Materialien 1963

Preise, Löhne und Profite

Die Preise steigen. In jedem Lebensmittelladen, in jedem Haushaltswarengeschäft, beim Kauf einer Fahrkarte, überall stellen wir fest: wir müssen immer mehr zahlen für das, was wir brauchen. Laut Mitteilung der Bundesbank sind die Preise für Obst um 50 %, für Kartoffeln um 100 % und für Gemüse sogar um 200 % gestiegen. Brot, Eier, Backwaren, Puddingpulver, Käse, Kindernährmittel, Haferflocken, Malzkaffee sowie eine ganze Reihe weiterer Nahrungsmittel sind ebenfalls teurer geworden. Und das Ende dieser Preissteigerungswelle ist nicht abzusehen, versichern uns die Herren, die es wissen müssen.

Immer mehr muss die Hausfrau wieder mit dem Pfennig rechnen. Ein Beweis dafür ist zum Beispiel, dass 97 Prozent der vom Einzelhandel ausgegebenen Rabattmarken sorgfältig gesammelt und eingelöst werden, Die ganze Sparsamkeit nützt jedoch nichts. Das müssen auch jene unter uns feststellen, denen es gelang, einen Teil ihres sauer erarbeiteten Geldes als Notgroschen auf die Sparkasse zu bringen. Während sie noch glauben, ein Guthaben von beispielsweise 1.000 Mark zurückgelegt zu haben, repräsentiert es nur noch eine Kaufkraft von nicht mal mehr 700. Die SÜDDEUTSCHE ZEITUNG stellte am 18. Juli 1962 fest: „Die Mark ist nur noch 66 Pfennig wert.“

Trotz all dieser Preissteigerungen und der schleichenden Geldentwertung hören wir immer wieder von Obst, das an den Bäumen verfaulen, und von Gemüse, das auf den Müll oder in die Verbrennungsöfen wandern muss, weil sich angeblich kein Abnehmer dafür findet. Die Münchner ABENDZEITUNG schrieb am 1. August 1962: „Als Lebensmittel in Deutschland noch als Gottesgabe galten, erzählte man sich voll Empörung, dass brasilianische Pflanzer schiffsladungsweise Kaffee in den Ozean kippten, um die Preise hochzuhalten. Längst sind solche Praktiken aber auch bei uns in der Bundesrepublik üblich geworden. In der Pfalz werden kilometerweit die Salatfelder umgepflügt, weil kein Händler die Ware – den Kopf für drei Pfennig – haben will, Erdbeeren schwimmen den Rhein hinab, Apfelsinen verfaulen, und neben den Gurkensteigen von Großlappen (Münchens Abfallhalden – d. Red.) liegen Berge von Bananen und Zwiebeln. Allein in München werden alljährlich 12.000 Kubikmeter Obst und Gemüse in die Grube geschüttet.“

„Die beste und preiswerteste Versorgung des Verbrauchers ist das feierlich proklamierte letzte Ziel der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft“, schreibt die SÜDDEUTSCHE ZEITUNG in ihrer Ausgabe vom 10./11. November 1962. Alle Experten versichern: durch die EWG wird es uns besser gehen! Was bedeutet es aber für den Verbraucher, wenn über 70% unserer bisherigen Auslandsbezüge aus Ländern stammen, die nicht zur EWG gehören? Sollen wir nun gezwungen werden, französische Äpfel und Birnen, italienische Pfirsiche und Apfelsinen zu kaufen, obwohl diese Früchte aus Afrika und Lateinamerika viel billiger geliefert werden könnten? Auf Einfuhren aus diesen Gebieten liegt von jetzt an ein hoher Zoll.

Wie kommt es zu solchen unerfreulichen Zwangsmaßnahmen? Was sind das für seltsame Widersprüche, die sich da ergeben? Sollen wir glauben, dass es sich wirklich nur um Kinderkrankheiten handelt, wie man uns erklärt? In Bonn und Brüssel, in Den Haag und Paris, in Rom und Luxemburg, überall versichert man: „Wir haben nur das Wohl der Völker im Auge!“ Die deutsch-französische Freundschaft wird gepriesen, das Vereinigte Europa auf die Fahnen geschrieben. Wird es den betroffenen Völkern wirklich besser gehen, wie man uns verspricht? Was erwartet uns tatsächlich in der EWG?

Die Entwicklung begann nicht erst heute

Die Antwort auf diese Fragen liegt in der Geschichte dieser Wirtschaftsgemeinschaft. Diese Geschichte hat nicht erst 1957 begonnen, als Vertreter der Regierungen Frankreichs, Italiens, Belgiens, Luxemburgs, Hollands und der Bundesrepublik in Rom die Verträge unterzeichneten. Sie begann auch nicht erst an jenem 2. Juni 1955, als die Vertreter eben jener sechs Staaten in Messina beschlossen, „einen europäischen Markt zu errichten, die Atomkraft gemeinsam zu verwenden und zu nutzen, die Verkehrswege auszubauen und einen Investitionsfond einzurichten“. Diese Geschichte hatte die entscheidenden Schritte ihrer ersten Entwicklung sogar schon hinter sich, als am 18. April 1951 von denselben sechs Staaten die Montanunion als Vorläufer und Basis der heutigen EWG gegründet wurde. Das genaue Datum, an dem sie ihren Lauf nahm, ist für uns nicht mehr feststellbar. Wir müssen uns damit begnügen, einige Marksteine aufzuzeigen, die den Weg dieses wirtschaftlichen Zusammenschlusses markieren.

Da gab es zum Beispiel schon zwischen den beiden Weltkriegen enge Beziehungen zwischen dem deutschen IG-Farben-Konzern und dem großen französischen Chemie-Konzern Rhone-Poulenc. Der katholische Dichter Paul Claudel. der zugleich als Präsident des Verwaltungsrates des genannten französischen Chemie-Konzerns eine führende Rolle spielte, schrieb 1940 seine Hymne auf den Hitler-Paktierer Marschall Petain und auf die petainistisch-hitlerische Zusammenarbeit, die zugleich eine Zusammenarbeit der IG-Farben mit der französischen Chemie-Industrie zugunsten der IG-Farben war. Bekanntlich sind die IG-Farben das Monopol gewesen, das den Nationalsozialismus in die Lage versetzte, den Zweiten Weltkrieg vorzubereiten; die IG-Farben sind mit 6 Milliarden Mark Kriegsprofiten daraus hervorgegangen. Die westlichen Alliierten haben das Monopolunternehmen nach 1945 vorübergehend entmachtet, um sich eine lästige Konkurrenz vom Halse zu schaffen. Das war nicht von langer Dauer. Die Industriekonzerne des westlichen Auslands entdeckten nämlich, dass es für ihre Interessen besser ist, sich mit der einmal so gefährlichen Konkurrenz zu verbünden, um sich selbst stark zu machen.

Die Lage nach dem Krieg

Diese Feststellung wirkt auf den ersten Blick verwunderlich. Sie ist es jedoch nicht mehr, wenn wir uns in die Lage versetzen, in der sich die Wirtschaft der westlichen Welt nach Kriegsende befand. In Europa war sie fast ausnahmslos durch den Krieg in Mitleidenschaft gezogen worden. Die Maschinenparks waren veraltet. Sie konnten nur langsam durch neue Ausrüstungen ersetzt werden. Zugleich rüsteten sich die erwachten Völker Asiens und Afrikas zum Kampf um ihre Freiheit von der kolonialistischen Herrschaft. Damit drohte den westlichen Industrien der Verlust der bisher so billig auszubeutenden Rohstoffbasen.

Die Vereinigten Staaten hingegen, die den Krieg nicht im eigenen Lande gehabt hatten, waren durch ihn zu einer wirtschaftlichen Hochblüte gelangt. Alle westlichen Nationen waren bei ihnen verschuldet. Durch ihre Kriegsprofite war die amerikanische Wirtschaft in der Lage gewesen, ihre Produktionskapazität durch immer neue technische Errungenschaften ständig zu erweitern. So stark war die Produktion Mitte der Vierziger Jahre bereits angewachsen, dass sie sich im eigenen Land ohne Gewinneinbußen nicht mehr absetzen ließ. Die Konkurrenz drückte.

Amerikas Herren bauen Brückenköpfe

In dieser Situation entdeckten die amerikanischen Unternehmer das geschwächte Europa, in dem ein wirtschaftliches Vakuum bestand. Hier bot sich die Gelegenheit, einen Markt für die überschüssigen Waren zu errichten und darüber hinaus das nach gewinnbringenden Investitionen drängende Kapital in Produktionsstätten anzulegen. Zugleich mit dem Waren-Export setzte dann auch der Export von Dollar-Kapital ein, mittels dessen im ganzen westlichen Europa Brückenköpfe für amerikanische Unternehmen gebildet wurde.

Hier war es nun gerade Westdeutschland, das gleich in doppelter Hinsicht für die amerikanischen Interessen geeignet war. Einmal war es wirtschaftlich ausgeblutet wie keines seiner Nachbarländer. Die Alliierten konnten in ihren Besatzungszonen den Arbeitnehmern einen Lohnstop diktieren, der die Löhne und Gehälter auf dem niedrigsten Niveau in ganz Europa hielt, während Preise und Gewinne keinerlei Beschränkung unterworfen waren. Zum anderen konnte Westdeutschland als politische Bastion nur gehalten werden, wenn es zu einer Filiale der amerikanischen Zentrale ausgebaut wurde.

Ein tolles Geschäft

Die alten Herren der Konzerne und Monopole erkannten ihre Chance. Nur zu begierig griffen sie nach dem Rettungsring, der sie vor dem Untergang bewahrte, und erfüllten willig alle Weisungen, die damit verbunden waren. Bald standen anstelle der demontierten Maschinen, die in der Mehrzahl sowieso veraltet waren, neue, verbesserte in den Werkhallen. Die Produktion kam wieder auf volle Touren. Mit Hilfe des amerikanischen Kapitals, der niedrig gehaltenen Löhne sowie einer bis zur Währungsreform andauernden Warenhortung entstand das deutsche Wirtschaftswunders als attraktives und abschreckendes „Bollwerk gegen den Osten“.

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Harold Wilson, Außenminister im „Schattenkabinett“ der britischen Labour-Partei, warnte am 1. November vor der Tätigkeit westdeutscher Atomspezialisten in Frankreich und Ägypten: „Täuscht euch nicht, trotz allem, was die Verträge besagen, ist Westdeutschland schon am Wettrüsten der nuklearen und ballistischen Waffen beteiligt, dank seiner Tätigkeit in Ägypten und in Frankreich.“ Obwohl der Bundesrepublik die Herstellung von Atomwaffen durch Vertrag verboten ist, sei sie Mitglied des Euratoms, und eine gewisse Anzahl deutscher Techniker arbeite in Kairo am Bau taktischer Raketenwaffen. „Ich muss unsere Ablehnung gegenüber der Entscheidung der Bundesrepublik betonen. Waffen, vor allem Panzerwagen, nach Portugal zu schicken im Tausch gegen die Erlaubnis, Luftwaffenpiloten in diesem Land auszubilden – und das in einem Augenblick, da die Portugiesen auf Widerstand gegen ihre Unterdrückungspolitik in Angola und Mozambique stoßen.“ An die Regierung MacMillan richtete Harold Wilson die Frage, ob sie von der Verstärkung der Luftwaffe Katangas Kenntnis genommen habe: „Westdeutschland, das sehr schnell zum weltweiten Waffenlieferanten für alle Unruheherde wird, ist auch dort der Verantwortliche.“

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Wie sehr die amerikanischen Unternehmer daran mitverdient haben, zeigt die Höhe ihrer Kapitalbeteiligung: Ende 1958 entfielen von den 7,4 Milliarden DM bekannter US-Investitionen im Gebiet der EWG allein 2,5 Milliarden auf die Bundesrepublik. 1962 befinden sich schon über 60 Aktiengesellschaften mit mehr als der Hälfte ihres Nominalkapitals in Händen der US-Industrie.

Der Betätigungsdrang der amerikanischen Wirtschaft hat auch die Unternehmer der übrigen westeuropäischen Länder zum Handeln gezwungen. Denn sie haben nach einer kurzen Phase des Nachholbedarfs ebenfalls mit dem Überangebot auf dem Warenmarkt und einer drückenden Konkurrenz zu kämpfen. Dieser Konkurrenz kann der einzelne Unternehmer nur dadurch entgehen, dass er die Rentabilität seines Betriebes ständig erhöht – das heißt, indem er auf Kosten kleinerer Konkurrenten immer größer wird. Das Besteben der ohnehin größten Unternehmen ist es deshalb, die Feindschaft mit dem größten Konkurrenten des hochindustrialisierten Nachbarlandes zu begraben, um durch die Verbindung mit ihm eine Monopolstellung zu erhalten, die alle Mitbewerber in den beiden Ländern zur Strecke bringen muss.

Einige Namen

Besonders die französischen Industriellen, die sich durch ihre Kolonialkriege in Asien und Afrika in einer ständigen Krise befanden, erkannten sehr bald die Notwendigkeit, sich an den erstarkenden ostrheinischen Nachbarn anzuhängen. Dieser ist die angebotene Verbindung nur zu gern eingegangen, bietet sie ihm doch die Möglichkeit, die lästigen Verbote und Verpflichtungen zu umgehen, durch die die westdeutschen Monopolunternehmen an ihrer letzten Expansion gehindert werden. Durch die Pariser Verträge von 1954 sind der Bundesrepublik nämlich bestimme Rüstungsbeschränkungen auferlegt worden. So darf sie zum Beispiel keine Atomwaffen produzieren. Was bedeutet ein solches Verbot aber noch, wenn die großen Monopole der Bundesrepublik ihre Vertreter außer in den Organen der EWG und der Montanunion auch im Gremium der Europäischen Atomgemeinschaft EURATOM sitzen haben? Deutscher Vertreter im Rat der EWG und EURATOM ist zum Beispiel Atomminister Balke, der durch seine frühere Tätigkeit eng mit dem IG-Farben-Konzern verbunden ist. In der Kommission der EURATOM sitzt ein Herr Krekeler: von 1934 bis 1945 im Dienste der IG-Farben und vor seinem Amtsantritt in der EURATOM bis 1953 Botschafter der Bundesrepublik in Washington. Im Ausschuss der EURATOM für Wirtschaft und Technik sitzen der Generaldirektor und Vorsitzende des Vorstandes der Farbwerke Hoechst AG, Karl Winnacker, sowie H. Reuter, Vorsitzender des Vorstands der Demag AG, Duisburg und Otto Haxel, Geschäftsführer der Kernreaktorbau- und Betriebsgesellschaft mbH, Karlsruhe. Damit sind die auf diesem Gebiet maßgeblichen westdeutschen Monopole im Atomgeschäft vertreten. Dass ihre Vertreter in der EURATOM für Vergabe von Aufträgen an ihre eigenen Monopole und damit für die Konzentration der Macht dieser Unternehmen sorgen, versteht sich wohl von selbst.

Einige Zahlen

Für die Konzentration der Macht einzelner Unternehmen in der Bundesrepublik liegen konkrete Zahlen vor. Danach bestanden Ende 1959 bei uns 2.379 Aktiengesellschaften mit einem Kapital von zusammen 27.054.900.000 DM. Davon verfügten allein 225 über ein Kapital von zusammen 21.053.100.000 DM. Mit anderen Worten: auf 9,5 % der Aktiengesellschaften entfielen 77,9 % des Aktienkapitals.

Es sind denn auch vorwiegend diese Mammutunternehmen in der Bundesrepublik und in den übrigen Ländern der EWG, die an dem wirtschaftlichen Zusammenschluss interessiert sind. Die Mächtigen greifen nach noch größerer Macht.

Immer mehr Macht den Mächtigen

Der IG-Farben-Konzern zum Beispiel, der allein durch die drei IG-Nachfolge-Gesellschaften Farbenfabriken Bayer AG, Leverkusen, Badische Anilin- und Sodafabrik AG, Ludwigshafen und Farbwerke Hoechst AG, Frankfurt am Main, einen Interessenbereich repräsentiert, der sich über 38 Aktiengesellschaften und 108 Gesellschaften anderer Rechtsform mit einem Kapital von 3.293.000.000 DM erstreckt, beherrscht 10,9 % des gesamten westdeutschen Aktienkapitals und ist die größte Kapitalkonzentration in der Bundsrepublik. Die IG-Gruppe hat ihren Einfluss denn auch inzwischen auf den gesamten EWG-Raum ausgedehnt. So gründete die Badische Anilin gemeinsam mit dem französischen Kuhlmann-Konzern die Societé Dispersions Plastiques in Paris. Interessant ist, dass am Kuhlmann-Konzern nun wieder der riesige französische Chemie-Trust Saint Gobain wesentlich beteiligt ist. Saint Gobain ist eines der beherrschenden Chemie-Monopole in Frankreich. Es besitzt zum Beispiel bereits über die Vereinigten Glaswerke, Aachen, Fabriken in Stolberg, Herzogenrath, Sindorf und Mannheim.

Auch in anderen Wirtschaftsbereichen ist diese Verflechtung internationalen Kapitals im Gange, für die wir nur einige repräsentative Beispiele herausgreifen können: Bundeskanzler-Berater Hermann J. Abs, Generaldirektor der Deutschen Bank, die im Erdöl-Bereich eng mit der Deutschen Erdöl AG zusammenarbeitet, sitzt im Präsidium der Societé Européenne de Développement industriel. Diese ist ein westdeutsch-französischer Konzernzusammenschluss, der sich die Rohstoffversorgung aus afrikanischen Gebieten zur Aufgabe gemacht hat. Bankier Abs ist Vorsitzender oder Mitglied des Aufsichtsrates der Badischen Anilin- und Sodafabrik AG, Vereinigte Glanzstoff-Fabriken AG, Dortmund-Hörder-Hüttenunion AG (holländische Gruppe), Siemens & Halske AG, Kali-Chemie AG, Deutsche Libbey-Owens AG (amerikanische Gruppe), Bergwerksgesellschaft Dahlbusch (belgisch), Rheinpreussen AG für Bergbau und Chemie (heute Deutsche Erdöl), Deutsche Shell AG (holländisch-britisches Erdöl), Deutsche Solvaywerke AG (belgischer Chemiekonzern), Metallgesellschaft AG, zu der die DEGUSSA gehört. Die Kombination dieser Mandate in den internationalen Gruppen der Erdöl-. Chemie-. Kohle- und Elektroindustrie ist der Ausdruck internationaler Machtzusammenballung.

Hermann Abs’ Deutsche Bank sicherte sich aber auch frühzeitig die Teilnahme an der Ausbeutung französischer Kolonialgebiete (die auch, nachdem sie ihre „Unabhängigkeit“ erhalten haben, noch vom französischen Mutterland beherrscht werden), indem sie zusammen mit der Banque d’Indochine das Europäische Konsortium für die Entwicklung der Ausbeutung von Bodenschätzen gründete. Überhaupt ist das westeuropäische Finanzkapital im Rahmen der EWG äußerst expansiv und hat durch die Gründung zahlreicher internationaler Investmentgesellschaften für eine dominierende Rolle gesorgt. Um nur die größte dieser Gesellschaften, die EURUNION, zu nennen, an der folgende Banken beteiligt sind: Berliner Handelsbank, Mediobanca (Italien), Piersen Heldring, Banque Lambert (Frankreich), Crédit Commercial de France, Compagnie Financière, Cie. d’Outre-Mer pour l’Industrie et la Finance (Frankreich).

Verbilligung wäre möglich

Nun ist die Konzentration in der Wirtschaft nicht der Konzentration wegen abzulehnen. Konzentration bedeutet ja, dass alle für die Produktion wichtigen Kräfte zusammengefasst werden. Einkauf und Fertigung können in größerem Stil erfolgen, unrationelle Arbeitsvorgänge rationalisiert und der Absatz in kostensparender Weise gelenkt werden. Damit wären die Voraussetzungen auf Verbilligung der Waren gegeben.

Gleichzeitig aber muss eine solche Konzentration alle kleinen Warenproduzenten, wozu auch die Klein- und Mittelbauern gehören, zugrunde richten. Während die stärksten Monopole von der EWG profitieren, drohen beispielsweise der Woll- und Baumwollindustrie Westdeutschlands größte Schwierigkeiten durch die französische und italienische Konkurrenz, ist die westdeutsche Leinenindustrie stark bedroht und die westdeutsche Konfektion der französischen Industrie in dieser Branche völlig unterlegen. Dies alles gilt auch für eine weitere Reihe schwach monopolisierter Wirtschaftszweige, in denen die Arbeitnehmer vom Verlust ihres Arbeitsplatzes bedroht sind.

Aber nicht bei uns!

Leider werden wir nur diese negativen Seiten der Konzentration zu spüren bekommen. Denn eine wirkliche Zusammenfassung aller Produktivkräfte, wie wir sie eben aufgezeigt haben, kann nicht in einem Wirtschaftssystem zustande kommen, wie es bei uns trotz aller negativen Erfahrungen immer noch besteht. Denn in diesen Wirtschaftssystem wird ja nicht produziert, um den vorhandenen Bedarf zu decken, sondern um Gewinne zu erzielen. Durch das Profitstreben der Unternehmer, das diese auf immer höherer Ebene zu immer erbitterterer Konkurrenz zwingt, wird deshalb weit mehr produziert (und vieles Überflüssige), als die Verbraucher kaufen können. Dadurch erweist sich die privatwirtschaftliche Produktionsweise letzten Endes als total unwirtschaftlich – und riesige Teile des Volksprodukts werden verschleudert auf der Jagd nach immer neuen Profiten.

Gemeinsamer Markt der Monopole

Der CDU-Abgeordnete Detlev Struve, Vertreter des Schleswig-Holsteinischen Bauernverbandes, musste in der EWG-Debatte des Bundestages denn auch zugeben, dass durch die Brüsseler Beschlüsse keine Preisvergünstigungen eintreten werden. In der Tat: die EWG soll nach dem Willen der in ihr zusammengeschlossenen Monopole in ihrer letzten Konsequenz nichts anderes sein als selbst ein einziges riesiges Monopol, das ihnen den Höchstprofit sichern soll. Schon jetzt können wir überall wirtschaftliche Vereinbarungen, Zusammenschlüsse und geheime oder offene Preisabsprachen feststellen. Die Kohlenzechen, die Stahlfabrikanten, die Treibstoffgesellschaften, die Bauunternehmer, die Konservenbüchsenlieferanten, ja selbst die Bäcker, Fleischer und Friseure: sie alle haben sich daran gewöhnt, jede Gelegenheit beim Schopf zu fassen, um ihre Preise zu erhöhen. Weder in der Bundesrepublik, noch in einem anderen EWG-Mitgliedsland, noch in dem Europamarkt insgesamt gibt es eine „freie Marktwirtschaft“, ein freies Spiel von Angebot und Nachfrage. Der Wettbewerb von Betrieb zu Betrieb ist längst einer Preisfestsetzung durch Verbände gewichen. Wenn in den privatwirtschaftlich gelenkten Staaten, wie das heute der Fall ist, 200 Monopole über 32,4 % der Industrieproduktion in der gesamten kapitalistischen Welt verfügen und damit praktisch den Markt regieren, so kann aus einem „Gemeinsamen Markt“ auch nichts anderes werden als ein gemeinsamer Markt der Monopole.

Rauf mit den Preisen!

Nach außen haben sie diesen Markt durch eine neue Zollmauer gut abgesichert. Im Inneren aber lassen sie sich ihre Sicherheit durch die sechs Staaten garantieren und führen darüber hinaus einen Ausgleich ihrer Gewinne durch. Riesige Verkaufskonzerne, unterstützt von staatlicher und halbstaatlicher Bürokratie, diktieren die Preise. Sie diktieren sie dem Verbraucher und diktieren sie jetzt mit einem raffinierten System auch gewissen Erzeugern, so dass die Spanne zwischen Erzeuger- und Verbraucherpreisen höher sind als jemals zuvor.

Womit sich schon jeder kleine Bäcker oder Krämer zu retten versucht, dazu sind die großen Konzerne in noch viel stärkerem Maße gezwungen: die „preisverderbende“ Konkurrenz zu beseitigen und den Markt unter sich aufzuteilen. Wir haben es hinnehmen müssen, wie die US-Treibstoffkonzerne in der Bundesrepublik vorgegangen sind: sobald sie den Markt in Händen hatten, herauf mit den Preisen. Und wir müssen es hinnehmen, dass die europäischen Monopole in der EWG jetzt das gleiche tun.

Parlamentarische Demokratie

Zu diesem Zweck haben sie sich mir der EWG übernationale Staatsorgane geschaffen. Diese sind durch die EWG-Verträge rechtlich in die Lage versetzt, auch fremden Regierungen zugunsten der stärksten Monopole diktieren zu können. DIE W’ELT schreibt am 17. November 1962: „Die wichtigsten wirtschaftspolitischen Entscheidungen werden bald nicht mehr in Bonn, sondern in Brüssel fallen … Es ist nur nach eine Frage der Zeit, dass in Brüssel der Rahmen für eine europäische Steuer- und Finanzpolitik abgesteckt wird. Die Konjunkturpolitik muss einheitlich ausgerichtet werden. Es ist bereits ausgesprochen worden, dass über eine einheitliche Währungspolitik hinaus sogar eine gemeinsame europäische Währung geschaffen werden soll. In Brüssel … wird dann der wirtschaftspolitische Kurs festgelegt werden.“

Außer der Handels- und Zollpolitik wird auch die Agrarpolitik und ihre Marktordnung von dem sechsköpfigen EWG-Rat bestimmt werden. Auf ihn geht die Verantwortung für die Währung, geht die Devisenpolitik über. Zahlreiche Bestimmungen, Hoheitsrechte des Parlaments auf dem Gebiet des Wirtschafts- und des Sozialrechts, gehen in die Befehlsgewalt des Rats über. Entscheidende Befugnisse auf dem Gebiete des Koalitionsrechts. des Rechtes auf Kollektivverhandlungen, Angleichungen in der Lohnpolitik und vieles andere mehr gehen aus den Händen des Parlaments auf den sechsköpfigen Rat und teils auf die neunköpfige Kommission in Brüssel über. Das Sechs- bzw. Fünfzehn-Männer-Kollegium entscheidet allein und ohne jede parlamentarische Kontrolle. Es entscheidet autoritär.

Die Arbeitnehmer bezahlen

Was das bedeutet, werden in Kürze nicht nur Handwerker, Bauern und Gewerbetreibende zu spüren bekommen, die alles Heulen und Zähneknirschen nicht vor dem Ruin retten wird. Auch für die Millionen Arbeitnehmer rückt eine schwarze Zeit heran. Nicht nur, dass sie von weiteren Preis- und Steuererhöhungen getroffen werden. Auch der Inhalt ihrer Lohn- und Gehaltstüten wird sich zum Teil empfindlich verringern. Es ist nämlich eines der erklärten Ziele, dass alle Unternehmen im Raum der EWG „die gleichen Wettbewerbsbedingungen erhalten“. Das heißt aber, dass auch die Löhne und Gehälter in den einzelnen Mitgliedsländern einander angeglichen werden müssen. Diese Angleichung misst sich an dem Lohnniveau des wirtschaftlich schwächsten Landes, also Italiens.

Nicht zuständig

Bis jetzt haben die Vertreter der Arbeitnehmerschaft immerhin noch erreichen können, dass die Löhne den Preisen nicht allzu stark nachhinkten. Wenn man auch angesichts der Tatsache, dass von den rund 23 Millionen Arbeitnehmern in der Bundesrepublik 11 Millionen mit einem Monatseinkommen von weniger als 465 DM netto auskommen müssen, nicht von einer „expansiven Lohnpolitik“ sprechen kann! Auch bisher war von der Mitbestimmung der Arbeitnehmer mehr die Rede, als dass sie praktisch wirksam werden konnte; denn die maßgeblichen Entscheidungen in der Wirtschaftspolitik werden schon lang nicht mehr in den Betrieben gefällt. Von nun an werden aber selbst die nationalen Unternehmerverbände, mit denen die Gewerkschaften bisher die Tarifverträge aushandeln konnten, auf ihre Unzuständigkeit verweisen. Der Ruhrbergbau hat schon ein solches Beispiel gegeben als er die Schuld an der Krise der Montanunion zuschob und weiter auf ausstehende internationale Entscheidungen verwies.

Seitdem die Verträge der EWG in Kraft getreten sind, haben sich die nationalen Unternehmerverbände aller Wirtschaftszweige nämlich zu internationalen Verbänden zusammengeschlossen. Der neue EWG-Spitzenverband der Industrie zum Beispiel ist die Union des Industrie de la Communauté européenne, UICE, mit Sitz in Brüssel. Mit wem können die Vertreter der Arbeitnehmerschaft in Zukunft noch verhandeln?

Was tun ?

Die Entwicklung zum internationalen Zusammenschluss der Wirtschaft ist nicht mehr aufzuhalten. Der hohe technische Stand der Produktionsmittel macht ihn erforderlich. Die Monopole Westeuropas und der USA sind auf ihre Weise daran interessiert. Wie wir gesehen haben, ist dieses Interesse nicht unbedingt identisch mit dem der arbeitenden Bevölkerung. Für die Herren unserer im Dienste egoistischer Profitinteressen stehenden Großunternehmen ist der europäische Zweckverband der letzte großangelegte Versuch, sich über die immer bedrohlicher werdenden eigenen Schwierigkeiten hinüberzuretten. Ihnen steht eine Arbeitnehmerschaft gegenüber, die aus den vielfältigsten Gründen in sich zerrissen und national gespalten ist.

Die Unternehmer-Internationale steht. Sie ist für einen erbarmungslosen Kampf um ihre Interessen gerüstet. Wellen wir nicht wieder einmal (und diesmal endgültig) ihr Opfer werden, so muss der Unternehmer-Internationale die Kraft der Solidarität aller arbeitenden Menschen in ganz Europa entgegengestellt werden.

Rolf Gramke


Heute. Westdeutscher Beobachter, Dezember 1962, 18 ff.

Überraschung

Jahr: 1963
Bereich: Lebenshaltungskosten