Materialien 1969

Arbeitsbericht Südfront

(München)

Die Südfront entstand aus dem bekannten Motto der Studentenbewegung in der letzten Zeit: Raus aus der Uni! Die Frustration der Münchener Linken und der allgemeine Aktionswille waren Voraussetzungen dieser Gruppe. Ein paar Zufälle führten zum Kontakt mit Heimzöglingen und richteten das Interesse auf deren Situation. In der Uni erschienen die ersten Flugblätter, die auf die Situation von Randgruppen verwiesen und zum Ausbruch aus dem Uni-Ghetto aufforderten. Es folgten dann die ersten Flugblattaktionen und Diskussionen von einigen Erziehungsheimen in der Nähe Münchens.

Erwartet wurde von der Arbeit, dass es relativ schnell gelingen würde, die Heim-Jugendlichen zu politisieren und eine Massenbewegung aus der Sache zu machen. Man hoffte, durch eine Massenflucht aus den Heimen oder Aufstände in den Heimen die Öffentlichkeit zu mobilisieren und auf die Sozialbürokratie Druck ausüben zu können.

Die Jugendlichen sollten zu Kommunen, die sich als politische Zellen verstehen sollten, zusammen gefasst werden und im Zuge der “Massenlinie” in eine proletarische Jugendorganisation eingegliedert werden.

Die asozialen Verhaltensweisen der Jugendlichen wurden als unbewu8ter Protest gegen die bestehenden Gesellschaftsverhältnisse aufgefasst, woraus automatisch geschlossen wurde, dass sie damit dem ‚normalen’ Proletariat schon ein Stück voraus wären.

Ziel der Arbeit war es, diesen Protest bewusst zu machen und die kurzen, unspezifischen Wutausbrüche in einen langen produktiven Hass gegen die bestehende Gesellschaft zu verwandeln, d.h. die bestehenden Aggressionen gegen ihre wirklichen Ursachen zu richten und diesen Jugendlichen realitätsgerechte Wege zur Veränderung der schlechten Wirklichkeit zu zeigen.

Das Interesse der Zielgruppe war von vornherein ein anderes als das der Südfront. Die Jugendlichen erwarteten und erhofften eine Verbesserung ihrer persönlichen existenziellen Situation. Eventuell waren sie auch angelockt von dem abenteuerlichen Flair der Münchener Subkultur und erhofften ein entsprechend interessantes Erlebnis in Schwabing (4 schöne Wochen bei der APO).

Das Interesse der Südfront war, diese Jugendlichen zu politisieren und zu eigenem politischen Engagement zu bringen. Heim-Jugendliche waren für sie revolutionäres Potential. Die persönliche Hilfeleistung war sekundär – jedenfalls theoretisch — im Vordergrund stand der politische Anspruch.

Dieser Unterschied erschwerte die Zusammenarbeit erheblich, weil die Jugendlichen sich entweder von dem politischen Anspruch gar nicht rühren ließen, oder aber sich für die (ihnen unverständlichen) Zwecke der Südfront ausgenutzt und als Objekte behandelt fühlten. Sie versuchten dann, diesen Anspruch zu unterlaufen und doch zu ihrem Ziel zu kommen, nämlich private Hilfe zu erhalten.

Die Genossen fühlten sich dann andererseits wieder nur zu karitativen Zwecken ausgenutzt und waren enttäuscht, wenn sie bemerken mussten, dass politisches Interesse bei den Jugendlichen nicht gewerkt werden konnte oder nur geheuchelt wurde.

Das große Nachholbedürfnis dieser Heimjugendlichen, was ein eigenes und freies Leben betrifft, und das durch das Schwabinger Reizangebot noch doppelt verstärkte Konsumbedürfnis wurde vorher einfach nicht genügend in Rechnung gestellt. Die Genossen glaubten, das würde sich so in 4 Wochen austoben. Natürlich kollidierten diese Bedürfnisse der Jugendlichen dann stark mit der von der Südfront angestrebten politischen Arbeit.

Außerdem ist es ausgesprochen schwierig, jemandem, der dauernd Existenzängste hat (kein Geld, nichts zu essen, Angst vor der Polizei usw.), irgendwie gesellschaftliche Zusammenhänge klar zu machen. Die notwendige Basis für politische Arbeit, nämlich materielle Sicherung, wurde jedoch praktisch nie erreicht. Die existenziellen Probleme beherrschten die Tagesordnung. Schließlich kam noch hinzu, dass der andere soziale Hintergrund und die völlig andere Situation, Interessen und Sprache der beiden Gruppen, die Verständigung unglaublich schwer machten. Dieses Problem war von den Südfront-Genossen vorher wohl nicht gesehen oder nicht ernst genommen worden. Jedenfalls war niemand darauf vorbereitet.

Karitative Hilfe war trotz gegenteiliger Konzeption praktisch der Hauptteil der gesamten Arbeit, in Geld und persönlichem Einsatz der Genossen kaum auszudrücken.

Die abgehauenen Jugendlichen wurden nicht agitiert, sondern nur notdürftig mit dem Notwendigsten versorgt. Man brachte sie irgendwie unter (oft nur für ein paar Nächte), gab ihnen mit zu essen, organisierte Arbeitsstellen, führte Briefwechsel mit den Eltern, rannte aufs Jugendamt usw.

In kurzer Zeit wat die Südfront von dem Massenandrang Ausgerissenen einfach überrollt. Sie war darauf organisatorisch überhaupt nicht vorbereitet und verhaspelte sich nun ganz und gar in die Bewältigung der dringendsten materiellen Probleme. Man scheute sich vor der Konsequenz, Jugendliche in ihre Heime zurückschicken zu müssen und versuchte deshalb verzweifelt, jedem, der ankam, mehr schlecht als recht zu helfen. Mehr war da einfach nicht mehr drin, die Arbeit wurde immer unpolitischer. Der enorme materielle Aufwand und der dauernde psychische Druck erzeugten bei den Genossen Gereiztheit, aggressive Ausbrüche und Nervenzusammenbrüche. Uneingestandene Enttäuschung über die Undankbarkeit der Heim-Jugendlichen, die alle Kühlschränke leer fraßen, einem dauernd auf der Pelle hockten und meist nur rumlungerten, machte sich stillschweigend breit.

Bald weigerten sich viele Genossen, noch einmal Lehrlinge aufzunehmen, weil sie durch die negativen Erfahrungen enttäuscht und abgeschreckt waren.

Andere luden sich aus humanitären Gefühlen („man kann die doch nicht auf der Straße stehen lassen“) immer mehr Probleme auf, nahmen Abgehauene auf, bis die Wohnungen überquollen (bis zu 10 Personen in 1 Zimmer) und die Inhaber materiell und psychisch am Ende waren.

Wohnungen wurden gekündigt, weil Lärm und ständiges Ein und Aus den Mitbewohnern auf die Nerven gingen. Der Zustand in den beiden Hauptwohnungen war zeitweise katastrophal, die existenzielle Not wurde immer bedrängender.

Die Situation wurde so widersinnig, dass eine Polizeirazzia heimlich als Erleichterung empfunden wurde, weil danach ein paar Leute weniger da waren.

Die studentischen Wohngemeinschaften waren mit diesem karitativen Einsatz, den sie gar nicht gewollt und nicht vorausgesehen hatten, völlig überfordert. Nur noch widerwillig und aus Schuldgefühlen wegen der eigenen Privilegien befasste man sich mit den „Lehrlingen“.

Lange wollte man sich selbst nicht zugeben, dass ein politischer Ansatz gar nicht mehr vorhanden war, aber einige begannen unter der Hand davon zu reden, dass es für sie nur noch darum ginge, sich einigermaßen ehrenhaft aus der Sache zurückzuziehen.

Der Schwung vom Anfang war verpufft, die weitere Arbeit war mehr moralisch begründet, die Suppe, die man sich eingebrockt hatte, musste jetzt auch ausgelöffelt werden.

Die Reflexion begann eigentlich erst, als durch die große Razzia alle Lehrlinge weg waren.

Die Einsicht in die Unfruchtbarkeit der Arbeit und den zu hohen karitativen Anteil führte dann auch schnell zur teilweisen Auflösung der Südfront. Ein Teil wollte so weitermachen, weiter Lehrlinge aufnehmen, aber in besserer theoretischer Arbeit als bisher eine Randgruppenstrategie entwickeln – ein anderer Teil forderte endgültige Auflösung der Südfront, weil die Gruppe einfach unfähig sei, eine effektive politische Arbeit zu leisten. Dieser Teil verwandte seine Energie mehr und mehr auf das inzwischen von einem Verein betriebene Projekt „Jugendkollektive“. Etwa seit Weihnachten hat sich die Gruppe völlig verflüchtigt. Es gibt keine Südfront mehr.


Rote Presse Korrespondenz 54 vom 27. Februar 1970, 8 ff.

Überraschung

Jahr: 1969
Bereich: Jugend