Materialien 1999
Glückliche Entfesselung eines Riesen
Neulich wurde ich in der den Münchner Kammerspielen vorgelagerten Künstlerkneipe »Kulisse« Zeuge einer Spontanlesung. Ein etwas verwitterter Genie-Typ-Dichter beeindruckte die Gäste mit einer Kurzgeschichte, die sich in meinem Gedächtnis festhakte wie Tucholskys frühes »Märchen«, in dem vom Kaiser in einem reichen schönen Land berichtet wird. Er besitzt eine Flöte, in der ist die »ganze moderne Richtung«. Tucholsky fragt: »Was machte der Kaiser damit?« Antwort: »Er pfiff drauf« — Daran musste ich denken, als ich in der »Kulisse« die kleine Story hörte:
Im Lauf der Zeit wuchs der Stolberer uns allen ins Hirn, denn im Herzen hatte er längst Platz genommen. Wir waren überzeugt, ihm geschah Unrecht. Er hatte lange genug gebüßt. Seine Augen verloren den Glanz der mühsam gebändigten Schärfe und lernten den sympathischen Blick. Nichts Drohendes lag unter seinen Brauen. Tatsache, wir vertrauten ihm. Mochten ihn. Behandelten ihn als Bruder. Als der Oberwachmann ihm die Handfessel abnahm, hatten wir sie ihm längst, ein jeder von uns, abgenommen in Gedanken, denn der Zweck der Strafe ist Resozialisierung. Er war resozialisiert und blond wie germanischer Zucker.
Als er seine schmerzenden Handgelenke massierte, blickten wir schuldbewusst zu Boden. Er versuchte sich in leichter Gymnastik, wobei ihm der rechte Arm ausgestreckt versteifte.
Heil! rief er aus und lachte. Der Oberwachmann, der Römische Geschichte studiert hatte, erklärte uns, der Gruß war im antiken Rom als Ehrerbietung gebräuchlich. Wir verstanden es. Auch als der Befreite sich etwas ungeschickt drehte, wobei der ausgesteifte Arm mit der Hand gegen die Wand schlug, dass der Putz bröckelte und die Mauersteine bröselten. Wenn einer so lange in Ketten lag, sind seine ersten Bewegungen natürlich etwas ungeschickt, sagten wir uns mit erschauernder Humanität.
Der Oberwachmann löste ihm die Fußfessel. Der Riese bedankte sich artig mit einem Tritt, dem einige weitere folgten. Zuckungen einer beleidigten Seele.
Er wird seine Bewegungen schon noch koordinieren lernen, erläuterte der Oberwachmann. Freie Menschen brauchen Übung im Alltag.
Das waren seine letzten Worte. Der Entfesselte biss ihm die Kehle durch und begann sie stückweise schmatzend zu verspeisen. Dazu grunzte er glücklich.
Ich dachte: Wenn einer in so langer Strafzeit sich schon fromm und fröhlich resozialisiert hat, sollte es ihm auch an Esskultur nicht mangeln.
Also reichte ich dem Hungrigen Messer und Gabel. Denn nichts geht über unsere guten europäischen Sitten. »Ich bin der Stolberer!« beschied er mich, »und Sie — sind Sie auch der Meinung wie die Lümmel von den Medien, dass ich für unser Land gefährlich werden könne?«
»Nein!« beteuerte ich, nur ein ganz klein wenig zitternd. Kaum der Rede wert.
Wenn ich jetzt verkünde, unser gnädiger Herr Stolberer ist ein wahrer Glücksfall für unseren Staat, so wird gewiss jeder begreifen, er hat mich zu seinem Pressereferenten bestellt.
Hier endete der Dichter. Ich spendierte ihm ein Bier, wir tranken einander zu, und ich fragte, ob er wirklich Pressereferent vom Stolberer sei. Er bestätigte das. Ich bestellte noch zwei Bier und fragte, weshalb er seinen Arbeitgeber so schlecht mache.
»Schlecht?« staunte der bayerische Poet, »wie käme ich dazu, den Herrn Stolberer schlecht zu machen — wo er doch so große Klasse ist?«
Gerhard Zwerenz
Ossietzky. Zweiwochenschrift für Politik/Kultur/Wirtschaft 5 vom 13. März 1999, 148 f.