Flusslandschaft 1970

Alternative Szene

26. Mai: VHS und AStA der TH laden zu einer bis zum 16. Juni dauernden Vortragsreihe mit Dis-
kussion in den Hörsaal 277 der Technischen Hochschule mit dem Thema „Rauschgift, Jugend und Gesellschaft“ mit den Referenten Prof. Dr. Heinz Dietrich, Rechtsanwalt H. Messmer, Hans Lösch unter Leitung von Ilse Unger ein.

10. Juni: Der Kabarettist Rainer Uthoff (Münchner Rationaltheater in Schwabing) muss seine „Knast-Aktion“ (Resozialisierung von ehemaligen Strafgefangenen) wegen Einbrüchen und Dieb-
stählen aufgeben.

Die Polizei nimmt bei einer Razzia in der Kommune der Leonrodstraße 69 in Neuhausen am 11. Juni acht ausgerissene Fürsorgezöglinge fest und beschlagnahmt einhundertfünfzig Gramm Haschisch.

„Südfront“-Initiator Dr. Winfried „Schwammerl“ Hauck wurde am 10. April in seiner Schwabinger Wohnung in der Kaiserstraße festgenommen. Er wurde verdächtigt, an den Justizattentaten vom 10. März beteiligt gewesen zu sein und ausgerissene Fürsorgezöglinge aufgenommen zu haben. – Fünfhundert Schüler des Thomas-Mann-Gymnasiums in der Drygalski-Allee 2 in Solln-Forsten-
ried fordern am 10. Dezember auf einer Vollversammlung die sofortige Wiedereinstellung ihres gekündigten Aushilfslehrers Dr. Winfried Hauck, der in seiner 7. Klasse einen Aufsatz zum Thema „Was dürfen Jugendliche nicht?“ schreiben ließ. Ein Vater hält die Themenstellung für einen „Auf-
ruf zu Anarchie und Klassenkampf“ und leitet eine Aufsichtsbeschwerde beim Schulreferat ein, die zur Kündigung führt.1

22 junge Drogenabhängige quartierten sich 1969 in der Herrnstraße 46 ein. Die betroffene Mutter Luise Jost, deren Sohn selbst fixte, half, das Anwesen bewohnbar zu machen. Am 12. November 1970 gründen gegen alle Widerstände des konservativen Bürgertums Drogenabhängige, Angehöri-
ge, unter ihnen Luise Jost und ein paar engagierte Bürger den gemeinnützigen Verein Prop e.V., damals noch unter dem Namen „Prop – Alternative e. V.“. 1972 eröffnet Prop (proposal = der Vor-
schlag) das Therapiezentrum Aiglsdorf in enger Zusammenarbeit mit dem Max-Planck-Institut als erste wissenschaftlich begleitete Einrichtung zur stationären Drogenentwöhnung Europas. In den folgenden Jahrzehnten entstehen in weiteren bayrischen Städten Zweigstellen des Vereins, der auch in bayrischen Justizvollzugsanstalten tätig wird.2

Im öffentlichen Raum entstehen Subzentren der Gegenkultur und erste Kooperativen, die nach außen wirken. Am 9. Dezember findet auf dem ersten sogenannten Vertretertag der Sozialpoliti-
schen Arbeitskreise
die Gründungsversammlung des Vereins zur Förderung der sozialpolitischen Arbeit e.V. als Träger der Arbeitsgemeinschaft sozialpolitischer Arbeitskreise (AG SPAK) statt. „Binnen weniger Jahre wurde die AG SPAK zu einem Synonym für innovative und sozialpolitisch engagierte Konzepte in verschiedenen Feldern der sozialen Arbeit. Getragen wurde diese Arbeit von Hunderten ehrenamtlich tätigen Personen aus der gesamten damaligen Bundesrepublik. Viele der erprobten und erfolgreichen Ideen aus der damaligen Zeit finden sich heute längst in den selbstverständlich gewordenen und leider oft institutionalisierten Konzepten von sozialer Arbeit. Publikationen der AG SPAK galten in den Vorlesungsräumen der Fach- und Hochschulen als Standardwerke zu Fragen der Sozialen Sicherung, der Armutsentwicklung, der Gemeinwesenar-
beit, der Jugendbewegung. – ‚Handeln, nicht behandelt werden’ – In diesem plakativen aber bis heute gültigem Slogan der AG SPAK findet sich die Grundüberzeugung, die die inhaltliche Klam-
mer um die Arbeit der AG SPAK in all den Jahren war. Begriffe wie ‚Selbstorganisation’, ‚Selbst-
verwaltung’, ‚Selbsthilfe’, ‚Dezentralität’, ‚Autonomie’ prägten die Diskussion durch die Jahre hin-
weg, waren aber immer wieder umstritten und dies nicht zu unrecht. Der Versuch eines streng aus-
formulierten Konsens über das, was die AG SPAK nun sei, ist in all den Jahren nicht erfolgreich gewesen. Doch dies macht gerade die Stärke eines solch losen Verbandes aus: die AG SPAK war und ist immer in der Lage, durch die Offenheit ihrer Strukturen und Arbeitsbereiche flexibel auf neue gesellschaftliche Herausforderungen und Entwicklungen zu reagieren. Diese Offenheit drückt sich z.B. in einer minimalen formalen Organisation aus. So gibt es beispielsweise innerhalb der AG SPAK keine formalisierte Mitgliedschaft, Entscheidungen werden meist nach dem Konsensprinzip gefällt, Sitzungen der Entscheidungsgremien sind offen für alle InteressentInnen.“3 Arbeitsberei-
che der AG SPAK: Jugend & Gesellschaft, Studentisches soziales Engagement, Jugendprojektwerk-
stätten, Behindertenarbeit, Alternative Ökonomie, Armut und Grundsicherung, „Befreiende Päda-
gogik“, Kriminalpolitik, Psychiatrie und Gesellschaft, Gemeinwesenarbeit. Zentrale Elemente sind Vernetzung und Austausch der Basisinitiativen.

Der Wiener Rolf Schwendter, promoviert in der Rechtswissenschaft, der Staatswissenschaft und der Philosophie, baute seit den 60er Jahren eine informelle Gruppe zu Fragen alternativer Kultur und Politik auf. Seine gesamten Unterlagen, mit deren Hilfe er promovierte und seine Veröffent-
lichungen bestreitet, finden in zwei riesigen, unförmigen Aktentaschen Platz. In der Münchner Gruppe sind vor allem Studierende der Kunstakademie vertreten. 1970 schreibt er eine „Theorie der Subkultur“, die erst 1973 veröffentlicht wird.4 Das umfangreiche Werk findet aber kaum Leser, da die Adressaten eher der politischen Praxis und, wenn überhaupt, der Lektüre der Klassiker (Marx, Engels, Lenin …) huldigen. Erst sieben Jahre später erfolgt eine Neuauflage, die jetzt in der Öffentlichkeit zur Kenntnis genommen wird.

Schwendter mahnt: Raus aus der bürgerlichen Kleinfamilie und rein in die Wohngemeinschaften. In München gibt es einige und die unterscheiden sich.5

(zuletzt geändert am 7.11.2020)


1 Siehe auch http://www.br.de/radio/bayern2/bayern/land-und-leute/doktor-schwammerl-und-die-apo-eichmeier100.html.

1 Siehe https://www.prop-ev.de/prop-ev/ueber-prop/historie.html.

3 25 Jahre AG SPAK. Perspektiven sozialpolitischer Arbeit in den nächsten 25 Jahren, München 1995, 4.

4 Rolf Schwendter, Theorie der Subkultur, Köln 1973/Frankfurt am Main 1978. Siehe „skizze“ von Rolf Schwendter.

5 Siehe „Schach dem Kapital“ von Günther Gerstenberg.