Flusslandschaft 1970

Kunstakademie

Der Student Peter Finkenstaedt wird am 10. Februar wegen erschwerten Hausfriedensbruchs nach dem Jugendstrafgesetz verwarnt, weil er am 20. Februar 1969 zusammen mit einhundertzweiund-
zwanzig anderen Studenten die Akademie der Bildenden Künste in der Akademiestraße 2 – 4 nach der Schließung durch das Kultusministerium gestürmt hatte. – Graphiker Volker Hinninger the-
matisiert die vergangenen Polizeieinsätze vor und in der Kunstakademie und kombiniert dies mit einem Selbstporträt:
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Volker Hinninger: Selbstporträt, Siebdruck. Rechts oben fliegt Kultusminister Huber. Im Absatz des Schuhs rechts unten steht “Made in USA”. Im Saum der Hose sind die Stares and Stripes ein-
genäht.

Ein Professor benötigt zur Durchführung eines Privatauftrags einen eigene Raum, den die Studie-
renden für sich beanspruchen. „Herr X …(verwies) auf einen vor etwa eineinhalb Jahren gestellten Antrag, das ehemalige Atelier Prof. Y der Studentenschaft als Gruppenarbeitsraum zur Verfügung zu stellen, der abgelehnt wurde, mit der Begründung, dass der Raum Prof. Z zugeteilt wurde mit dem Hinweis auf die Verordnung über die Nebentätigkeit der Hochschullehrer aus dem Jahre 1959 nach der die Professoren an Kunsthochschulen ein Recht auf einen Arbeitsraum haben." „Herr XY informierte den Senat, dass Prof. Z sich in einem Gespräch einverstanden erklärt habe, den Raum ab 1.1.71 abzugeben, in diesem Jahr brauche er ihn jedoch noch dringend zur Abwicklung großer Arbeiten. In der Diskussion …wurde von den Studentenvertretern beanstandet, dass Prof. Z einen Raum der Akademie für die Ausführung eines sehr hoch dotierten Privatauftrages belege. Außer-
dem wurde zu Bedenken gegeben, ob es sinnvoll sei, dass der einzige Raum von diesen Ausmaßen überhaupt an einzelne abgegeben werde."2

Im Juni suspendiert Präsident Nagel den Kunsthistoriker Harro Ernst aus seinem Bibliotheksamt.3

Die Studiengruppe für Sozialforschung e.V. wird an der Kunstakademie tätig. Ihr Leiter Prof. Al-
brecht Goeschel meint 2019: „Die Kunstakademie München war sicherlich in München die einzig authentische Konzept- und Diskurskultur antiautoritär-kritischer Politik. An der LMU wurden Berlin und Frankfurt imitiert … Für die Etablierung der ‚Studiengruppe für Sozialforschung e.V.‘ als forschende und beratende Einrichtung war die Kunstakademie von zentraler Bedeutung. Wir hatten ‚auf wundersame Weise‘ den Auftrag erhalten, das Architektur- und Kunststudium an der AdbK neu zu konzipieren. Herausgekommen ist das damals wohl erste Experiment von ‚Projekt-
studium‘. Bei der Architektur ging es uns unabhängig von dieser Organisationsform des Studiums vor allem um einer Überwindung des damals längst obsoleten Gegensatzes von Architektur und Städtebau. Mit unserem Konzept ‚Systemplanung‘ wollten wir die Akademie zu einem Zentrum offensiver Regionalanalyse und offensiven Regionalconsultings machen. Begonnen haben wir mit der ‚Regionalanalyse München‘, aus der u.a. das berüchtigte ‚Anti-Olympiabuch‘ in der Reihe Han-
ser wurde und die empörenden Olympia-Plakate mit den kopulierenden Olympia-Waldis und -Waldinen, die vom ‚Raum 86‘ fabriziert wurden. Wir selbst haben dann mit Erfolg begonnen, die kleinen Kommunen in Bayern im Rahmen der Landesentwicklungsplanung mit Gegengutachten zu den Planvorlagen zu versorgen. Viel später haben wir uns dann auch in Angola, Italien und Russland betätigt …“4

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Siebdruck

Hermann Nitsch plant im Sommer 1970 sein „Abreaktionsspiel“ als geschlossene Hochschulver-
anstaltung in der Münchner Kunstakademie. Das Kultusministerium bezieht sich in seinem Auf-
führungsverbot auf den inzwischen verwaltungsgerichtlich angefochtenen Bescheid des Amts für öffentliche Ordnung der Landeshauptstadt München. Das Amt beschreibt ein Spiel wie folgt: „Die abgehäuteten Kadaver zweier Lämmer werden gekreuzigt. Die Mitwirkenden reißen mit bloßen Händen Brust- und Bauchhöhle der Tiere auf, sie zerren die Eingeweide heraus und zerfetzen diese. Die Kadaver werden vom Kreuz gerissen, mit Nägeln durchbohrt, zerschnitten, zertrampelt, mit Blut und Gedärm überschüttet. Die Mitwirkenden besudeln sich selbst mit Blut und rohen Fleischfetzen, wobei mindestens eine Person total entkleidet wird. Boden und Wände des Veran-
staltungsraumes sowie Ausstattungsgegenstände werden mit Blut, Farbe und Kot verschmiert und bespritzt. Die Zuschauer werden aufgefordert, sich selbst zu beteiligen.“ Das Präsidialkollegium der Kunstakademie (Aloys Goergen, Franz Nagel, Thomas Zacharias) tritt daraufhin am 5. Juli aus Protest gegen das Verbot des Auftritts des Aktionskünstlers zurück. Die Professoren werten das Verbot durch das Kultusministerium als schweren Eingriff in die Lehrfreiheit und „sehen sich nicht mehr in der Lage, in den zwischen Hochschule und Kultusministerium sich verschärfenden Span-
nungen länger zu vermitteln“.6

3. August: Auf Druck des Kultusministeriums wird die Sonderausstellung der Kunstakademie zum Thema „Kunst und Gesellschaft“ im Kunstverein in der Galeriestraße 4 in der Maxvorstadt vor-
zeitig abgebrochen. Sie war Bestandteil der Politikunst-Ausstellung des Stockholmer Moderna Museet mit dem Titel „Verändert die Welt! Poesie muss von allen gemacht werden!“

Der Senat der Kunstakademie legt am 28. September beim Verwaltungsgericht Widerspruch gegen die Entschließung des Kultusministeriums ein, die einhundertzweiundzwanzig Probezeitentschei-
dungen vom Juli/August im Oktober durch Nürnberger Professoren wiederholen zu lassen. Die Entschließung stelle einen „unerträglichen Eingriff in den Kernbereich der durch die Verfassung garantierte Freiheit von Lehre und Forschung“ dar. Das Kultusministerium kann sich jedoch am 19. Oktober rechtlich durchsetzen, da die Akademie durch die Bindung an das Kultusministerium keine Klage erheben kann.

Die Erstsemestler an der Kunstakademie boykottierten am 16. Februar die Probezeitprüfung. Am 17. Februar wurde die Probezeit abgeschafft und die Öffentlichkeit der Senatssitzungen beschlos-
sen. Das Münchner Verwaltungsgericht entscheidet am 27. Oktober im Streit um die Probezeit-
prüfungen an der Kunstakademie vom 15. Juli gegen das Kultusministerium. Vierundfünfzig Stu-
denten können sich damit sofort einschreiben. Das bayrische Verwaltungsgericht widerruft am 28. Oktober die Entscheidung und beschließt die Wiederholung der Probezeitprüfung für einhundert-
zweiundzwanzig Studierende. Das Akademie-Präsidium verurteilt diese Entscheidung als schweren Eingriff in die Autonomie der Akademie.7

22. November: Das Kultusministerium lehnt die Berufung des Sozialpsychologen Dr. Hans Kilian, der als Sympathisant der APO gilt, auf den Lehrstuhl für angewandte Psychologie an der Kunstaka-
demie ab.8 Die Architekturstudenten protestieren dagegen und fordern das Kultusministerium auf, den Verdacht politischer Motivation für die Ablehnung zu entkräften.

Der Akademie-AStA veranstaltet am 19. Dezember in der TH-Mensa unter dem Titel „„Polit Pop Weihnacht“ eine Kunstauktion für Vietnam. Es spielt die Band Embryo.

„… Der jeweilige verfassungsmäßige Begriff von staatlicher Verwaltung des Bildungswesens be-
stimmt die Akademie als System ästhetischer Arbeit. Ästhetische Forschung und ästhetisches Training können als Gegenstände staatlicher Bildungsverwaltung begriffen werden … Der jeweilige verfassungsformale Begriff von Verwertung bestimmt die Akademie als System ästhetischer Arbeit. Er bestimmt insbesondere, inwieweit ästhetische Forschung und ästhetisches Training mittelbar oder unmittelbar der Herstellung eines Tauschwerts ‚Kunstprodukt’ dienen …“9

(zuletzt geändert am 27.12.2023)


1 Plakatsammlung, Archiv der Münchner Arbeiterbewegung

2 Sitzungsprotokoll des Senats der Akademie vom 22.5.1970, zit. in: Albrecht Goeschel, Denja Köhler, Akademie der bildenden Künste München und Kunstmarkt: Sonderinteressen und Gruppeninteressen der Professoren (1975). In: Albrecht Goeschel (Hg.), Planer, Architekten, Künstler. Reform des Studiums an der Akademie der bildenden Künste München 1970 – 1974, Marquartstein 2013, 40.

3 Siehe „Der Fall Harro Ernst“ von Volker Hinninger.

4 Siehe www.studiengruppe.com-projekte und Albrecht Goeschel (Hg.), Planer, Architekten, Künstler. Reform des Studi-
ums an der Akademie der bildenden Künste München 1970 – 1974, Marquartstein 2013.

5 Plakatsammlung, Archiv der Münchner Arbeiterbewegung

6 Siehe das Interview mit Hermann Nitsch „Jeder muss sich austoben“ von Stefan Szcesny.

7 Siehe „Zur sukzessiven kommissarischen Übernahme der Münchner Kunstakademie durch das Kultusministerium“ von Volker Hinninger.

8 Hans Kilian (1921 – 2008), Psychotherapeut, bis 1970 Leiter der Psychosomatischen Abteilung der Poliklinik der Univer-
sität München und Rundfunkautor, spricht regelmäßig an der Kunstakademie. Der Autor der 1971 publizierten Schrift »Das enteignete Bewusstsein. Zur dialektischen Sozialpsychologie« weist in der Tradition der Frankfurter Schule darauf hin, dass die Zeit ihres Lebens auf Kaufen und Gehorchen konditionierte Konsummonade in der spätbürgerlichen Gesellschaft darauf getrimmt werde, sich selbst zum einen als Objekt durch »die Brille des Wertsystems einer verinnerlichten Fremdautorität«, zum anderen als aus der vierdimensionalen Realität entlaufene Subjektphantasie zu sehen.

9 Akademie der bildenden Künste – Planungsgruppe – Entwurf, Juli – Dezember 1970, Arbeitsbericht Teil: Interpretation „Quellenauswahl“, Manuskript, München, 31. Dezember 1970, 24 f.