Rektoratsfeier Seifenblasen und Konfetti von der Empore ablassen könnte… Die Strafbefehle und Anklagen schmerzen ihre Empfänger nicht. Sie werden im Gegenteil als behördenoffizielle Bestätigung für den aktiven Provokateur-
dienst begriffen.“ Cristian Ude: „Die Ballade vom revolutionären Café“ in: Süddeutsche Zeitung vom 16./17. März 1968.

3 Flugblattsammlung, Archiv der Münchner Arbeiterbewegung

4 Vgl. Marco Carini, Fritz Teufel. Wenn’s der Wahrheitsfindung dient, Hamburg 2003, 126 f.

5 tendenzen. Zeitschrift für engagierte Kunst 52 vom August/September 1968, Rückseite.

6 Der Spiegel 52 vom 23. Dezember 1968, 72.

7 Siehe „Zum 30. Geburtstag der Studentenbewegung“.

8 Karl Marx, Zur Kritik der Hegelschen Rechtsphilosophie. Einleitung, MEW Bd. I, Berlin (DDR) 1976, 381.

9 Staatliche Archive Bayerns. Kleine Ausstellungen Nr. 12. Protest oder „Störung“? Studenten und Staatsmacht in München um 1968. Eine Ausstellung des Staatsarchivs München. Konzeption und Bearbeitung: Gerhard Fürmetz, München 1999.

10 Siehe „Was links war“.

11 Archiv 451 im Archiv der Münchner Arbeiterbewegung