Materialien 2005

Offener Brief des AStA der Universität München

München, 17.4.2005

An: Alle Fraktionen / Gruppen im Stadtrat der LH München
Herrn Oberbürgermeister Christian Ude
Presse

Sehr geehrte Damen und Herren,

zur Vollversammlung der Stadtrates der LH München am 20.4.2005 werden zwei Anträge aus der
CSU-Fraktion zur Abstimmung stehen, die sich mit der Frage befassen, in welcher Form in München dem – nun 60 Jahre zurückliegenden – Ende des Zweiten Weltkrieges zu gedenken sein sollte. Natürlich ist diese Frage weit über die Grenzen der Stadt München, im gesamten Bundesgebiet und auch international eine diskutierte Frage, dennoch gewinnt sie in der Stadt des „Münchener Abkommens“ mit ihrer Geschichte als ehemalige „Hauptstadt der Bewegung“ eine besondere Bedeutung. Auf diese Bedeutung wollen wir mit diesem Brief ebenso hinweisen, wie wir durch ihn unsere Empörung über eine durch den Stadtrat der LH München am 16.3.2005 beschlossene Resolution im Zusammenhang mit der Neonazi-Demonstration am 2.4.2004 zum Ausdruck bringen wollen.

Der AStA der Universität München unterstützte die Proteste gegen jene scheußliche Manifestation des alten und neuen Faschismus in dieser Stadt. Doch die Art und Weise, wie die Stadt München zu den Protesten aufgerufen hat, ist untragbar. In der Resolution formuliert der Stadtrat:

„… Die Landeshauptstadt München wird im Gedenkjahr 2005 … aller Opfer der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft und des Zweiten Weltkrieges gedenken. Dabei müssen Ursache und Wirkung im historischen Zusammenhang gesehen und dargestellt werden. Auch wenn das von Deutschen erlittene Unrecht der Vertreibung und die Leiden der deutschen Bevölkerung
unter den schrecklichen Auswirkungen des Krieges, vor allem der Bombardierung von Städten, selbstverständlich Themen des Gedenkens sind, darf es keine Verkehrung der historischen
Ursächlichkeiten geben…“

Auch wir wenden uns scharf gegen die Verkehrung der historischen Ursächlichkeiten und auch wir bestehen darauf, dass der Holocaust als Verbrechen gegen die Menschlichkeit einzigartig war, wie es im späteren Verlauf der Resolution noch ausgeführt wird.

Dennoch: Die Charakterisierung des Abkommens von Potsdam und die Gesetze der tschechoslowakischen Nachkriegsregierung als „Unrecht“ stellt nicht nur eine Verdrehung historischer Ursächlichkeiten dar – sondern ist vielmehr ein Angriff auf die europäische Nachkriegsordnung als solche. Dies kann nur als revisionistisch bezeichnet werden.

München war die Stadt, in der im Zeichen des Münchener Diktats die Zerschlagung der Tschechoslowakei beschlossen wurde. Damals, im Zeichen der Volksgruppenpolitik des Faschismus, waren es die „Rechte der sudetendeutschen Bevölkerung“, die den Vorwand für diesen Akt des Krieges lieferten. Hier liegen die „historischen Ursächlichkeiten“, die der Stadtrat der LH München nicht „verkehren“ will und dennoch verkehrt, wenn er das „Unrecht der Vertreibung“ zitiert. Ganz im Sinne der Rhetorik der Verbände sog. „Heimatvertriebener“ wird hier ein Teil der Prozesse, die spätestens mit dem Diktat von München begonnen hatten, herausgeschnitten und singulär mit einer Kennzeichnung versehen, die immer Konsequenzen haben muss: „Unrecht“.

Wenn das Potsdamer Abkommen „Unrecht“ war, wenn die Gesetze der tschechoslowakischen Nachkriegsregierung „Unrecht“ waren, dann muss „Unrecht“ wieder gut gemacht, dann müssen die Opfer für das von ihnen erlittene „Unrecht“ entschädigt werden.Wem Unrecht widerfährt, der besitzt in der Regel das Recht zu klagen. Indirekt hat der Stadtrat in diesem Fall die Rechtmäßigkeit auf Klage gegen die Beschlüsse des Potsdamer Abkommens gutgeheißen. Der insbesondere aus dem Freistaat Bayern betriebene Versuch, die Revision der Nachkriegsordnung in Europa zur Bedingung für den EU-Beitritt der Tschechischen Republik zu machen, ist gescheitert. Die entscheidende Forderung war hier insbesondere die Rücknahme der sogenannten „Beneš-Dekrete“, die nach wie vor – und nunmehr auch durch europäische Institutionen – anerkanntes Recht sind. Und eben nicht „Unrecht“, wie dies der Stadtrat nunmehr im Zeichen der Gegenwehr gegen Neo-Faschisten festgestellt hat.

Die NPD fordert in ihrem Parteiprogramm „ein Eingeständnis unserer früheren Gegner, dass die zielgerichtete Bombardierung der Zivilbevölkerung Zivilbevölkerung, die Ermordung und Vertreibung von Millionen deutscher Zivilisten nach dem Krieg und die Tötung deutscher Kriegsgefangener Verbrechen sind, die auch heute noch geahndet werden müssen.“. (Parteiprogramm der NPD Abs. 5). Stadtrat Weinfurtner, von Vertretern seiner ehemaligen Partei DIE REPUBLIKANER wegen seiner überbetont rechten Positionen aus dieser ausgeschlossen, betonte im Stadtrat der LH München: Er könne dem ersten Teil der Resolution des Stadtrates (der Teil, aus dem wir zitiert haben) durchaus zustimmen.

Die Diskussion um die Vertreibung und die Bombardierung der Städte im 2. Weltkrieg, in deren
Schatten oft die Neudefinition der Opfer propagiert wird, wird als Spielwiese und Nährstoff rechtsgerichteter Gruppierungen, z.B. der NPD, dankbar angenommen. Die pauschale Verurteilung der Beschlüsse des Potsdamer Abkommens als Unrecht und die ständige Hervorhebung der Bomben-Opfer des 2. Weltkriegs verstellen den Blick auf das eigentliche Unrecht: der Angriffskrieg Deutschlands und die Vernichtung von Millionen von Menschen, dem Holocaust.

Wir erwarten mehr vom Stadtrat der LH München, wenn er sich Mobilisierungen alter und neuer Nazis gegenübersieht. Wir erwarten – nicht nur im sechzigsten Gedenkjahr nach Kriegsende – Sensibilität und historisches und politisches Verantwortungsbewusstsein.

Die durch den Stadtrat verabschiedete Resolution zeigt wenig davon und wäre eher ein Anlass für den Oberbürgermeister, sich bei der tschechischen Regierung für diese Entgleisung zu entschuldigen, worum wir ihn hiermit auch herzlich bitten.

Nun bleibt zu hoffen, dass es dem Stadtrat auf seiner Vollversammlung am 20.4.2005 nicht dermaßen an politischem Augenmaß und Verständnis mangelt, wie dies zuletzt am 16.3. offenbar der Fall gewesen ist.

Wir möchten außerdem bitten, dieses Schreiben im Sinne von Transparenz und offenem Meinungsstreit in diesem wichtigen Themenfeld in der Rathaus-Umschau abzudrucken.

Dorothee Chlumsky — Cornelia Rapp
1. AStA-Vorsitzende 2. AStA-Vorsitzende


Mit Links vom Mai – Februar 2005, 3 f.

Überraschung

Jahr: 2005
Bereich: Rechtsextremismus