Flusslandschaft 1971
Wohnen
„DIE SCHIKANEN EINES MÜNCHNER HAUSBESITZERS. Nach der Kündigung des Hausbesit-
zers Florian D. für den 85jährigen Rentner Alois S. und den Kaufmann Friedrich W., Vater einer 1jährigen Tochter, gingen die beiden Mietparteien zum Gericht und bekamen weiteres Wohnrecht zugesprochen. Für dieses Urteil müssen sie jetzt büßen, denn der Hausbesitzer macht seinen Mie-
tern das Leben zur Qual. Florian D. zertrümmerte mit einer Axt die Haustüre, schlug sämtliche erreichbaren Fenster vom Keller bis zum Boden ein und drehte den Wasserhaupthahn ab. Die Fol-
gen sind katastrophal: die Zimmer werden nicht mehr warm, das Wasser zapfen sich die Mieter wannenweise im Keller ab, das in der Küche des Rentners S. zu blankem Eis gefriert. Wie die AZ vom 12.1.71 mitteilt, fragt Florian D. nicht nach Kältegraden: ‚Ich kann mit meinem Eigentum ma-
chen, was ich will, wenn einem die Galle hochkommt. UND ICH KRIEG DIE RAUS, UND WENN ICH‘S HAUS ANZÜND.‘ Hier irrt Herr Fabian D.! Laut Grundgesetz Artikel 14 Absatz 2 ‚verpflich-
tet‘ Eigentum. Sein Gebrauch soll zugleich dem Wohl der Allgemeinheit dienen. Auch in der bayri-
schen Verfassung verpflichtet Eigentum. Mehr noch: ‚Offenbarer Mißbrauch des Eigentums und des Besitzrechts genießt keinen Rechtsschutz.‘ – DIE NEUE MASCHE DER MIETWUCHERER. Der Hausbesitzer in der Holzapfelstr. 10, Herr Josef Pfeffer, will nun die alten Mieter, die größten-
teils arme Rentner sind, aus ihren Wohnungen heraushaben, um die Wohnungen für Wucherprei-
se an andere Mieter zu vergeben. Dazu bedient er sich folgender unsozialer Machenschaften: Laut Schreiben vom 10.1.71 bietet Herr Pfeffer jedem Altmieter 2.000–, wenn er bis zum 11.1.72 aus-
zieht. Daraus ist ersichtlich, was der Mietwucher einbringt. Im Hause Holzapfelstr. 10 wohnt auch Frau Bucher. Die Frau trägt jeden Tag ab 4 Uhr früh Zeitungen aus, da ihr kleiner Strickwarenbe-
trieb, den sie in ihrer Wohnung hat, nicht so viel einbringt, um davon leben zu können. Herr Pfef-
fer verlangt nun von Frau Bucher 150.– mehr Miete, weil sie in einem ihrer Zimmer Strickarbeit macht. Eine solche fadenscheinige Begründung ist ein Skandal und keiner soll glauben, dass er MORGEN NICHT AUCH DAS OPFER EINER HAUSBESITZERWILLKÜR SEIN KANN.“1 Am 22. Januar demonstrieren Bewohnerinnen und Bewohner der Schwanthaler Höh’ gegen gestiegene Mietpreise, Spekulanten und Konzerne. Im Anschluss ist das Stück „Mietenmonstrum“ im Lokal Westendstraße 117 zu sehen.
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Beim Sternmarsch am 8. Juli nehmen 3.000 Mieterinnen und Mieter teil.
Am 8. Juli veranstalten die Bürgerinitiativen des Lehels, Haidhausens, der Maxvorstadt und Stein-
hausens, des Westends und Nord-Schwabings einen Sternmarsch gegen den Abbruch von Wohn-
vierteln im Innenstadtrandbereich mit großer Abschlusskundgebung in der Fußgängerzone. „… In der Vorbereitungsphase versucht der spätere SPD-Stadtrat und damalige Vorsitzende der »Interes-
sengemeinschaft der Sanierungsbetroffenen im Lehel«, Lorenz Lichtl, den Sternmarsch als DKP-gesteuert zu diffamieren. OB Vogel nimmt dies nur allzu gern auf und erlässt an alle SPD-Mitglie-
der den »Hinweis« sich an dem gegen den Stadtrat gerichteten Mietersternmarsch nicht zu betei-
ligen. Das wirkt. Selbst eine Teilnahme unter dem Namen BISH will man aus Angst vor der dro-
henden Spaltung nicht riskieren. Für den Mieter-Sternmarsch am 8. Juli 1971 ruft dann die Initia-
tive Sternmarsch Haidhauser Bürger auf. An die 700 Haidhauser beteiligen sich vom Pariser Platz aus am Sternmarsch …“.5 – Allein aus der Maxvorstadt kommen am 8. Juli 500 Menschen. Auf einem Plakat steht: „Morgen ist alles zu spät.“ Ein von Bläsern intonierter Trauermarsch leitet das Straßentheaterstück „Das Mietenmonstrum“ ein.6 „»Wir sind heute hier«, informierte der Kaplan von St. Ludwig, »weil die Entwicklung der Wohnungsnot in weiteren Bereichen der Innenstadt bedrohliche Formen annimmt. In drei Jahren mussten 73.000 Menschen den Bereich zwischen Schwabing-Maxvorstadt und Giesing, zwischen Haidhausen und dem Westend verlassen. Rund 85 Prozent gehen nach den Erfahrungen unserer Fragebogenaktion nicht freiwillig.« Unter Beifall und Buhrufen klagte Dantscher dann: »Die Art, in der in unserer Stadt Menschen vertrieben werden, bedroht nicht nur das Leben einzelner. Die Kräfte, die für diese Entwicklung verantwortlich sind, verwandeln unsere Stadt immer mehr in eine Steinwüste.« Abschließend richtete Dantscher den Appell an die Demonstranten, in den Bürgerinitiativen mitzuarbeiten, »Briefe zu schreiben und überall zu protestieren, wo Profit und Machtgier mehr gelten als der Mensch« – denn: »Eine men-
schenwürdige Stadt wird uns nicht geschenkt, wir müssen sie erkämpfen.«“7
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Am 4. November überreicht Kaplan Ralf Dantscher Oberbürgermeister Vogel die Petition der 12.000 Unterschriften, die sich für eine Erhaltung der Maxvorstadt als Wohnviertels und gegen die Ausdehnung der Universität aussprechen. Eine Ausstellung im Pfarrsaal von St. Ludwig zeigt vom 6. bis 20. November die aktuelle Verkehrsplanung und die drohende schleichende Zerstörung der Maxvorstadt.9 Die Aktion Maxvorstadt bekommt neue MitstreiterInnen und hat viele Helfer. Un-
ter ihnen befindet sich auch Margarete von Graevenitz, die im November von der Polizei um 2 Uhr in der Früh dabei erwischt wird, wie sie mit zwei Studenten „wild plakatiert“, um auf die Aus-
stellung hinzuweisen. „Nicht nur, weil die eigene Wohnung bedroht ist, sondern weil es um das Schicksal von Tausenden von Maxvorstädtern geht, hat sich die 75jährige Großmutter von elf Enkeln der Bürgerinitiative ‚Aktion Maxvorstadt« angeschlossen. Seit einem halben Jahr verteilt sie täglich Flugblätter, sammelt Unterschriften, marschierte beim Sternmarsch der Münchner Mieter in der ersten Reihe. »Meine Haare sind so weiß», sagt Margarete von Graevenitz, »daß ich mir erlauben kann, den Leuten zu sagen: Geht für Eure Interessen auf die Straße!«“10 – In einer öffentlichen Diskussion fordern am 19. November Mieterinnen und Mieter Antworten von Münch-
ner Bundestagsabgeordneten über Miet- und Bodenrecht.
Haidhausen: „… Mit der Bürgerversammlung im Dezember 1971 rückt die BISH durch ihre mona-
telange Vorbereitung in Haidhausen und eine einseitige, politisch diskriminierende Berichterstat-
tung ins öffentliche Interesse. 700 Haidhauser kommen in den Bürgerbräukeller und unterstützen mit überwältigender Mehrheit die Forderungen der BISH:
- Keine Stadtsanierung und Stadtentwicklung ohne die Beteiligung der Betroffenen,
- Zurücknahme der geplanten Tangente 3-Ost,
- Kommunalisierung des Bodens in den Ballungsgebieten und Veröffentlichung der Grundstücksverkäufe,
- Mietpreis- und Kündigungsstop und Bau familiengerechter Wohnungen,
- Stärkung des Massenverkehrs und stufenweisen Einstieg in den Nulltarif im MVV.
In der Presse heißt es dann, »Vogel das Mikrophon entrissen« und »Linksextremisten schreien Redner nieder«. Und als sich zehn SPD-Mitglieder gegen diese Hofberichterstattung mit einem Leserbrief, der in der Münchner »Süddeutschen Zeitung« nicht abgedruckt wird, wenden, schwingt OB Vogel die Keule des Parteiordnungsverfahrens …“11 Auf der anderen Seite wendet sich Vogel am 10. Dezember hilfesuchend an die Bayrische Staatsregierung und bittet um den „Erlaß einer Rechtsverordnung zum Schutz von Wohnraum“. Daraufhin erläßt die Regierung für Mün-
chen, Nürnberg, Augsburg, Regensburg und Würzburg eine „Verordnung über das Verbot der Zweckentfremdung von Wohnraum“.12
In diesem Jahr stehen auf der Warteliste des Wohnungsamts 3.000 kinderreiche Familien und 8.000 Jungverheiratete.
Siehe auch „Hausbesetzungen“.
(zuletzt geändert am 16.5.2025)
1 Westendzeitung. Wohngebietsgruppe Westend der Deutschen Kommunistischen Partei 5 vom Januar 1971, 3 f.
2 tendenzen. Zeitschrift für engagierte Kunst 82 vom April/Mai 1972, 16.
3 Flugblätter, Nachlass Zingerl, Archiv der Münchner Arbeiterbewegung
4 Fotos: Haase, Christine Strub und Konstantin Stachiw, a.a.O. 21.
5 Haidhauser Nachrichten. Monatszeitung für den Münchner Osten 3 vom März 1981, 7..
6 Fotos: Stadtarchiv Standort ZB-Ereignisfotografie-Politik-Demonstrationen
7 Süddeutsche Zeitung vom 9. Juli 1971.
8 DKP-Plakate 1968 – 1978, Neuss 1978, unpag.
9 Vgl. tz vom 5. November 1971.
10 Abendzeitung vom 12. November 1971.
11 Haidhauser Nachrichten. Monatszeitung für den Münchner Osten 3 vom März 1981, 7.
12 Süddeutsche Zeitung vom 29. Dezember 1971.