Flusslandschaft 2011

Kapitalismus

Elend und Verzweiflung: Immer mehr Menschen bringen sich um. Seit 2008 steigt die Selbst-
mordrate in Westeuropa. In den alten EU-Ländern stieg die Zahl an Suiziden im Jahre 2008 um durchschnittlich acht Prozent an, im Jahre 2009 dann um weitere fünf Prozent. In Griechenland und Irland, zwei Ländern, deren Bevölkerung besonders hart von der Krise getroffen wurde, stieg die Suizid-Rate binnen zweier Jahre um 17 bzw. dreizehn Prozent.1

Im September fordert attac und weitere Gruppen unter dem Motto „Krötenwanderung“ dazu
auf, die eigenen Finanzgeschäfte nur noch bei Kreditinstituten abzuwickeln, die sich ethisch zu verhalten versprochen haben.2

Anlässlich eines Besuchs des portugiesischen Ministerpräsidenten sagt die Bundeskanzlerin im September auf die Frage, ob sie um die Schlagkraft des Rettungsschirms fürchte, wenn der Bun-
destag und alle anderen nationalen Parlamente in Europa bei wichtigen Entscheidungen vorab mitbestimmen wollen: „Wir leben ja in einer Demokratie und sind auch froh darüber. Das ist eine parlamentarische Demokratie. Deshalb ist das Budgetrecht ein Kernrecht des Parlaments. Insofern werden wir Wege finden, die parlamentarische Mitbestimmung so zu gestalten, dass sie trotzdem auch marktkonform ist, also dass sich auf den Märkten die entsprechenden Signale ergeben.“

Im September beginnt die „Occupy Wall Street“-Bewegung in New York. Es entsteht eine Massen-
bewegung, die nach Europa hinüberschwappt. Das Aktionsbündnis EDJ-München, Occupy Toge-
ther München
und attac rufen für Samstag, 15. Oktober, 11 Uhr, zu einer Protestkundgebung am Stachus auf.3 – Am Samstag, 22. Oktober, findet ab 12 Uhr eine „Asamblea“ am Sendlinger Tor statt: „Da wir uns mit nur einer Demo zum 15. Oktober 2011 nicht zufrieden geben und dem System, den Politikern und Wirtschaftsriesen weiterhin die Stirn bieten wollen, werden wir am Samstag ab 12 Uhr das Sendlinger Tor besetzen. Ich lade euch ein, echte Demokratie mit uns zu leben, mit uns zu diskutieren, zu demonstrieren, zu musizieren, zu meditieren, zu lachen und zu weinen, einfach still zu sein, eure Meinung kund zu tun und gehört zu werden. Gemeinsam werden wir gesehen, können die Herzen der Menschen berühren und die kritische Masse erreichen!“4 – Am Samstag, 12. November, findet – parallel zu ähnlichen Veranstaltungen in vielen anderen Städten – in München auf dem Odeonsplatz eine Groß-Demo gegen Banken-(Über)Macht und für mehr Demokratie und soziale Gerechtigkeit statt. Organisiert wird das Ganze von Echte Demokra-
tie Jetzt! München
(Asamblea de Indignados) sowie von Occupy München mit Unterstützung durch viel weitere Gruppen und Organisationen. Konstantin Wecker (Liedermacher), Ecco Meine-
ke (Kabarettist), Lea Won (Rap) und Benedict Reichs (DigitalGraphic-Art) haben ihre Teilnahme zugesagt. Bei der Kundgebung wird ein Flugblatt verteilt, das darauf hinweist, dass nicht die „Gier der Banker“ Ursache der Krise ist.5 – Auch am folgenden Samstag trifft sich occupy. Frau Hübner will daran teilnehmen, aber es gelingt ihr nicht.6

„Bei der Gründung vor zehn Jahren hat man uns Globalisierungsgegner noch milde belächelt. Heute zählen wir 1.000 Mitglieder allein in München. Damals wurde auch das EineWeltHaus in der Schwanthalerstraße eröffnet, wo sich mehr als 80 Initiativen – darunter Migrantengruppen, Sozialforum, Münchner Friedensbündnis – regelmäßig treffen. Immer mehr Bürgerinnen und Bürger begreifen, dass man die Finanzspekulanten bändigen muss und dass Neoliberalismus nur ein anderes Wort für Neokolonialismus ist. Afrika ist ja enorm reich an Ressourcen, erst unsere systematische Ausbeutung hat es arm gemacht. Die hiesige »Occupy-Wall-Street«-Bewegung ist sehr plötzlich und unabhängig von Attac entstanden, wir haben unser Know-how zur Verfügung gestellt. Interessanterweise sind die Occupy-Leute jünger als wir von Attac. In jeder Generation finden sich eben Menschen, die sich nicht nur empören, sondern für eine gerechte Welt und die Erhaltung der Natur engagieren.“ Bernd Michl, Gründungsmitglied der Münchner »Attac«-Grup-
pe.7

In den Medien ist ununterbrochen zu hören, dass „WIR über unsere Verhältnisse gelebt hätten“. Der Schreiber dieser Zeilen zählt sich nicht zum WIR. Die vorherrschende Erklärung für die ge-
genwärtige Weltwirtschaftskrise besteht außerdem darin, sie sei auf die Krise im Finanzsektor, die „Raffgier“ und den „Größenwahn“ der Banker und die Unfähigkeit der Politiker zurückzuführen. Die kapitalistische Realwirtschaft dagegen funktioniere immer noch wunderbar. Tatsache ist: Das Wachstum der Weltwirtschaft wird seit mehr als dreißig Jahren wesentlich durch spekulative Dif-
ferenzgewinne, Defizitkreisläufe und staatliche Konjunkturprogramme, also durchs Schuldenma-
chen in Gang gehalten, während die atemberaubende Entfaltung der Technologien menschliche Arbeit marginalisiert, der produktive Sektor kleiner wird und der Kapitalismus seine eigene Basis, die Mehrwertproduktion, untergräbt. Nur interessiert sich kaum jemand für die tieferen Ursachen der heutigen Krise …

Siehe auch „Bürgerrechte“.


1 Vgl. Effects of the 2008 recession on health: a first look at European data In: The Lancet Volume 378, Issue 9786.

2 Siehe „Kröten in Nöten“ und „attac-Krötenwanderung“ von Wolfgang Blaschka.

3 Siehe „Lied der nationalen Agenda 20/11“ von Wolfgang Blaschka.

4 Rundmail vom 20. Oktober 2011.

5 Siehe „Crashkurs“.

6 Siehe „Frau Hübner wollte sich heute die occupy munich-Bewegung angucken …“.

7 Münchner Feuilleton. Kultur, Kritik, Kontroversen 2 vom 11. November 2011, 2.

Überraschung

Jahr: 2011
Bereich: Kapitalismus