Materialien 1957

An unsere neuen Leser!

… Nein, der SIMPLICISSIMUS wird nicht untergehen, das wissen wir nun!

Nein, auch hundert Umfragen amtlicher Meinungsforscher werden den deutschen Menschen in Stadt und Land niemals solche leidenschaftlichen Bekenntnisse entlocken, wie sie in diesen Wochen in Tausenden von Briefen dem SIMPLICISSIMUS dargebracht worden sind.

Eine unbändige Sehnsucht nach Freiheit und Wahrheit geht durch das Land. Haben wir hier
ein Tor einen kleinen Spalt breit aufgestemmt?

Ihr Oberen, ihr Minister, ihr Parteihäuptlinge und ihr Kirchenfürsten, sehet euch vor,
deutet die Zeichen dieser Zeit, ehe euch das Tor eingetreten wird.

Brot und Fleisch, Schuhwerk und Kleider, Tisch und Bett, Wohnungen und Reisen, nötige
und unnötige Güter hat das Volk in diesen zwölf Jahren nachholen können. Gewiß, ihr habt das Volk gespeist und habt es getränkt, aber das Volk ist noch nicht satt. Ihr scheltet es undankbar, unmäßig und wackelt entrüstet mit den Köpfen.

Und der Güter höchstes, ihr Mächtigen in Ämtern und Kirchen? Wie, vermeint ihr einen
hinterhältigen, schmutzigen Handel bei uns angebracht zu haben? Wolltet ihr euch mit jenen Gütern unsere Freiheit eingehandelt haben, damit sie allein euer sei, uns aber nur Gewissenszwang, Unduldsamkeit und Verfolgung bleibe?

Die Zeit ist reif! Aus jenem Torspalt klingt eine ferne Melodie, die gewaltig an unser aller Herzen rührt, und da und dort im Lande sammeln sich die ersten Häuflein der Aufrechten und der Sehnsüchtigen. Ihr lügt, ihr verschlissenen Meinungskrämer, wenn ihr sagt, jene wollten die anderen zwölf Jahre wieder heraufführen. Was tot ist, bleibt tot, und jene Partei ist zu Recht untergegangen, weil ihre Oberen nicht Vorbild waren, weil sie dem Volk nicht vorlebten, was sie vom Volk verlangten.

Und das ist die unbändige Sehnsucht dieses Volks: Es will wieder glauben, es will in Freiheit glauben dürfen! Der Krieg ist der Vater aller Dinge, aber er ist auch der Vater aller Verschwendung. Auch jener letzte hat wiederum Kraft und Zeit, Gut und Leben, am meisten aber Glauben gefordert und verschwendet.

Die erschütterndste Ruine,in diesem Deutschland ist die Ruine des Glaubens, allen Glaubens. Da steht sie mit toten Augen, bar aller Tröstung. In ihren Fensterhöhlen hausen die Galgenvögel, die Ratten und alles Ungeziefer dieser üblen Zeit – ein düsteres Totenmal inmitten eurer neuen Pracht.

Ihr habt Städte, Industrien und Kirchen wiederaufgebaut, großartig habt ihr das gemacht. Aus den zerbrochenen Ziegeln habt ihr neue Ziegel gepreßt, wiederum großartig! Aber die Glaubensbereitschaft des deutschen Menschen habt ihr verhungern und vor die Hunde gehen lassen. Ach, ihr habt das Glauben noch nachträglich verfolgt, geahndet und geächtet. Was wollt ihr noch von uns?

Da predigt ihr nun in leeren Kirchen, da steht ihr in euren Parteizentralen vor mageren
Mitgliedskartotheken, da schreit ihr nach dem Idealismus dieser Jugend, nach Glauben also, nach echter Beamtentreue und nach jenen Stillen, die auch ohne Lohn bereit wären, für den Staat zu werken und zu wirken.

Ja, Pustekuchen, ihr Guten, in Wahrheit folgt euch niemand nach. Nein, niemand! Ihr seid da, das Volk ist da, aber nichts verbindet euch mit ihm, nichts als leere Worte und verblasenes Geschwätz. Ein prächtiger Staat, Quader auf Quader getürmt, aber ohne Kitt und Mörtel dazwischen!

Ach, wäret,ihr mit der Wahrheit doch ebenso schnell bei der Hand wie mit euren abgefeimten Lügen! Dann würdet ihr von euren Kanzeln allein das Wort Gottes verkünden und nichts anderes, dann würdet ihr nicht hüben und drüben gleichzeitig Präsidenten salben und wiederum hüben und drüben nicht gleichzeitig die Waffen segnen.

Die Zeit? Nein, eure Zeit ist aus den Fugen!

Olaf Iversen


Simplicissimus 34 vom 24. August 1957, 531.

Überraschung

Jahr: 1957
Bereich: Religion