Flusslandschaft 1971
Wohnen
Am 8. Juli veranstalten die Bürgerinitiativen des Lehels, Haidhausens, der Maxvorstadt und Stein-
hausens, des Westends und Nord-Schwabings einen Sternmarsch gegen den Abbruch von Wohn-
vierteln im Innenstadtrandbereich mit großer Abschlusskundgebung in der Fußgängerzone. „… In der Vorbereitungsphase versucht der spätere SPD-Stadtrat und damalige Vorsitzende der ‚Interes-
sengemeinschaft der Sanierungsbetroffenen im Lehel’, Lorenz Lichtl, den Sternmarsch als DKP-ge-
steuert zu diffamieren. OB Vogel nimmt dies nur allzu gern auf und erlässt an alle SPD-Mitglieder den ‚Hinweis’ sich an dem gegen den Stadtrat gerichteten Mietersternmarsch nicht zu beteiligen. Das wirkt. Selbst eine Teilnahme unter dem Namen BISH will man aus Angst vor der drohenden Spaltung nicht riskieren. Für den Mieter-Sternmarsch am 8. Juli 1971 ruft dann die Initiative Sternmarsch Haidhauser Bürger auf. An die 700 Haidhauser beteiligen sich vom Pariser Platz aus am Sternmarsch …“.1 – Allein aus der Maxvorstadt kommen am 8. Juli 500 Menschen. Auf einem Plakat steht: „Morgen ist alles zu spät.“ Ein von Bläsern intonierter Trauermarsch leitet das Stra-
ßentheaterstück „Das Mietenmonstrum“ ein.2 „‚Wir sind heute hier’, informierte der Kaplan von St. Ludwig, ‚weil die Entwicklung der Wohnungsnot in weiteren Bereichen der Innenstadt bedroh-
liche Formen annimmt. In drei Jahren mussten 73.000 Menschen den Bereich zwischen Schwa-
bing-Maxvorstadt und Giesing, zwischen Haidhausen und dem Westend verlassen. Rund 85 Pro-
zent gehen nach den Erfahrungen unserer Fragebogenaktion nicht freiwillig.’ Unter Beifall und Buhrufen klagte Dantscher dann: ‚Die Art, in der in unserer Stadt Menschen vertrieben werden, bedroht nicht nur das Leben einzelner. Die Kräfte, die für diese Entwicklung verantwortlich sind, verwandeln unsere Stadt immer mehr in eine Steinwüste.’ Abschließend richtete Dantscher den Appell an die Demonstranten, in den Bürgerinitiativen mitzuarbeiten, ‚Briefe zu schreiben und überall zu protestieren, wo Profit und Machtgier mehr gelten als der Mensch’ – denn: ‚Eine men-
schenwürdige Stadt wird uns nicht geschenkt., wir müssen sie erkämpfen.’“3
Am 4. November überreicht Kaplan Ralf Dantscher Oberbürgermeister Vogel die Petition der 12.000 Unterschriften, die sich für eine Erhaltung der Maxvorstadt als Wohnviertels und gegen die Ausdehnung der Universität aussprechen. Eine Ausstellung im Pfarrsaal von St. Ludwig zeigt vom 6. bis 20. November die aktuelle Verkehrsplanung und die drohende schleichende Zerstörung der Maxvorstadt.4 Die Aktion Maxvorstadt bekommt neue MitstreiterInnen und hat viele Helfer. Un-
ter ihnen befindet sich auch Margarete von Graevenitz, die im November von der Polizei um 2 Uhr in der Früh dabei erwischt wird, wie sie mit zwei Studenten „wild plakatiert“, um auf die Ausstel-
lung hinzuweisen. „Nicht nur, weil die eigene Wohnung bedroht ist, sondern weil es um das Schicksal von Tausenden von Maxvorstädtern geht, hat sich die 75jährige Großmutter von elf Enkeln der Bürgerinitiative ‚Aktion Maxvorstadt’ angeschlossen. Seit einem halben Jahr verteilt sie täglich Flugblätter, sammelt Unterschriften, marschierte beim Sternmarsch der Münchner Mieter in der ersten Reihe. ‚Meine Haare sind so weiß’, sagt Margarete von Graevenitz, ‚dass ich mir er-
lauben kann, den Leuten zu sagen: Geht für Eure Interessen auf die Straße!’“5 – In einer öffentli-
chen Diskussion fordern am 19. November Mieterinnen und Mieter Antworten von Münchner Bundestagsabgeordneten über Miet- und Bodenrecht.
Haidhausen: „… Mit der Bürgerversammlung im Dezember 1971 rückt die BISH durch ihre mona-
telange Vorbereitung in Haidhausen und eine einseitige, politisch diskriminierende Berichterstat-
tung ins öffentliche Interesse. 700 Haidhauser kommen in den Bürgerbräukeller und unterstützen mit überwältigender Mehrheit die Forderungen der BISH:
- Keine Stadtsanierung und Stadtentwicklung ohne die Beteiligung der Betroffenen,
- Zurücknahme der geplanten Tangente 3-Ost,
- Kommunalisierung des Bodens in den Ballungsgebieten und Veröffentlichung der Grundstücksverkäufe,
- Mietpreis- und Kündigungsstop und Bau familiengerechter Wohnungen,
- Stärkung des Massenverkehrs und stufenweisen Einstieg in den Nulltarif im MVV.
In der Presse heißt es dann, ‚Vogel das Mikrophon entrissen’ und ‚Linksextremisten schreien Red-
ner nieder’. Und als sich zehn SPD-Mitglieder gegen diese Hofberichterstattung mit einem Leser-
brief, der in der Münchner ‚Süddeutschen Zeitung’ nicht abgedruckt wird, wenden, schwingt OB Vogel die Keule des Parteiordnungsverfahrens …“6 Auf der anderen Seite wendet sich Vogel am 10. Dezember hilfesuchend an die Bayrische Staatsregierung und bittet um den „Erlaß einer Rechtsverordnung zum Schutz von Wohnraum“. Daraufhin erläßt die Regierung für München, Nürnberg, Augsburg, Regensburg und Würzburg eine „Verordnung über das Verbot der Zweck-
entfremdung von Wohnraum“.7
In diesem Jahr stehen auf der Warteliste des Wohnungsamts 3.000 kinderreiche Familien und 8.000 Jungverheiratete.
Siehe auch „Hausbesetzungen“.
1 Haidhauser Nachrichten. Monatszeitung für den Münchner Osten 3 vom März 1981, 7; siehe „8. juli“.
2 Fotos: Stadtarchiv Standort ZB-Ereignisfotografie-Politik-Demonstrationen.
3 Süddeutsche Zeitung vom 9. Juli 1971.
4 Vgl. tz vom 5. November 1971.
5 Abendzeitung vom 12. November 1971.
6 Haidhauser Nachrichten. Monatszeitung für den Münchner Osten 3 vom März 1981, 7.
7 Süddeutsche Zeitung vom 29. Dezember 1971.