Flusslandschaft 1993
Lebensart
„Bestechungs-Bonus: Auf viel menschliches Verständnis und Milde stieß der wegen Bestechung angeklagte und in einem Fall auch für schuldig befundene Ex-Senator Hans Zausinger, einst Chef der bayerischen Elektro-Innung: Zehn Monate auf Bewährung und 750.000 Mark Geldbuße für Schmiergeldzahlungen beim Bau eines Krankenhauses hielt die Münchner Strafkammer für aus-
reichend, weil Zausinger sich wegen seiner zahlreichen Ehrenämter ‚nicht mehr viel um die Firma gekümmert’ habe. Strafmildernd für den 57jährigen Unternehmer wurde ferner berücksichtigt, dass Preisabsprachen zur Familientradition gehörten. Zausinger habe in dem Familienbetrieb ,nie ein korruptionsfreies Verhalten kennen gelernt’.“1 Siehe auch „Lebensart“ 1992.
„Das Leben in der Moderne ist unerträglich. Die einzelnen Menschen sind in abstrakte rechtliche Strukturen eingebunden, zum Arbeiten gezwungen, vom Geld abhängig und einander spinnefeind. Ständig müssen sie sich bewähren, besser sein als die Anderen, stets aufs Neue, ohne einen Punkt der Ruhe und Selbstverständlichkeit. Geld und Erfolg sind die Beweise ihrer Existenzberechtigung. Trotz dieses permanenten Kampfes ist ihre Grundbefindlichkeit die Langeweile. Keine noch so teu-
re Vergnügung der ,Erlebnisgesellschaft’ (Schulze) kann sie darüber hinwegfäuschen. Sie wissen ganz genau, dass ein erledigtes Erlebnis zum nächsten zwingt, wie eine erledigte Arbeit zur näch-
sten, und eine verdiente Mark zur nächsten … Jede Lebenstätigkeit, ob Arbeit oder Sex, wird den modernen Individuen zum Selbstzweck, wenn nicht zur Sucht. Ihre sozialen Strukturen sind ihnen als Totalität vorgegeben und zu gleich verinnerlicht. Ihr Lebensweg ist geplant vom Standesamt zum Standesamt zum Standesamt. Dazwischen haben sie zu arbeiten, Geld zu verdienen und sich an die rechtlichen und demokratischen Vorschriften zu halten. Sie tun es, weil sie es nicht besser wissen. Ihr sozialer Zusammenhang ist ihnen längst vorausgesetzt, nicht nur als dinglicher, son-
dern genausogut in ihrem eigenen Denken. Geld, Arbeit und Demokratie sind ihnen selbstver-
ständlich. Als Einzelne sind sie diesen Abstraktionen ausgeliefert, nur ein Rädchen im Getriebe, eine Nummer, ein Nichts. Was sie auch tun, sie beeinflussen den gesellschaftlichen Prozess nicht. Eigentlich ist es völlig gleichgültig, ob sie überhaupt vorhanden sind. – Weil sie als einzelne aber nur Rädchen sind und keinen Sinn in ihrem Handeln finden, fühlen sie sich unwohl. Obwohl ihnen Arbeit und Geld, Recht und Demokratie, die gesamte Verfasstheit ihres Lebens zur Selbstverständ-
lichkeit geworden ist, sind sie damit nicht glücklich. Sie empfinden den Druck der Abstraktionen, die ihr Leben beherrschen. Sie hassen zugleich die Arbeit, das Geld, das Recht und die Demokratie, ohne den Grund ihres Hasses, ihres Unwohlseins wirklich fassen zu können. Die objektive Uner-
träglichkeit wird zur subjektiv empfundenen Unzufriedenheit … Die Nachkriegsentwicklung hat den Faschismus überwunden, nicht indem sie ihn kritisierte, sondern indem sie ihn erst verwirk-
lichte. Was der Faschismus noch propagieren musste, wurde zur Selbstverständlichkeit: die Aner-
kennung der bürgerlichen Charaktermasken in ihrem Geradesosein als Einzelheit der Warenge-
sellschaft …“2
(zuletzt geändert am 27.8.2021)
1 Metall. Zeitung der Industriegewerkschaft Metall 2 vom 22. Januar 1993, 20 (07).
2 Johanna W. Stahlmann: „Hitler – der erste neue Mann“ in: Rosemaries Babys. Die Demokratie und ihre Rechtsradikalen, Unkel/Rhein und Bad Honnef 1993, 134 ff.