Flusslandschaft 1969

Bürgerrechte

Obwohl im Bundesdurchschnitt die Anzahl der Schwer- und Schwerstverbrechen seit Jahren ab-
nimmt, nimmt in den Massenmedien der Anteil der Nachrichten über Mord und Totschlag zu. Die öffentliche Meinung scheint vor allem nach Ruhe und Ordnung, nach mehr Sicherheit zu rufen. Die Sozialdemokratie bangt um Wahlerfolge, will das Feld der Sicherheitspolitik nicht der CDU/
CSU überlassen und plant seit Ende 1968 die „Vorbeugehaft“ einzuführen, eine Haft, die ein Rich-
ter aufgrund von Verdacht (der vorangegangenen Straftat) und Vorausschau (er wird es wieder tun!) bis zur rechtskräftigen Verurteilung eines vorgeblichen Straftäters anordnen kann. Dabei bleibt doch eigentlich zentrales Prinzip von Rechtsstaatlichkeit „Keine Strafe ohne Schuld“. Denn Vorbeugehaft ist vorweggenommene Strafe. Die Vereinigung der Verfolgten des Naziregimes (VVN) protestiert 1969 mit Infoständen gegen den Gesetzentwurf über die Vorbeugehaft.1 – März: „Unterschriftensammlung gegen Vorbeugehaft – Die Demokratische Aktion und die Humanisti-
sche Union
zogen gestern auf einer gemeinsamen Pressekonferenz in München eine Zwischenbi-
lanz ihrer Unterschriftensammlung gegen die geplante Vorbeugehaft. Innerhalb kürzester Zeit haben sich mehr als 300 ‚Repräsentanten des öffentlichen Lebens’ der Aktion angeschlossen. Unter ihnen die Professoren Ossip Flechtheim, Helmut Gollwitzer, Hartmut von Hentig, Walter Jens, der ehemalige evangelische Kirchenpräsident Martin Niemöller, der Rechtsanwalt Dr. Josef Augstein und der Oberlandesgerichtspräsident i.R. Dr Schmid.“2

„Humanistische Union (HU) – Geschäftsführer: Rainer Haun; Sitz: München. Die HU ist eine Gründung des Schriftstellers Dr. Gerhard Szczesny. Er war seit der Gründung 1962 bis Oktober 1968 Vorsitzender und vertrat in seinem 1962 gegründeten und 1968 liquidierten Verlag die In-
teressen der HU. Zum Jahresbeginn 1969 trat Dr. Szczesny in die Dienste des Rowohlt Verlages. Die HU hat nach allgemeinen Angaben 6.000 Mitglieder in 32 Ortsverbänden. Dem Vorsitzenden stehen ein Vorstand sowie ein Beirat zur Seite. Im Gründungsaufruf zur HU hieß es, sie sei eine Sammlung jener Kräfte, die sich gegen jene wenden, die angeblich ‚aus Christentum eine partei-
politische Doktrin machen’ und die ‚im Grundgesetz festgelegte Trennung von Staat und Kirche missachten’. Die HU beteiligte sich an den Aktionen gegen die Notstandsgesetze durch Flugblätter, Plakate, Pressekonferenzen, Memoranden, Petitionen und wissenschaftliche Gutachten. Publizi-
stisches Organ: ‚Vorgänge’, München.“3

5. November: Stadtrat Schmid spricht sich für ein begrenztes Demonstrationsverbot zum Beispiel bei Verkehrslahmlegung aus.4


1 Vgl. Die Zeit 5 vom 31. Januar 1969. Siehe „gegen vorbeugehaft“ und auch „erster mai“.

2 Mitteilungen der Humanistische Union 38 vom 28. März 1969, 2.

3 Politische Studien. Zweimonatsschrift für Zeitgeschichte und Politik 186 vom Juli/August 1969, 443.

4 Vgl. Süddeutsche Zeitung 266/1969.

Überraschung

Jahr: 1969
Bereich: Bürgerrechte