Flusslandschaft 1992

Lebensart

„Schmiergelder im Siemens-Reißwolf — Im ersten Prozess gegen die Münchner ,Elektromafia’, die im Zusammenspiel mit einem städtischen Angestellten jahrelang öffentliche Großaufträge unter sich ausmauscheln konnte, geht es schwerpunktmäßig um den größten der Branche: die Weltfirma Siemens. Neun Führungskräfte aus München, Erlangen und Karlsruhe, die selbst anscheinend keinen unmittelbaren Vorteil von den Bakschisch-Zahlungen in Millionenhöhe hatten, sitzen seit dem 4. Februar 1992 vor dem Landgericht München I mit auf der Anklagebank. Die Anklage lautet auf ,Bestechung in Mittäterschaft’ und ,Untreue’. Denn offensichtlich ist die Staatsanwaltschaft bemüht, das Firmenschild ,Siemens’ rein zu halten. Das Gericht scheint jedoch mehr Licht ins Dunkel der Bakschisch-Bräuche im Hause Siemens bringen zu wollen: Als Zeuge geladen ist der Schweizer Bankier Zurlinden, der das für Auslandszahlungen von Siemens in Zürich installierte ,Sibag’-Konto verwaltet, über das ein Großteil der Bestechungsgelder abgewickelt wurde. Welchem Firmenethos sich die Führungskräfte verpflichtet fühlten, geht auch aus dem Umstand hervor, dass ein für ,kaufmännische Grundsatzfragen’ zuständiger Siemens-Jurist in Erlangen persönlich einen Teil der Akten im ,großen Reißwolf’ vor dem Zugriff der Staatsanwaltschaft beiseite schaffte. Was als Vergehen der versuchten Strafvereitelung angeklagt ist. Die hochkarätigen Strafverteidiger der Siemens-Führungsriege werden dem Vernehmen nach aus der Konzernkasse bezahlt.“1 Ein städtischer Angestellter wird zu sechs Jahren und neun Monaten verurteilt, die drei ranghöchsten Siemensianer zu Strafen zwischen 27 und 40 Monaten.

„Niemand hat behauptet, dass alle Siemensianer Unschuldslämmer sind. Gerade in den Vertriebsbereichen mag es immer wieder die Versuchung geben, einen Teil der für einen Auftrag in Aussicht stehenden Provisionen im voraus zum ,Nachhelfen’ beim Auftraggeber einzusetzen und dabei auch die Firmenkasse in Anspruch zu nehmen. Würde man diese Provision abschaffen oder stark reduzieren, wird man allerdings gute Vertriebsleute weder halten noch bekommen können. So ist das im Kapitalismus, nicht nur bei Siemens. Wo ist die bessere Alternative? Dr. Detlef Boesser, Betriebsratsmitglied bei Firma Siemens-Nixdorf, W-8000 München-Perlach“2

Inzwischen wird auch ein Oberamtsrat der Regierung von Oberbayern verhaftet. Er war mit Staatszuschüssen für private Krankenhausträger befasst und ist von fünf Elektrofirmen geschmiert worden. Bis jetzt sind etwa fünfzig Firmen bekannt, die sich Aufträge etwas kosten ließen. Es werden sicher noch mehr.

„Sumpfblüten: Hans R. (49), Chef eines größeren Münchner Elektrohandwerkbetriebes, und seine langjährige Geschäftsführerin müssen in den Knast, wenn das gegen sie ergangene Bestechungs-Urteil rechtskräftig wird. Als Mitglied der ‚Elektro-Mafia’ hatte die von den beiden geführte Firma mit Schmiergeldern einen Millionenauftrag beim Bau des Klärwerks München II ergattert. Der Unternehmer hatte im Prozess erzählt, dass nach der Auftragsvergabe auch Parteienvertreter mit kaum verhüllten Spendenwünschen an ihn herangetreten waren. Auf diese Weise will er 100 Abonnements des Bayernkuriers als ‚Bildungsmaterial’ finanziert haben. Er bekam 26 Monate, die Geschäftsführerin drei Jahre Freiheitsstrafe.“3

Die Staatsanwaltschaft hat bei fünfhundert öffentlichen Auftragsvergaben in den zurückliegenden fünf Jahren im Gesamtvolumen von einer halben Milliarde Mark festgestellt, dass in 80 Prozent der Aufträge Schmiergelder geflossen sind. Ein Münchner Handwerksmeister, der da nicht mitmachte, kam auf keinen grünen Zweig. Handwerksmeister, die nicht mitmachten, wurden als Deppen ausgelacht. Jetzt wird auch der Präsident des Bayerischen Handwerkstags, Vorstandsmitglied der Vereinigung der Arbeitgeberverbände in Bayern, Vorsitzende der Bayrischen Elektro-Innung, CSU-Mitglied und Senator Hans Zausinger, dessen Immunität Anfang Juni aufgehoben wird, festgenommen. Seine Firma hat bei vielen öffentlichen Großprojekten den Zuschlag erhalten, auch beim Bau des neuen Flughafens im Erdinger Moos. Siehe auch „Lebensart“ 1993. Vier Wochen später wandert der Innungsobermeister der oberbayrischen Elektriker und Geschäftsführer der Münchner Telefongesellschaft mbH, Horst Keitel, in Untersuchungshaft.

„Elektro-Sumpf: Zu drei Jahren Haft und einer Geldstrafe von einer Million Mark verurteilte jetzt das Landgericht München I den Elektrohändler Helmut Schmidt, Inhaber der Firma Elsid. Der Firmenchef war mit dem ehemaligen Siemens-Angestellten Joseph Krämer (‚Mister Drei Prozent’) Haupt-Organisator der kartell-ähnlichen Schmiergeld-Vereinigung gewesen, die sich über Jahre hinweg öffentliche Aufträge im Elektro-Bereich zugeschanzt hatte. Während die Firma Elsid mittlerweile von der Stadt München nicht mehr mit Aufträgen bedacht wird, ist Siemens nach wie vor dick im Geschäft. ‚Eine eklatante Ungleichbehandlung’, wie der Richter im Urteilsspruch feststellte.“4


1 Metall. Zeitung der Industriegewerkschaft Metall 3 vom 7. Februar 1992, 2; siehe „Vom Geist des Hauses Siemens“ von Hannelore Messow.

2 Metall. Zeitung der Industriegewerkschaft Metall 6 vom 20. März 1992, 2.

3 Metall. Zeitung der Industriegewerkschaft Metall 11 vom 1. Juni 1992, 20 (07).

4 Metall. Zeitung der Industriegewerkschaft Metall 22 vom 6. November 1992, 20 (07).

Überraschung

Jahr: 1992
Bereich: Lebensart