Materialien 1998

Der Staatsanwalt hört mit – Lauschaktionen im Strafprozess

Das Fernmeldegeheimnis ist unverletzlich
Art. 10. (1) Das Briefgeheimnis sowie das Post- und Fernmeldegeheimnis sind unverletzlich.
(2) Beschränkungen dürfen nur aufgrund eines Gesetzes angeordnet werden. Dient die Beschränkung dem Schutze der freiheitlichen demokratischen Grundordnung oder des Bestandes oder der Sicherung des Bundes oder eines Landes, so kann das Gesetz bestimmen, dass sie dem Betroffenen nicht mitgeteilt wird und dass an die Stelle des Rechtsweges die Nachprüfung durch von der Volksvertretung bestellte Organe und Hilfsorgane tritt.

Die technischen Möglichkeiten, Menschen zu überwachen, wachsen in nie gekanntem Umfang. Was liegt näher, als zu versuchen, Minispione, Kameras, Wanzen und Telefonabhörgeräte einzusetzen, um Straftaten aufzuklären oder zu verhindern? Wo sollen die Grenzen solcher Überwachung liegen? Im Zusammenhang mit der Diskussion um den großen Lauschangriff, d.h. das staatliche Abhören von Gesprächen innerhalb von Wohnungen und Büros, ist darüber 1998 erbittert gestritten worden. Bei der Diskussion prallten zwei Paradigmen aufeinander: Hier die Vorstellung, es müsse für jeden Bürger so etwas wie einen geschützten Raum geben, in dem er sicher sein kann, privat zu sein, für sich und ohne staatliche Zuhörer. Das Gespräch mit dem Geistlichen, dem Arzt und eben auch mit dem Strafverteidiger gehören hierher. Auf der anderen Seite die Gegenfrage: Und wenn nun durch das Abhören Straftaten verhindert oder aufgeklärt werden können? Warum sollte der Staat auf technische Möglichkeiten verzichten, um einer abstrakten Freiheitsidee zu entsprechen? Im folgenden will ich eine wahre Begebenheit erzählen, die vielleicht einiges deutlich macht:

In München stand seit Januar 1997 Hermann Sterr vor seinen Richtern. Ihm wurde vorgeworfen, 1986 einen Banküberfall versucht und einen vollendet zu haben, und zwar mit einem Mittäter namens Karl Heinz Egle. Der Prozess fand erst jetzt statt, weil Sterr zuvor für die deutsche Justiz nicht greifbar war; Egle ist seit mehr als 10 Jahren verschwunden. Die Vorwürfe stehen auf wackligen Beinen: Sachbeweise gibt es nicht, Tatzeugen, die Verwertbares berichten könnten, auch nicht, so ist man auf „Zeugen vom Hörensagen“ angewiesen. Der eine ist ein gewisser W., der bisher im wesentlichen von Einbrüchen gelebt und viele Jahre in Haft verbracht hat. Der andere ist ein Spitzel des Bundeskriminalamtes, wegen eigener Straftaten und einem gespannten Verhältnis zur Wahrheit nicht gerade ein Muster der Glaubwürdigkeit. Aber es ist natürlich auch Prestige im Spiel. Sterr hat sich als „Ausbrecherkönig“ in Bayern einen Namen gemacht, er ist alles andere als ein unbeschriebenes Blatt. Die vorgeworfenen Taten leugnet er mit allem Nachdruck.

Kurz vor der Hauptverhandlung stellt sich heraus, dass die Ex-Ehefrau des Zeugen W., die sich bisher nicht geäußert hatte, gegen ihren früheren Ehemann aussagen will. Sie kündigt dies gegenüber dem Sachbearbeiter der Kripo an. Sie will sich endlich von der Seele reden, was für ein Charakter ihr „Ex“ ist und was er ihr alles angetan hat. Der Kriminalbeamte R. gibt diese Hiobsbotschaft unverzüglich an die beiden Staatsanwälte Sch. und R. weiter. Es ist klar, dass Frau W. als Zeugin die Glaubwürdigkeit des Kronzeugen W. erheblich in Mitleidenschaft ziehen kann. So fasst man bei der Staatsanwaltschaft den Entschluss zu einem Lauschangriff besonderer Art: sämtliche Telefonanschlüsse von Frau W. sollen abgehört werden, alle Telefonate – gleichgültig mit wem und mit welchem Inhalt – sollen aufgezeichnet werden. Außerdem werden noch die Anschlüsse einiger anderer Personen aus dem Umfeld des verschwundenen Mitangeklagten Egle abgehört, allerdings in weit geringerem Umfang als bei Frau W. Um die erforderliche Zustimmung des zuständigen Ermittlungsrichters zu erlangen, geben die Staatsanwälte an, der Zweck des Abhörens sei die Suche nach dem Mitangeklagten Egle. Dieser könne ja bei den Abgehörten anrufen. Die Beschlüsse ergehen wie gewünscht am 17. Januar 1997 – am 28. Januar beginnt der Prozess vor der Großen Strafkammer des LG München II gegen Hermann Sterr.

Während der Prozess gegen Sterr läuft, ein Zeuge nach dem anderen erscheint und vernommen wird, gibt es dort unter den Beteiligten zweierlei nutzbare staatliche Informationsquellen: Gericht und Verteidiger sowie der Angeklagte können die Akten nutzen und das, was in der Hauptverhandlung gesagt wird. Die beiden anwesenden Staatsanwälte Sch. und R. haben zusätzlich die akkurat abgeschriebenen Protokolle der abgehörten Telefonate von Frau W. Da Frau W. selbst als Zeugin geladen ist, beschäftigen sich ihre Telefongespräche naturgemäß besonders mit diesem bevorstehenden Ereignis. Sie spricht mit Freunden und Freundinnen darüber, spricht über die Gefühle gegenüber ihrem Ex-Ehemann und darüber, dass sie auch Angst vor ihrem Zeugenauftritt und vor W. hat.

Dabei kommt eine heikle Angelegenheit zur Sprache, die Frau W. große Sorgen macht. Sie hat nämlich von W. seinerzeit eine Waffe erhalten, die sie für ihn aufheben sollte, jetzt aber loswerden will. W. hat sie schon herausverlangt. Das hat sie abgelehnt, fürchtet aber jetzt, dass W. sie bei der Polizei wegen der Waffe anschwärzen könnte. So ruft sie schließlich den Rechtsanwalt Ufer, einen der beiden Verteidiger Sterrs, an und fragt ihn um Rat. Ufer verweist sie an einen Kollegen, da er sie nicht selbst vertreten will. Er rät ihr, die Waffe über diesen Kollegen an die Polizei gelangen zu lassen. Dies würde sie vor eigener Strafverfolgung schützen. Frau W. greift diesen Vorschlag auf und telefoniert noch mit zwei weiteren Strafverteidigern wegen der Waffe. Der eine stimmt zu und vereinbart mit ihr einen Termin für die Übergabe der Waffe. Plötzlich wird die Wohnung von Frau W. von der Polizei gezielt nach der Waffe durchsucht, genervt gibt sie die Waffe heraus und empfängt wenig später einen Strafbefehl wegen unerlaubten Waffenbesitzes. Woher das Wissen der Polizei stammt, ahnen weder sie noch die anderen Prozessbeteiligten, die von der Sache hören. Frau W. glaubt, ihr früherer Mann habe seine neuerdings guten Beziehungen zur Polizei genutzt, um ihr zu schaden, und ist eingeschüchtert. Nur die Staatsanwälte Sch. und R. wissen Bescheid – aber die schweigen.

Die beiden haben nämlich zu einem prozessualen Trick gegriffen, damit ihre Lauschaktion den anderen Prozessbeteiligten verborgen bleibt. Sie haben die Telefonüberwachung in dem formal getrennten Verfahren gegen den Mitbeschuldigten Egle erwirkt. Da es dort keinen Beschuldigten gibt, der Akteneinsicht nehmen könnte – Egle ist ja seit Jahren verschwunden –, bleibt ihre Aktion tatsächlich dem Gericht und der Verteidigung im Verfahren Sterr vier Monate unbekannt. Dann aber will die Verteidigung die Akten von Egle einsehen, weil sie vermutet, es könnten dort für sie relevante Informationen zu finden sein, etwa zu einem möglichen Aufenthaltsort Egles. Die Staatsanwälte verweigern die Akteneinsicht, unter anderem deshalb, weil die Akten nichts Bedeutsames für das Sterr-Verfahren enthielten. Da dies dienstlich erklärt wird, gibt sich auch die Strafkammer damit zufrieden – ein deutscher Staatsanwalt ist schließlich eine vertrauenswürdige Person.

Brisant wird die Angelegenheit, als die Verteidiger Klage auf Akteneinsicht beim OLG München erheben. Jetzt bemühen sich die Staatsanwälte um eine sogenannte Sperrerklärung beim Justizministerium, d.h., sie wollen erreichen, dass die Akte amtlich gesperrt wird und nicht herausgegeben werden muss. Das Ministerium spielt aber nicht mit, die Akte muss zur Einsicht freigegeben. Im Frühjahr 1998 kommt heraus, dass die Staatsanwälte von Januar bis Oktober 1997 alle Gespräche von Frau W. haben abhören und protokollieren lassen, darunter Gespräche mit engsten Angehörigen, mit Rechtsanwälten und sogar mit dem Vorsitzenden der Strafkammer.

Die Verteidiger reagieren auf diese überraschenden neuen Erkenntnisse mit Empörung, die Öffentlichkeit, die den Sterr-Prozess wegen anderer Merkwürdigkeiten zunehmend kritisch verfolgt hat, mit Ungläubigkeit: zu abstrus ist die Vorstellung, dass während eines laufenden Prozesses eine Prozesspartei heimlich Telefonate von Zeugen mit Gericht und Rechtsanwälten abhören lässt, sich damit Vorteile in der laufenden Beweisaufnahme verschafft und über ihre Tätigkeit auch im nachhinein falsche Angaben macht. Anders die Strafkammer: Sie beanstandet lediglich, dass sie durch den Oberstaatsanwalt Sch. nicht mit der Wahrheit bedient wurde, als sie ihn nach dem Inhalt der Egle-Akte fragte, und schließt sich dem Antrag der Verteidigung an, ihn abzulösen. Die Abhöraktion selbst findet sie in Ordnung. Sie verwertet sogar ausdrücklich einen Teil der abgehörten Telefonate der Zeugen, auch mit dem Verteidiger Ufer, in ihrem späteren Urteil. Der Rechtsanwalt hatte mit einer Zeugin G. telefoniert und sich bemüht, sie zu einer Aussage im Prozess zu gewinnen. G. muss nämlich nicht aussagen, da sie als Ex-Ehefrau des Mitbeschuldigten Egle das Recht hat, die Aussage zu verweigern. Ufer will aber, dass sie aussagt, und weist G. deshalb auf die Wichtigkeit ihrer Aussage hin. Später, in der mündlichen Urteilsbegründung, wird der Gerichtsvorsitzende das Abhörprotokoll anführen als angeblichen Beleg dafür, wie skeptisch die Verteidigung die Chancen des Angeklagten selbst intern eingeschätzt habe und wie richtig die Strafkammer deshalb damit liege, ihn zu verurteilen.

Die offizielle Begründung für die Abhöraktion erweist sich rasch als Vorwand. Die Abhörprotokolle umfassen 227 Seiten. In keinem der Gespräche ergibt sich der geringste Hinweis auf den Aufenthalt des verschwundenen Egle. Wenn es also Sinn der Aktion gewesen wäre, festzustellen, ob Egle anruft oder ob über seinen Aufenthalt gesprochen wurde, so hätte am Ende des Abhörens der kurze Aktenvermerk genügt, dass sich dafür keine Erkenntnisse ergeben haben. Tatsächlich lässt sich anhand der Protokolle feststellen, worauf es den Staatsanwälten ankam. Sie haben die Gespräche nur auszugsweise aufschreiben lassen und zwar dort, wo die Abgehörten über das laufende Verfahren Sterr sprachen, über ihre bevorstehenden oder gewesenen Aussagen, über ihre Ängste und Gefühle und über ihre Einschätzungen der anderen Beteiligten. Keines dieser Gespräche enthüllte strafbare Handlungen der Abgehörten, die es gerechtfertigt hätten, die Telefonüberwachung etwa nachträglich zu legalisieren. Das Abhören war reines Ausforschen, um sich Informationsvorteile im Prozess zu verschaffen. Im Falle der Zeugin W. diente es auch ihrer Einschüchterung. Die Instrumentalisierung des Abhörens für die Zwecke der in Bedrängnis geratenen Anklage zeigte auch, dass etwa der Zeuge W. nicht abgehört wurde. Er war ein enger Freund des verschwundenen Egle. Es hätte viel näher gelegen, sein Telefon abzuhören als das seiner geschiedenen Frau, wenn es wirklich darum gegangen wäre, Hinweise zu finden, wo Egle sich aufhält. Er war aber der Kronzeuge der Anklage. Über ihn wollte man nichts ausforschen.

Das Recht auf freien und ungehinderten Verkehr des Beschuldigten mit seinem Anwalt ist einer der Eckpfeiler eines rechtsstaatlichen Strafprozesses. Das steht seit Schaffung der Strafprozessordnung in ihr und wird im Grundgesetz in den Artikeln, die den Rechtsstaat schützen sollen, abgesichert. Der Rechtsanwalt muss über das, was er von seinem Mandanten erfährt, schweigen. Wenn er nicht selbst tatverdächtig ist, darf er auch nicht abgehört werden, ebensowenig dürfen seine Verteidigungsunterlagen beschlagnahmt werden. Die Gerichte haben in diesem Zusammenhang davon gesprochen, dass die Geheimsphäre der Verteidigung in ihrer strafprozessualen Funktion gewährleistet werden müsse.

Es ist klar, dass diese Grundsätze nur noch die Hälfte wert sind, wenn es möglich ist, wie im Sterr-Prozess zu, verfahren. Wenn eine in Beweisnot geratene Staatsanwaltschaft die anderen Prozessbeteiligten heimlich ausforschen kann, erringt sie uneinholbare Informationsvorteile. Sie weiß als einzige, wie die anderen Beteiligten die Prozesslage intern einschätzen, was sie planen und mit wem sie zur Vorbereitung sprechen.

Angesichts der gewachsenen technischen Möglichkeiten ist diese Perspektive beängstigend. Gerade jetzt sind Gerichte gefragt, die erkennen, um was es geht, und die strikt die Rechte einer freien Verteidigung wahren. Natürlich stellen die neuen technischen Ausforschungsmittel besondere Versuchungen für die Ermittlungsbehörden dar. Es erscheint so einfach, eine Wanze zu installieren und sich damit mühsame Ermittlungsarbeit zu ersparen. In Wirklichkeit werden Gewichte verschoben – die Chancen eines fairen Prozesses, in dem auch der Beschuldigte zu seinem Recht kommen kann, sinken.

Hartmut Wächtler


Till Müller-Heidelberg/Ulrich Finckh/Wolf-Dieter Narr/Stefan Soost (Hg.), Grundrechte-Report 1999. Zur Lage der Bürger- und Menschenrechte in Deutschland, Reinbek bei Hamburg 1999, 106 ff.

Überraschung

Jahr: 1998
Bereich: Bürgerrechte