Materialien 1969

Aus dem Tagebuch von Gerd Conrad

Nach einem Besuch seiner Freundin schreibt er:

Wir hätten in dieser verdammten Besuchszelle eine Aktion machen sollen und nicht so tun, als ob wir uns wirklich besuchen. Wir haben uns einwickeln lassen, ich hatte so viel Zeit, das zu überlegen! … Gesellschaftliche Alibifunktion hat diese Besuchszeit. Welche Konsequenzen können wir aus diesen Erfahrungen ziehen?

Dienstag, 25. Februar 1969

7.00 Uhr Wecken, 7 Uhr 30 Frühstück, 2 Brote, Kaffee, Zelle reinigen. 9 Uhr 30 Hofgang. Post von Lena. Aufsichtsbeamter kann einige Bemerkungen über Aufkleber – internationale Demonstration gegen faschistischen Terror – nicht unterdrücken. Es macht sich bei den Beamten eine immer stärkere Antipathie gegen unsere Bewegung bemerkbar, die zurückzuführen ist auf deren totale Ergebenheit den Autoritäten gegenüber, vielfach auch sehr subjektive Frustrationen.

Speziell im Gefängnis zeigt sich der Klassencharakter unserer Gesellschaft: die schon Ausgebeuteten sind auch hier wieder die, die von der Gesellschaft vernachlässigt werden und ihren formaldemokratischen Spielregeln ausgesetzt sind. Kein Anwalt, Wohnverhältnisse sind offener, da oft in keinem festen Arbeitsverhältnis stehend, da keine gute Ausbildung, kein Geld für Kaution oder Anwalt.

11.30 Uhr Mittagessen, Kartoffeln, Boulette, Suppe (Graupen)

In den Gerichtsberichten wird abschließend immer gemeldet, der Verurteilte wird mit … Jahren bestraft – was das bedeutet, welche gesellschaftliche Strafe das ist, darüber habe ich in keiner Zeitung bisher gelesen …

Wie die Gefängnisse geführt werden, beweist, dass kein Interesse an der Beseitigung des Elends und damit der Kriminalität vorhanden ist, sondern die Kriminellen als Alibi dienen, um den bestehenden Machtapparat zu stärken …

Mittwoch, 26. Februar 1969

… Der Gefangene ist einem individuellen Terror ausgesetzt. Den Scheindemokraten der Justiz, der Gefängnishierarchie ausgeliefert, wird der Gefangene nach dem höchsten Maß der menschlichen Verbrechen behandelt.

Einzelzelle – kein Kontakt – oder nur kontrollierter Kontakt – keine systematischen Kommunikationsmöglichkeiten, einem auf Anpassung und totaler Unterdrückung aufbauenden Verwaltungs-, Beobachtungs- und Bestimmungssystem ausgeliefert. Der Gefangene soll verängstigt und hoffnungsvoll sich dem Justiz- und Vollzugsapparat anpassen.

Der politische Täter, als Krimineller behandelt, soll verunsichert und isoliert – durch die Macht der Hierarchie einer Gefängnisanstalt – sich in seiner Existenz gefährdet sehen. Der Student, der wie der Arbeiter Abhängiger des Kapitalismus bleiben soll, wird hier mit der stärksten psychischen Macht, mit dem System konfrontiert, das ihn in einem scheinliberalen Spielraum schon auf der Universität ausbeutet und ihn auf seine Rolle als klassenbewußter Akademiker vorbereiten will …

In einem Land wie Deutschland, das stolz sein kann, keine Tradition im Widerstand und der Opposition zu haben, wird der Student selbst im Gefängnis einer erhöhten Repression ausgesetzt sein …

Der Gefangene wird sich sofort seiner isolierten Position bewußt … Man kann nicht mehr gehen, wohin man will; Essen, Schlafen, – die Organisation des gesamten Lebens ist geplant und wird von anderen bestimmt. Die Bestimmungen sind aber so, dass rechtlich der Eindruck entsteht, dem Gefangenen werden die Grundsätze des menschlichen Lebens gegeben …

In der U-Haftanstalt Stadelheim sitzen die, die in dieser Gesellschaft rechtlos sind, die keinen Anwalt bezahlen können, die aus dem Ausland kommen, die keine Familie haben, die keinen Beruf haben, die psychisch und körperlich krank sind – es sind die, die sich der Ausbeutung bisher widersetzt haben, ohne sich zu organisieren, weil sie hilflose, unbewußte »Anarchisten« sind. Jeder junge politische Gefangene, dessen Moral und Bewußtsein nicht gefestigt ist, wird durch den bewußt gesteuerten psychischen Druck, dem er im Strafvollzug ausgesetzt ist (in der Zelle in den Kübel scheißen, in Handschellen zum U-Haftrichter, Trockenbrot und Kaffeewasser, keine festgelegten Informationen der Aufseher, die subjektiven Probleme der Mitgefangenen, Protesthaltung der Aufseher) nicht ausweichen können und an seinem Handeln zweifeln.

Der Gefangene hat die Möglichkeit, sich Bücher zu bestellen. Die Bibliothek ist so beschissen, dass man das Papier nicht zum Arschabwischen nehmen kann. Er kann eine Zeitung bestellen und sich zweimal im Monat für insgesamt 60 Mark zusätzliche Nahrungsmittel? Rauchwaren, Schreibzeug, Toilettenartikel etc. kaufen. Er kann in allen ihn betreffenden Fragen verlangen, mit einem höheren Beamten zu sprechen; er kann sich über Nachlässigkeiten beim Anstaltsleiter beschweren, er kann mit einem Geistlichen sprechen … aufgrund von Krankheiten eine bessere Essensklasse verlangen (Kostzulage B: ¼l Milch, etwas Butter, Koststufe I oder II sind wesentlich besser …) Er muss alle diese Möglichkeiten nutzen, um sich im Gelände bewegen zu können, um in den Wartezimmern viel Kontakt zu den anderen Gefangenen zu bekommen, um dem Vollzugsapparat unermüdlich klarzumachen, warum er gefangen gehalten wird …


Reinhard Wetter/Frank Böckelmann, Knastreport. Mit Beiträgen von Holger Trülzsch und Günter Maschke, Frankfurt am Main 1972, 150 ff.

Überraschung

Jahr: 1969
Bereich: Militanz