Flusslandschaft 1980

Wohnen

»Fia unsane Stadtplaner // Olle redns / von Wohnraumnot /awa auf de Idää / is no koana kemma / dass ma de neia / Sozialwohnungen / grod so groß baud / wiara Grob«1

An der Ecke Lerchenfeld-/Riedlstraße steht Kratzers Gasthaus, sein Flügel an der Riedlstraße wird schon immer „Riedl-Haus“ genannt. Seit Jahren droht der Abriß. „November 79 sollte Kratzers Gasthaus endlich seine Pforten für immer schließen. Der Wirt überlebte das nur wenige Wochen, und auch die alte Frau Dietrich, die ebenfalls im Flügel Lerchenfeldstraße seit über fünfzig Jahren zu Hause war, geriet durch die Aufregung an den Rand des Grabes. Sie liegt mit einem Herzinfarkt im Krankenhaus …“ Einige Unentwegte halten noch „zwischen demontierten Geländern, aufge-
schlagenem Flur, eingestürzten Decken und seit Monaten lichtlosen Treppenhäusern“ die Stellung. Riedl-Haus-Bewohner Ralf G. Landmesser: „Inzwischen (22.1.) bin ich auch raus: die Wasserrohre waren geplatzt, weil der Frost unbehinderten Zugang zum Haus hatte, mein Zimmer schwebte frei zwischen Abgründen, und auch die einstweilige Verfügung, die ich gegen den Abriß erwirkt hatte, war nutzlos geworden. Sie wurde sowieso ignoriert.“2

Freitag, 1. Februar: Fünfzehn Leute betreten die Matthäuskirche am Sendlingertor-Platz. Sie tragen einige Kartons mit lebenswichtigen Materialien, Schlafsäcke und Transparente. So besetzen für drei Tage die Kirche, um darauf hinzuweisen: „Wir sind’s satt. Wir fordern menschenwürdige Wohnungen für alle!“ Die Polizei ist schnell da, Sozialreferent Stützle eilt herbei. Angesprochen auf die herrschende Misere auf dem Wohnungmarkt redet er sich mit juristischen Floskeln heraus, sagt aber den Kirchenbesetzern auch zu, evt. leere städtische Wohnungen zur Verfügung stellen zu können. Pfarrer Hans-Georg Lubkoll verteidigt beim Sonntagsgottesdienst die Kirchenbesetzung.3 Später meint Stützle über die Kirchenbesetzer: „Die strikt gewahrte Anonymität dieser offensicht-
lich doch gelenktten Gruppe macht eine Überprüfung und gegebenenfalls Lösung der behaupteten individuellen Wohnungsnöte derzeit unmöglich. Es kam den meist jungen Leuten offensichtlich doch mehr auf eine Demonstration und nicht auf eine Lösung induvidueller Wohnungsprobleme an.“4 Nachdem das Gesundheitsamt meinte, die sanitären Verhältnisse in der Kirche seien unge-
nügend und daher die Besetzung zu beenden, verlassen die BesetzerInnen die Kirche, um als nächstes in das leer stehende, in städtischem Besitz sich befindende Haus Blumenstraße 33 einzuziehen. Dort bleiben sie nicht lange.5

„Nächtens in Lynchen – Merkt auf ihr Leute, subversiven Elemente und möglichen Hausbesetzer! Die äußerst zuvorkommende Polizei ist uns mal wieder zuvorgekommen und besitzt eine Liste,
auf der alle leer stehenden Häuser vermerkt sind, die verschärft observiert werden. Woher unser Kleinhirn das weiß? Ganz einfach, wir wurden von zwei dieser ehrenwerten Herrn mit Nach-
DRUCK gebeten, sie auf die Wache zu begleiten. Dort wurde in einer derartigen Liste nachge-
schaut, ob dieses Haus dazu gehört, was wir, wie sie zu sagen pflegten, ‚beschmierten’. Aber die eigentliche Ehre uns ‚gekrallt’ zu haben, gebührt einem überaus liebenswerten Schwarzen Sheriff, der uns auf der Straße sah, seinen Diensteifer in sich wachsen fühlte und sich herabließ, Hand an uns zu legen. So kamen wir halt zum Revier und zu dieser Information. — Merke: Der ZSD wacht, auch für die ehrenwerten Herren, Tag und Nacht. G. und S.“6

„An den Sympathisantensumpf der Häuserbesetzer!! und müde Grüße den Schläfern aus den Staatsschutzgefilden! Wir haben in einer kleinen Aktion die seit einem halben Jahr leer stehenden, vierstöckigen Mietshäuser Leonrodstraße 14 und 16 mit Transparenten und Flugblättern verschö-
nert und dort einen Flohmarkt angekündigt, der auf dem niedergewalzten 8.000 qm großen, an-
grenzenden Grundstück zwischen Leonrodstraße und Nymphenburgerstraße stattfinden soll. Diese Häuser sollen dieser Tage abgerissen werden und mit den angrenzenden 8.000 qm zusammen soll eine riesige Passage (wie die in der Amalienstraße) entstehen … Wenn erst einmal die Häuser Le-
onrodstraße 14 und 16 abgerissen sind, werden die anderen Altbauten auch abgerissen (Nr. 11 auch leer stehend) … Wir fordern: Stadt und Besitzer dieser Häuser müssen sich endlich von diesen Wohnraumumwandlungen distanzieren. Keine neuen Abrisse! Keine Zweckentfremdungen von alten Häusern! Freispruch der Häuserbesetzer, denn noch immer stehen 100 Häuser leer! – Die Polizei bemächtigte sich unserer Transparente schon nach drei Stunden. Die immens dichte Be-
wachung der umliegenden Straßenzüge durch alle möglichen Staatsschützer am frühen Morgen verhinderte die Fortsetzung der Aktion samt Flohmarkt … Auf dem anschließenden Weg, als wir die Presse informieren wollten, wurden wir regelrecht beschattet. Dabei fuhren die schläfrigen Staatsschützer durch unsere gleichstarken Verfolgungsgelüste verunsichert, schon mal die Ein-
bahnstraßen verkehrt herum rein. Sogar beim Hinterlassen von Flugblättern in dieser Gegend Tage danach schlugen die bekannten Autos und ihre Fahrer sprichwörtlich Saltos, um uns nicht aus den Augen zu verlieren. Welche Gefahr wir doch zu sein scheinen … der mobile Einsatzhaufen mit Mit-
wirkung von anderen Haufen aus anderen Regionen. Dschung Fu – die Innere Wahrheit“7

September: Hausbesetzung in der Fürstenriederstraße 227 in Laim.

Am 23. Oktober treffen sich Vertreter der Mieterinitiativen aus der Blumenau, Haidhausen, Max-
vorstadt, Moosach, Neuhadern, Neuhausen, Schwabing, Sendling und Westend8 in den Räumen der Mieterinitiative in Haidhausen und stellen fest, dass alle ähnliche Probleme haben. Sie planen die Gründung einer Dachorganisation. – Bezirksausschüsse (BAs) sind immer erste Ansprechsta-
tionen für besorgte Mitbürgerinnen und Mitbürger. Mancher Protest versackt in diesem Gremium, mancher Protest wird aber vom BA aufgenommen und in die Stadtverwaltung weiter transportiert in der Hoffnung, dass er hier nicht versackt.9

Zuckerbrot und Peitsche: Im Treppenhaus der Hedwigstraße 3 stinkt es nach Buttersäure. Ums Haus herum befindet sich eine Baustelle. Im Erdgeschoss wohnen schon Bauarbeiter. Der Besitzer will luxussanieren und bietet den alten Bewohnern 10.000,– DM an, wenn sie ausziehen.

19. Dezember: „Auf eine ‚weihnachtliche Herbergssuche’ geht mit einem Fackelzug die Mieter-
gemeinschaft Agnesstraße 56a. Die Mieter ziehen durch West-Schwabing zum Nordbad. Auf mit-
geführten Transparenten geben sie ihre Ziele bekannt: für bessere Mieterschutzgesetze, für den Erlass einer Erhaltungssatzung, gegen Spekulation und Luxus-Sanierung. Anlass zu der Aktion liefert die fortschreitende Wohnraumspekulation in Schwabing.“10 Das Haus Agnesstraße 56a
war 1978 für zwei Millionen DM und 1980 für 3,5 Millionen DM veräußert worden. Nach der Renovierung wurde den Mietern ein Kaufangebot zum „Vorzugspreis“ von 3.700 DM pro Qua-
dratmeter gemacht.

1980 sind in der Stadt ca. 16.000 Wohnungssuchende registriert, davon ca. 9.000 dringende Fälle.

Siehe auch „Gewerkschaften/Arbeitswelt“.

(zuletzt geändert am 29.1.2021)


1 Bernhard Setzwein. Hobzd mi gern. Haß – und Liebesgedichte, Feldafing 1980, 7.

2 Blatt. Stadtzeitung für München 165 vom 8. Februar 1980, 9.

3 Siehe „Aus der Begrüßung vor dem Gottesdienst am 3. Februar 1980“ von Hans-Georg Lubkoll.

4 Blatt. Stadtzeitung für München 166 vom 22. Februar 1980, 8.

5 Siehe „Nach der Hausbesetzung: Als Fallschirmjäger auf Wohnungssuche?“.

6 Blatt. Stadtzeitung für München 166 vom 22. Februar 1980, 8.

7 Blatt. Stadtzeitung für München 180 vom 12. September 1980, 12.

8 Siehe „Aussiedlung“ von Peter Eberlen.

9 Siehe „Seine Majestät, der Bürger“ von Karl Klühspies.

10 Stadtchronik, Stadtarchiv München; vgl. Süddeutsche Zeitung 295/1980.

Überraschung

Jahr: 1980
Bereich: Wohnen