Flusslandschaft 1968

Kommunismus

Die Münchner Pschorr-Brauerei lehnte es am 17. März ab, eine Lenin-Gedenktafel am Haus der Siegfriedstraße 14 in Schwabing, in dem Lenin ein Jahr wohnte, anbringen zu lassen. Es heißt: „Solange die Mauer existiert, halten wir die Anbringung der Tafel für verfrüht.“ Die Brauerei be-
zieht jedoch ohne Probleme Bierdeckel aus „volkseigenen Betrieben“. — Lenin erhält am Haus in der Kaiserstraße 46 in Schwabing am 29. April eine Gedenktafel. Bei der Enthüllung sind der sowjetische Botschafter in der Bundesrepublik Semjon Zarapkin und Mitglieder des Moskauer Bolschoi-Theaters sowie die Volkssängerin Ludmilla Sykina anwesend.

4. Mai: Hat der DDR-Korrespondent Schäfer den Landfrieden gebrochen? Am 8. Mai wird der Staatsanwalt in der causa Schäfer aktiv. Am 19. Juli wird das Verfahren gegen den Journalisten eingestellt.1

Im Hackerkeller an der Theresienhöhe 4 findet am 9. Mai eine Großveranstaltung zum 150. Geburtstag von Karl Marx unter dem Motto „Hat uns Karl Marx heute etwas zu sagen?“ statt. Eingeladen haben Karl-Marx-Gesellschaft e.V., Deutscher Freidenker Verband, SDS, Sozialisti-
scher Arbeitskreis, HSU, Vereinigung Unabhängiger Sozialisten, „Aktionskomitee Münchner Kommunisten zur Wiederzulassung der KPD“. Am 10. Mai kommt es zu einem Teach-in im Auditorium Maximum der Universität zum Thema „Marx in der Uni“ (SDS, HSU, Institut für Gesellschaftswissenschaften, Berlin).

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Vom 13. bis 19. Mai finden Veranstaltungen zum 150. Geburtstag von Karl Marx im Alten Hacker-
haus
statt. Marx wird wieder diskussionswürdig.

Das Sozialstaatsprinzip im Grundgesetz sei Staatszielbestimmung, nicht Verfassungsauftrag, so der konservative Staatsrechtler Ernst Forsthoff. Da die Sozialordnung nicht in die Verfassung eingehen könne, treten Verfassung und Verfassungswirklichkeit auseinander. Diese sei geprägt von einer Verdichtung der Interdependenzen von Staat und Wirtschaft, die ein durchrationalisiertes System produziere, das einmal infolge seiner Kompliziertheit nicht nennenswert verändert werden darf und daher nur von Sachverständigen verwaltet werden könne und das zweitens als Preis für die Leistungen auf dem Gebiet der Daseinsvorsorge die bedingungslose Anpassung des Staatsbürgers fordere. Forsthoff schreibt in seiner Abhandlung „Verfassung und Verfassungswirklichkeit der Bundesrepublik Deutschland“ (1968): „Wenn das, was der Staat leistet, von solchen, welche die Adaption verweigern oder welche diese Leistungen als selbstverständlich hinnehmen, nicht aner-
kannt wird, ist die Auseinandersetzung zu Ende. Der Staat ist auch nicht in der Lage, solchen prin-
zipiellen Gegnern Konzessionen zu machen, da das sozialstaatliche System mit allen seinen Impli-
kationen nicht nennenswert verändert werden kann. Die Opposition … steht vor der Alternative, sich außerhalb der Wirklichkeit zu formulieren und damit utopisch zu werden oder sich in der poli-
tischen Realität in der Weise zu verorten, daß sie sich in eine der Weltbürgerkriegsfronten – Mos-
kau, Peking, Kuba – eingliedert.“3 Wer also nicht mitspielt, hat zwei Möglichkeiten: Er bleibt nicht ernstzunehmender Utopist oder gehört in der Weltbürgerkriegsfront zum Feind, der den staatli-
chen Eliten das Monopol des Politischen streitig macht. Der ist folgerichtig zu neutralisieren wenn nicht zu eliminieren.

In einer Sponti-Wohngemeinschaft in der Georgenstraße steht auf der Toilette: „Kommunismus ist, wenn jeder von allem genug hat.“


1 Vgl. Süddeutsche Zeitung 111/1968 und Münchner Merkur 173/1968.

2 tendenzen. Zeitschrift für engagierte Kunst 53 vom September 1968, Rückseite.

3 Ernst Forsthoff, Rechtsstaat im Wandel. Verfassungsrechtliche Abhandlungen 1954 – 1973, München 1976, 30.