Materialien 1990
„Der halbe Lohn für die Miete“
München: Astronomische Preise verlangt
Wer sagt, in München könne man keine Wohnung finden? Alles Unsinn. Ein Blick in die „Süddeutsche Zeitung“ am Freitag – da erscheint wöchentlich der Mietwohnungs-Anzeigenmarkt – genügt: Es gibt durchaus Wohnungen zu mieten in der bayerischen Metropole. Man muss nur flink genug sein, früh beim Makler anrufen, schnell zusagen, und schon hat man sein Zuhause. Die Frage ist nur: zu welchem Preis?
Soeben kam der neue Münchner Mietspiegel heraus. Er nennt für den Münchner Wohnungsmarkt einen Durchschnittspreis von 16 Mark. Wie zu erwarten, stürzte sich der Haus- und Grundbesitzer-
verein sogleich mit bissigen Bemerkungen wegen angeblich unwissenschaftlicher Methoden und falschem Zahlenmaterial über das Mietkosten-Zahlenwerk des Rathauses. Recht hat er, dieser Verein. Der Münchner Mietspiegel 1990 ist falsch. Die Mieten in Deutschlands Stadt mit den teuersten Mieten sind nämlich noch viel höher. Der Mietspiegel erfasst „bestehende“ Mietver-
hältnisse. Die sind aber ganz uninteressant für den, der keines hat, sondern eines sucht. Der Wohnungssuchende muss sich nämlich den Angebotspreisen auf dem Vermietungsmarkt stellen.
Nur die zeigen, wo’s langgeht mit den Mieten. Machen wir also den Mietspiegel für Wohnungs-
suchende. Nehmen wir die „Süddeutsche“ und sehen in dem gängigen Sektor „zu vermieten 2- und 3-Zimmer-Wohnungen“ nach. Wir finden 141 Wohnungen. Durchschnitts-Quadratmeterpreis: 21,47 Mark.
Regierung beschuldigt
Der bayerische DGB-Chef Fritz Schösser warf Mitte Oktober der Bayerischen Staatsregierung vor, das Problem der großen Wohnungsnot, von der nicht nur München betroffen ist – in Bad Tölz beispielsweise sind die Mieten fast ebenso hoch –, nicht rechtzeitig erkannt und schon gar nicht angemessen reagiert zu haben. Nur um 0,5 Prozent sei seit 1980 der Wohnungsbestand in Bayern pro Jahr gewachsen. 100.000 Unterschriften hat der DGB Bayern bereits für seine Forderung gesammelt, in Bayern in einem Fünf-Jahres-Programm für zehn Milliarden Mark 100.000 Wohnungen zu bauen.
Abteilungen geschlossen
„Auch in Zukunft müssen wir uns München leisten können“, hieß das Motto einer Großdemo des Münchner DGB am 25. Oktober mitten auf dem Marienplatz. Zwei Tage vorher demonstrierten 1.000 Postbeamte und Postangestellte auf dem Münchner Sendlinger-Tor-Platz für eine Ballungs-
raum-Zulage von wenigstens 150 Mark. Auf einem Plakat stand: „Der halbe Lohn allein für Mieten – da muss die Post mehr bieten.“ Schon über 600 Münchner Postler haben 1990 wegen schlechter Bezahlung gekündigt.
Als Krankenschwester will hier kaum noch jemand arbeiten. Im Großklinikum Großhadern wurden ganze Abteilungen geschlossen. Polizisten werden seit geraumer Zeit in diese einstige Traumstadt zwangsversetzt. Münchens Oberbürgermeister Georg Kronawitter sieht „immer größere Schwierig-
keiten im Dienstleistungsbereich. Die Lücken bei Krankenschwestern und Krankenpflegern, bei Erzieherinnen, Post- und Bahnbeschäftigten, bei Polizei und Feuerwehr, bei den Sekretärinnen werden immer größer.“
Provision verlangt
Tine Nüninghoff (29) und ihre sechsjährige Tochter Laura zogen vor ein paar Monaten von Duisburg nach München. Die Frau hatte eine gute Assistenten-Stelle bei einem bekannten Arzt bekommen, der Aids-Kranke behandelt. Runde 2.000 Mark bekommt sie auf die Hand. Noch wohnt sie provisorisch mit der Tochter in einem kleinen Zimmerchen bei einem alten Freund im Stadtviertel Haidhausen – und sucht und sucht eine Wohnung. Um die Ecke, in der Haidhausener Kellerstraße, steht ein großer Neubau mit dem schicken Namen „Philharmonie“. Dort bot man ihr eine Wohnung mit 64 Quadratmetern an, und sie eilte zur Besichtigung. Da erst erfuhr sie den Mietpreis: 1.700 Mark kalt. Bei Einzug wären über 10.000 Mark für Provision und Kaution fällig gewesen. Tine Nüninghoff wird weitersuchen.
Kinder misshandelt
Möglicherweise wird ihr Arbeitgeber ihr einen Mietzuschlag geben. Vielleicht wird er auch eine kleine Wohnung kaufen und sie dann günstig an seine Mitarbeiterin vermieten.
Vermieter, die den Rachen nicht voll genug bekommen können, haben das längst als neue Marktlücke für noch höhere Mieten erkannt: Vor allem größere, finanzstarke Firmen sind bereit, Mieten weit über der Schmerzgrenze für ihre Mitarbeiter anzumieten und billiger an diese zu vermieten. So wird denn inseriert: „Firmen, aufgepasst! Sofort beziehbar. Mieten Sie für Ihre Mitarbeiter/in eine 3-Zi.-DG-Whg. mit 85,82 m2 Wfl. in Unterhaching zu einem Nettopreis von DM 2.000 inkl. TG + NK + 2 MM Kaution + 2 MM Prov., Mietdauer 3 Jahre.“
Außer der Verarmung und Abwanderung ganzer Bevölkerungsschichten drohen noch etliche weitere soziale Konflikte. Nur ein Beispiel: Kindesmisshandlungen verzweifelter Eltern steigen an. Helene Nemetschik, Leiterin der Deutschen Kinderschutzberatungsstelle in München: „Beengte Wohnverhältnisse und finanzielle Probleme führen zu übergroßen nervlichen Stress-Situationen. Sehr oft leben Familien in München mit ihrem Säugling in einer Ein-Zimmer-Wohnung, da drehen manche Leute irgendwann durch.“
In einem „Memorandum zur Wohnungsnot in München“ stellte die Arbeitsgemeinschaft der freien Wohlfahrtsverbände fest: „Das zentrale Problem, das eine wachsende Zahl Münchner Haushalte vom Durchschnitt der übrigen Haushalte in Deutschland unterscheidet, ist, dass das zur Verfügung stehende Nettoeinkommen in München und in der Region München nicht mehr ausreicht, um eine angemessene Wohnung und den sonstigen Lebensunterhalt daraus zu finanzieren.“
Folglich tobt auch der Parteienkampf um das Politproblem Mieten nirgendwo so stark wie in München. SPD-Bürgermeister Christian Ude: ,;Wer nicht sein Einkommen durch eine Karriere oder durch außerordentlichen wirtschaftlichen Erfolg erheblich steigern kann, rutscht allein wegen der wachsenden Mietbelastung wirtschaftlich immer mehr ab. Niemand kann mehr leugnen, dass dies das zentrale Problem der Münchner Bevölkerung ist. Auch kann niemand leugnen, dass dieser enorme Mietanstieg erst durch die Gesetzesänderungen des Jahres 1983 möglich geworden ist.“
Gesellschaft zerrissen
Oberbürgermeister Kronawitter ist verbittert darüber, dass die Bundesregierung die Forderung abgeschmettert hat, den Mietanstieg auf maximal 15 Prozent in drei Jahren zu begrenzen. Er sagt: „Es wird die Zeit kommen, wo selbst der soziale Friede gefährdet ist, weil sichtbar wird, dass unsere Stadtgesellschaft auseinandergerissen wird in zwei Hälften.“
Wer Löhne und Gehälter kennt und sich den Münchner Wohnungsmarkt anschaut, weiß: Die Zeit ist schon da.
Stefan Esser
Metall. Zeitung der Industriegewerkschaft Metall 22 vom 2. November 1990, 14 f.