Flusslandschaft 1959

Nazis

„Wie kann es passieren, dass Massenmörder wie Eisele, Koch, Schubert usw. auf Kosten der Steuerzahler ein gutes Leben führen oder ins Ausland entweichen können? Doch nur, weil unverbesserliche Nazis wieder in Spitzenpositionen vertreten sind. Wenn einige verblendete Bürger immer noch glauben, dass das Hitler-Regime aus sozialer Gesinnung heraus dem deut-
schen Volke durch seine Taten helfen wollte, denen sei es ans Herz gelegt, die Geschichte des Dritten Reiches zu studieren. — V. Schwagereit, München“1

„21./22. März: Zu einem Kongress der Union der europäischen Widerstandskämpfer kommen in München sechzig Delegierte aus elf Ländern zusammen. Die Demokratie werde in zahlreichen Ländern der Welt, erklärt der Sekretär der deutschen Sektion, Oberst Müller, nicht durch den Kommunismus, sondern durch ‚Feinde von rechts’ bedroht. Die Zentren des internationalen Fa-
schismus befänden sich inzwischen in den Vereinigten Staaten, Schweden und Dänemark. Nazisti-
sche Untergrundorganisationen gebe es nicht nur in Europa. sondern auch in Texas. Dort führten radikale Elemente einen erneuten ‚Kampf für die Rasse’. Die stärksten Untergrundorganisationen der ehemaligen SS, führt er weiter aus, bestünden nicht in der Bundesrepublik, sondern in Öster-
reich. Zu nennen sei hier insbesondere die Kameradschaft Edelweiß, die ihren Sitz in Wien habe. Die Hilfsgemeinschaft auf Gegenseitigkeit der Soldaten der ehemaligen Waffen-SS (HIAG) mit ihren zwanzigtausend Angehörigen sei nicht wirklich radikal, sondern befasse sich im wesentlichen mit Unterstützungsaufgaben. Die HIAG-Leute würden von Angehörigen konkurrierender Vereini-
gungen oftmals als Verräter betrachtet. Zur Situation in der Bundesrepublik erklärt Müller: ‚Es
gibt keinen offenen Neonazismus und Antisemitismus in Westdeutschland. Wir haben es nur mit Untergrundbewegungen zu tun. Sie zu entlarven, ist Pflicht der Widerstandskämpfer.’ In offenem Gegensatz zur Einschätzung des Generalsekretärs der Union, des Belgiers Hubert Halin, erklärt der Vorsitzende des Wiedergutmachungsausschusses im Bundestag, der SPD-Abgeordnete Alfred Frenzel: ‚In der Bundesrepublik gibt es nicht mehr faschistische Erscheinungen als in anderen Ländern. Die geltenden Gesetze reichen aus, um nazistischen Erscheinungen entgegenzutreten.’ Ein völlig anderes Bild liefert der Publizist Rudolf Pechel. ‚Die neuerlichen Schändungen von Friedhöfen,’ beklagt er, ‚wären nicht möglich gewesen, wenn nicht ehemalige Nazis nahezu unge-
hindert in Westdeutschland schalten und walten könnten. In Bonn, in der Rechtspflege … und an anderen maßgebenden Stellen sitzen unbelehrbare Nationalsozialisten.’ Der Deutsche Jugendring habe festgestellt, dass es in der Bundesrepublik zwanzig Jugendorganisationen mit rechtsradikalen Tendenzen gebe. Pechel fordert die Teilnehmer auf, alles zu tun, um eine Wiederholung der Ereig-
nisse von 1933 bis 1945 zu verhindern. – Nach Abschluss des Kongresses fahren die Delegierten nach Dachau, um sich auf dem Gelände des ehemaligen Konzentrationslagers zu einer Gedenk-
stunde zu versammeln.“3

„Dichterehrung – Sie hat einen Preis bekommen, einen Literaturpreis, der ihr bare 5.000 DM ein-
gebracht hat. Sie bekam ihn von der Bayerischen Akademie der Schönen Künste. Ausgerechnet sie, die Schriftstellerin Agnes Miegel, die es sich zu Zeiten des ‚Tausendjährigen Reiches’ nicht nehmen ließ, dem Gründer eben jenes Reiches gefühlvolle Lobeshymnen zu widmen. Zu einer Zeit, als Hit-
ler die Elite der deutschen Schriftsteller, als er Thomas und Heinrich Mann, Walter Mehring und wie sie alle heißen, bereits ins Exil gejagt hatte, als Ossietzky und Ernst Wichert im Konzentra-
tionslager waren, als Erich Mühsam ermordet wurde und als sich Stephan Zweig, Ernst Toller und Kurt Tucholsky im Exil das Leben nahmen, in dieser Zeit des Grauens schrieb Agnes Miegel zum Beispiel: ‚Lass in deine Hand, / Führer, uns vor aller Welt bekennen, / Du und wir, nie mehr zu trennen, / Stehen ein für unser deutsches Land!’ 13 Oberschulen in der Bundesrepublik tragen heute den Namen ‚Agnes Miegel’. Den Kindern an 13 Schulen gilt also eine Schriftstellerin als Vor-
bild, die es fertig brachte, Adolf Hitler in unerträglicher Weise zu verherrlichen — den Mann, der für die widerwärtigsten Verbrechen der deutschen Geschichte verantwortlich ist. Bleibt zu hoffen, dass diese Namensgebungen aus Unkenntnis erfolgten und dass die 13 bundesdeutschen Schulen schnellstens umbenannt werden. cs“4

Rudolf Höß, Kommandant des KZ Auschwitz, wurde als Kriegsverbrecher 1947 zum Tode verurteilt und hingerichtet. 1958 erschien, hg. von Martin Broszat, in Stuttgart „Kommandant in Auschwitz." Autobiographische Aufzeichnungen von Rudolf Höss, Band 5 der Reihe „Quellen und Darstellun-
gen zur Zeitgeschichte". Die Meinung, lasst uns doch endlich mit eurem Nazikram in Ruh, ist weit verbreitet. Andere aber lesen interessiert auf der Suche nach Entschuldung.5

Siehe auch „Internationales“.


1 Metall 1 vom 14. Januar 1959, 15.

2 Vgl. Manfred Jenke, Verschwörung von Rechts? Ein Bericht über den Rechtsradikalismus in Deutschland nach 1945, Berlin 1961, 382 ff.

3 Wolfgang Kraushaar, Die Protest-Chronik 1949 — 1959. Eine illustrierte Geschichte von Bewegung, Widerstand und Utopie. 4 Bde., Hamburg 1996, 2139 f.

4 Metall 13 vom 1. Juli 1959, 5.

5 Siehe „Blick nicht zurück im Zorn“ von Paul Anders.

Überraschung

Jahr: 1959
Bereich: Nazis