Materialien 1969
Klassenkampf gegen Wahlkampf
Dies ist die teilweise ergänzte und teilweise gekürzte Fassung eines Beitrages, der den Arbeiter-Basisgruppen in München als Diskussionsgrundlage diente und ursprünglich im SDS-Info er-
scheinen sollte.
In gewissem Sinn drückt das Erscheinen dieses Beitrags zu dieser Zeit und an diesem Ort den traurigen Zustand unserer Bewegung aus. Vor zwei Monaten für die Diskussion eines offensiven und klassenkämpferischen Eingreifens in den Wahlkampf geschrieben, war er eigentlich schon zu spät geschrieben, um diesen Zweck erfüllen zu können. Jetzt, wo der theoretische Ansatz dieses Beitrags zur Diskussion gestellt werden kann, verfügen die Arbeiter-Basis-Gruppen in München zwar über einige Erfahrungen beim Versuch der Umsetzung dieses Ansatzes in die Praxis. Aber dieser Versuch ist nicht zu der klassenkämpferischen Praxis gekommen, die uns tatsächliche Rückschlüsse auf die Brauchbarkeit unseres theoretischen Ansatzes erlauben würde. Andererseits haben in der Hüttenindustrie, im Bergbau und Teilen der metallverarbeitenden Industrie jetzt die Auseinandersetzungen stattgefunden, die der Prüfstein auf unseren theoretischen Ansatz sein könnten – wenn dort zumindest eine der Agitation der Arbeiter-Basis-Gruppen vergleichbare Vorarbeit geleistet worden wäre.
Theorie und Praxis
Auf den ersten Blick scheint es so, als hätten wir zwar die richtige Theorie über den Parlamentaris-
mus und als hätte es gegenüber dem Bundestagswahlkampf nur an der entsprechenden Praxis ge-
fehlt. Tatsächlich aber sind z.B. in der Erklärung des SDS-Bundesvorstands zur Bundestagswahl die Ungenauigkeiten enthalten, die der Hilflosigkeit unserer Praxis gegenüber dem Wahlkampf entsprechen. Es heißt da: „Parlamentswahlen in hochindustrialisierten Klassengesellschaften wie der Bundesrepublik erzeugen den Schein, als könnte die ganze Bevölkerung über ihre Geschichte und ihre Interessen politisch entscheiden. Dieser Schein verschleiert im Bewußtsein breiter Mas-
sen die Klassenherrschaft des autoritär-sozialstaatlichen Kapitalismus.“ Wodurch unterscheidet sich solch eine Feststellung noch grundsätzlich von der Ansicht der DKP außer, daß die DKP meint: weil die Parlamentswahlen diesen Schein erzeugen, müssen wir uns an ihnen beteiligen. Der Zusammenhang zwischen den Wahlen und der Verschleierung der Klassenherrschaft ist aber doch ein wechselseitiger: Die Verschleierung der Klassenherrschaft wird nicht durch die Wahlen erzeugt. Sondern einerseits ist die Reduktion des Klassenantagonismus auf den Interessenplura-
lismus die Voraussetzung für das Funktionieren des spätkapitalistischen Parlamentarismus. An-
dererseits kann der Parlamentarismus auf dieser Grundlage seine Funktion bei der Aufrechterhal-
tung der Klassenherrschaft erfüllen. Der Parlamentarismus sorgt dafür, daß in der institutionali-
sierten politischen Auseinandersetzung nicht mehr Klasseninteressen, sondern nur noch plura-
listische Gruppeninteressen sichtbar werden.1 Dadurch wird einerseits eine Sphäre geschaffen, in der politische Auseinandersetzungen von vornherein ohne jeden systemgefährdenden Klassenbe-
zug „ausgefochten“ werden können. Andererseits wird dadurch wirksam der Gefahr einer Politisie-
rung des Klassenantagonismus vorgebeugt. Indem Klasseninteressen aus der bürgerlichen Politik, die als einzige Möglichkeit von Politik erscheint, verbannt werden, erscheinen sie schlechthin als „unpolitisch“. Dies zeigte sich ganz deutlich bei den streikenden Arbeitern, die immer wieder be-
tonten, daß ihr Kampf nichts mit Politik zu tun hat. Wir machten die gleiche Erfahrung auf der Reproduktionsebene: selbst wo die Mieter deutlich gegen die herrschende Politik Stellung bezie-
hen, betonen sie, daß ihr Kampf ganz und gar „unpolitisch“ ist. Darin zeigt sich zugleich, daß der Parlamentarismus eben nicht den Schein erweckt, als könnten die Massen über ihre Interessen politisch entscheiden. Vielmehr unterscheiden sie zwischen den Interessen, die sie als ihre eigenen erkennen, und dem, was sie unter Politik verstehen. Wenn sie sich für ihre eigenen Interessen einsetzen, wehren sie sich gegen jede Politisierung, weil sie aufgrund des parlamentarisch institu-
tionalisierten „Kampfes“ zwischen pluralistischen Gruppeninteressen unter Politisierung verste-
hen, daß sie für die Interessen irgendeiner Gruppe eingespannt werden sollen.
Man mag die angedeutete Kritik an der Erklärung des SDS-Bundesvorstands für spitzfindig halten; besonders angesichts der Tatsache, daß sich der zweite Teil der Erklärung gegen eine Beschrän-
kung auf „die Aufklärung über die Scheinhaftigkeit des Wahlkampfs“ wendet und für den Wahl-
kampf konkrete Aktionen in Bereichen ankündigt, in denen Klasseninteressen zum Tragen kom-
men und die sich zum Teil mit den praktischen Vorschlägen dieses Beitrags treffen. Aber nicht zu-
fällig bleiben diese angekündigten Aktionen ohne Vermittlung zum analytischen Teil der Erklä-
rung. Eine solche Vermittlung läßt sich nicht herstellen, wenn man davon ausgeht, daß die Ver-
schleierung der Klassenherrschaft maßgeblich durch die Wahlen geleistet wird (dann müßte die Aufklärung über die Scheinhaftigkeit des Wahlkampfs allerdings das eigentliche politische Ziel der revolutionären Gruppen sein). Erst wenn man davon ausgeht, daß der westdeutsche Parlamenta-
rismus und die Bundestagswahlen ihre Funktion nur auf der Grundlage der Reduktion des Klas-
senantagonismus auf den Interessenpluralismus erfüllen können, ergibt sich eine tatsächliche Vermittlung zwischen Kämpfen, die Klasseninteressen mobilisieren, und dem Wahlkampf: Solche Kämpfe stellen dann eine wirkliche Gefährdung der Funktion des Wahlkampfs dar. Der Versuch, den Wahlkampf gegen solche Kämpfe zu verteidigen, würde nicht nur selber den Wahlkampf ent-
larven, sondern würde dazu beitragen, daß diese Kämpfe über ihren unmittelbaren Anlaß hinaus-
wachsen und sich zu Konflikten mit dem kapitalistischen System entwickeln.
Erst wenn der Wahlkampf nicht bloß da angegriffen wird, wo er sich selber .präsentiert (das sind vor allem Wahlveranstaltungen), sondern wenn der Wahlkampf als Aktionsfeld für Klassenkämpfe genutzt wird, ist auch die wirkliche Antwort auf die Frage der Massen gegeben, was sie angesichts der Bundestagswahl tun sollen. Es bringt die Massen keinen Schritt weiter, wenn sie aus einer Aufklärung über den Parlamentarismus nur den praktischen Schluß ziehen, daß es zwischen den zur Wahl stehenden Parteien keine Wahl gibt und daß auch nichts erreicht wird, wenn man ADF wählt. Es bringt die Massen keinen Schritt weiter, wenn wir ihnen erklären, daß sie beschissen werden etc. Das bringt sie ebenso wenig weiter, als wenn wir ihnen klarmachen wollen, daß die Gesellschaft in „oben“ und „unten“ gespalten ist – das wissen sie nämlich schon alles, und je mehr sie es wissen, umso ohnmächtiger kommen sie sich nur vor.2 Es ist nicht die Erkenntnis, wie stark der Gegner ist, die die Massen dazu bringt, zu kämpfen – sondern es ist die Erkenntnis und Er-
fahrung der Massen, daß sie stark sein und erfolgreich kämpfen können, die sie zu kämpfenden Massen macht.
Die Bedeutung revolutionärer Arbeit während des Wahlkampfs liegt weniger darin, daß dadurch der Parlamentarismus entlarvt wird. Sondern sie besteht vielmehr darin, daß der Wahlkampf für einen der vielen notwendigen Angriffe gegen den Kapitalismus genutzt wird. Die Analyse der Funktion und Wirkungsweise des Parlamentarismus im Westdeutschen Spätkapitalismus, wie sie hier am Anfang angedeutet wurde, zeigt uns nicht nur, wie stark unser Gegner heute ist und wel-
cher Mittel er sich bedient. Sie zeigt uns auch, wo und wie er angreifbar ist.
Im Konsumtionsbereich
Einerseits besteht gerade die Funktion und Wirkung des Parlamentarismus in der Verdrängung des Grundwiderspruchs zwischen Lohnarbeit und Kapital hinter den Pluralismus von Einzelin-
teressen, in denen sich der Arbeiter höchstens noch als Verbraucher, als Mieter, als Benutzer von Verkehrsmitteln usf. erkennt. Andererseits gehen mit dem Ende des „Wirtschaftswunders“ auch in diese Einzelinteressen materielle Interessen ein, die unmittelbare Interessen eines größeren Teils der lohnabhängigen Bevölkerung sind und die im parlamentarischen Interessenspiel nicht mehr zur Geltung kommen können. Ganz konkret: für die Münchner Altbaumieter haben das Bundes-
tagsspiel und die Große Koalition nach der Einführung des „Grauen Kreis“ etwas von ihrer inte-
grierenden Funktion eingebüßt. Die „linken“ Jungsozialisten erwiesen ihrer Partei keinen guten Dienst, als sie vor kurzem unter dem Motto „Stoppt die Mietpreise“ für die SPD Wahlpropaganda machen wollten. Trotz des Aufgebots an SPD-Prominenz und des einheimischen Paradepferdes OB Vogel erschienen zu der Massenveranstaltung kaum zwanzig Leute.
In solchen Bereichen, wo das Parlament „versagt“ hat, könnten wir den Wahlkampf mit direkten Aktionen und exemplarischer Entfaltung von massenhafter Selbsthilfe (Besetzung von leerste-
henden Häusern etc.) konfrontieren. Der Wahlkampf könnte dann dazu beitragen, die Alternative zwischen parlamentarischer „Interessenvertretung“ und massenhafter Selbstvertretung praktisch zu machen. Dabei bestehen aber zumindest zwei Gefahren. Erstens wird es sich wohl um derart begrenzte Konflikte handeln, daß sie mit entsprechenden Zugeständnissen aufgefangen werden können. Zweitens besteht die Gefahr, daß die mobilisierten Massen nun erst recht beginnen, nach den Parteien zu schielen, weil sie sich von ihren Aktionen gerade im Wahlkampf einen sonst nicht möglichen Druck auf die Parteien versprechen. Schließlich ist ja der Konsumtionsbereich das Feld, auf dem sich der Interessenpluralismus breit gemacht hat und die Parteien hausieren gegangen sind. Schließlich dienten die Auseinandersetzungen im Konsumtionsbereiht gerade dazu, den Grundwiderspruch zwischen Lohnarbeit und Kapital aus dem Bereich politischer Auseinander-
setzungen zu verdrängen. Es wird also entscheidend sein, wieweit es uns gelingt, den Grundwi-
derspruch in diesen Kämpfen im Konsumtionsbereich praktisch zur Geltung zu bringen und die Mobilisierung in eine klassenspezifische zu überführen.
Im Produktionsbereich
Einerseits zeichnet sich also der Nachkriegsparlamentarismus dadurch aus, daß sich die Arbeiter-
schaft nicht einmal mehr als Parlamentsfraktion wiederfindet und der Grundwiderspruch zwischen Lohnarbeit und Kapital gänzlich aus dem Bereich verbannt ist, der sich als politisch zu erkennen gibt. Andererseits kann darin eine bedeutende Schwäche des westdeutschen Nachkriegsparlamen-
tarismus bestehen. Denn der auf dem Boden des faschistischen „Klassenfriedens“ aufgebaute Nachkriegsparlamentarismus ist kaum auf Klassenkampf eingerichtet (bzw. seine für den „Klas-
senkampf von unten“ getroffenen Vorkehrungen lassen von seinem parlamentarischen Spiel nicht viel übrig – Notstandsgesetze etc.). Die allen-wohl-und-niemand-weh-Parteien sind nicht die ge-
eigneten Instrumente, um Klassenkämpfe zu kanalisieren. Nicht umsonst übernehmen die Ge-
werkschaften immer mehr die Funktion der früheren „Arbeitervertreter“ im Parlament und ver-
treten gegenüber den Arbeitern den Willen des Kapitals (besonders natürlich in Krisen, wenn sich die Arbeiter als kollektiv Betroffene wiedererkennen – „Konzertierte Aktion“ etc.).
Diese Schwäche besteht nun in besonderem Maße während des Wahlkampfs. Ein Hinweis darauf ist die Tatsache, daß die IG Bergbau 1966 wegen des Landtagswahlkampfs den großen Streik in Nordrhein-Westfalen auf Wunsch der SPD in letzter Minute vor Streikbeginn abblies. Im Wahl-
kampf stellt sich die demokratische Diktatur scheinbar der Wahl. Dabei dürfen möglichst keine Interessen auftauchen, die aus dem Interessenpluralismus herausfallen. Die Parteien stellen sich nach dem Motto „für jeden etwas“ der Wahl und können es auf keinen Fall vertragen, daß ein Interessengegensatz auftaucht, in dem der Grundwiderspruch zwischen Lohnarbeit und Kapital enthalten ist und der sich darum zum unversöhnlichen Gegensatz ausweiten kann.
Wo anfangen?
Bei einer Arbeiterschaft, die so entpolitisiert und entsolidarisiert wie in Westdeutschland ist, sind die Aussichten natürlich sehr gering, daß sich im Produktionsbereich Auseinandersetzungen ent-
wickeln lassen, die darauf abzielen können, den Wahlkampf mit Klassenkämpfen zu konfrontie-
ren. Bei unseren gegenwärtigen Möglichkeiten kommen von vornherein nur zwei Möglichkeiten in Betracht: entweder bei einem oder einigen wenigen Betrieben einen spezifischen Konflikt so vor-
anzutreiben, daß die Konfrontation mit dem Wahlkampf exemplarisch möglich wird, oder aber bei einer Frage anzusetzen, von der größere Teile der Arbeiterschaft überregional und überbetrieblich betroffen sind. Die Arbeiter-Basis-Gruppen sahen einen solchen Ansatz gegeben mit dem Auslau-
fen der Tarifverträge in der gesamten Metall-Industrie zum 30. September. Es war klar, daß das Auslaufen eines Tarifvertrags und die Frage der Lohnerhöhung an sich noch zu keinen Konflikten mit dem Wahlkampf führt. Anders wird es aber, wenn Teile der Arbeiterschaft oder einzelne Be-
legschaften sich nicht von den Gewerkschaften vorschreiben lassen, was sie fordern und wie sie ihre Forderung vertreten. Dann können die Tatsache, daß es sich um einen Tarifabschluß auf Bundesebene handelt, und mehr noch die Konfrontation mit dem Wahlkampf, den Reaktionen der SPD und des Staates und der Gewerkschaften gerade dazu beitragen, den an einzelnen Orten be-
ginnenden Kampf auszuweiten, und dazu beitragen, den ökonomischen Kampf zum politischen Kampf zu entwickeln. Allerdings deutet sich darin schon eine Dimension an, mit der unsere Be-
wegung gegenwärtig noch überfordert zu sein scheint: Sicher hat es ebenso wie in München wäh-
rend der Tarifverhandlungen auch in anderen Städten Ansatzpunkte gegeben, die jeder für sich nicht sehr bedeutend sind, die aber ein viel größeres Gewicht bekommen hätten, wenn sie von einer großen überregionalen Kampagne an den Betrieben aufgegriffen worden wären.
Für den Konsumtionsbereich wurde auf die Gefahr hingewiesen, daß sich der Konflikt durch Zuge-
ständnisse auffangen und durch ein Eingehen der Parteien (Versprechen von gesetzgeberischen Maßnahmen etc.) auf diesen Konflikt in den Wahlkampf integriert werden kann. Besteht bei einem ökonomischen Konflikt nicht dieselbe Gefahr? Der wesentliche Unterschied zum Konsumtionsbe-
reich besteht darin, daß die Lohnabhängigen hier von vornherein als Lohnabhängige auftreten und es nicht nur mit dem „ideellen Gesamtkapitalisten“ zu tun haben. Bei einer Zuspitzung und Aus-
weitung eines große Teile der Arbeiterschaft betreffenden ökonomischen Konflikts mag es lang-
fristig im Interesse des Gesamtkapitals sein, daß die SPD angesichts eines solchen Konflikts zu-
mindest vorübergehend wieder Zige der „Arbeitervertretung“ annimmt und andererseits die Ein-
zelkapitalisten der Metallbranche auf die Durchsetzung ihrer unmittelbaren Interessen vorüber-
gehend verzichten. Was die SPD betrifft, so sind ihr hierfür gerade im Wahlkampf objektive Schranken gesetzt. Die in der Funktion des Parlamentarismus begründete Herausbildung der SPD zur „Volkspartei“ ist im Wahlkampf auf eine klein- und großbürgerliche Wählerbasis angewiesen. Und diese Wähler würden kaum die „Vernunft“ aufbringen, eine auch nur vorübergehende Rück-
kehr der SPD zur scheinbaren Arbeitervertretung gutzuheißen. Andererseits zeigt die gegenwärti-
ge Überhitzung der Konjunktur, daß die Bourgeoisie keineswegs so durchorganisiert ist, daß die einzelnen Kapitalisten heute aus politischen und längerfristigen ökonomischen Notwendigkeiten heraus ihre unmittelbaren Interessen zurückstecken.
Die Frage, die an diese Kampagne gestellt werden muß, besteht also im Gegensatz zum Konsumti-
onsbereich weniger darin, ob sich die Parteien im Wahlkampf dieser Kampagne bemächtigen können. Sondern sie muß grundsätzlicher sein. Die Frage ist nämlich, ob die ökonomische Ausein-
andersetzung im Produktionsbereiht überhaupt ein Ansatz für revolutionäre Arbeit sein kann. Der ökonomische Kampf um mehr Lohn leidet von vornherein darunter, daß er mit seinen Zielen in-
nerhalb des Kapitalismus verbleibt und die Grundgesetze des Kapitalismus reproduziert. Dennoch wird er von Marx als notwendige Voraussetzung für den darüber hinaus gehenden Kampf der Ar-
beiterklasse betrachtet.3 Wir haben es aber heute mit einem Kapitalismus zu tun, in dem die Ar-
beiterschaft nicht einmal mehr den Lohnkampf führt, sondern sich von den Gewerkschaften vor-
schreiben läßt, was sie jeweils zu bekommen hat. Wenn wir dies berücksichtigen, dann lautet die Frage nach dem heutigen Verhältnis zwischen ökonomischem Kampf der Arbeiter und revolutio-
närem Kampf in ihrer genauen Form: ist es ein Ansatz für den revolutionären Kampf, wenn wir überhaupt erstmal wieder den ökonomischen Kampf in Gang bringen?
1) Die Fragwürdigkeit einer Kampagne, die Klassenkampf anhand der ökonomischen Lage der Ar-
beiterschaft entwickeln will, zeigt sich ganz konkret darin, daß es nicht möglich ist, vom revolu-
tionären Standpunkt her irgendeine bestimmte Lohnforderung als Kampfziel zu entwickeln. Jeder Versuch, die Interessen der Arbeiterklasse in einer Lohnforderung zum Ausdruck zu bringen, bleibt ein Versuch, die Interessen der Arbeiterschaft im Kapitalismus zu artikulieren. Eine Lohn-
forderung, die sich durch ihre Höhe von den bisherigen Lohnforderungen abhebt, ist besonders reformistisch. Denn sie muß notwendigerweise die Illusion erwecken, als würde sich durch einen solchen Vorstoß für die Arbeiterklasse etwas Wesentliches verändern, und sie gerät beim gegen-
wärtigen Bewußtseinsstand der Arbeiterschaft sogleich in die Nähe der gewerkschaftlichen For-
derung nach „sozialer Symmetrie“ und „Reform durch Umverteilung des Einkommens“. Es kann also uns nicht darum gehen, die Gewerkschaft durcheine der Höhe nach „radikale“ Lohnforde-
rung zu „übertreffen“! „Statt des konservativen Mottos: ,Ein gerechter Lohn für ein gerechtes Tagwerk!’ sollte sie (die Arbeiterklasse) auf ihr Banner die revolutionäre Losung schreiben, ,Nieder mit dem Lohnsystem!’ (Marx: Lohn, Preis und Profit, Kap. 14.).
2) Wir werden aber andererseits keinen Schritt weiterkommen, wenn wir der gewerkschaftlichen Tarifpolitik nur diese Losung entgegensetzen und uns darauf beschränken, die Arbeiter über die Funktion von Lohnforderungen im Kapitalismus aufzuklären. Eine Kampagne, die Klassen-
kampf anhand der ökonomischen Lage der Arbeiterschaft entwickeln will, muß – wenn sie praktisch werden will – an den unmittelbaren ökonomischen Interessen der Arbeiterschaft anknüpfen. Gibt es einen Weg, der diese Notwendigkeit berücksichtigt und ihr dennoch nicht erliegt?
Die Antwort auf diese Frage deutet sich schon an, wenn wir uns die einfache Tatsache vergegen-
wärtigen, daß wir es nicht nur mit den unmittelbaren ökonomischen Interessen der Arbeiterschaft einerseits und den Interessen des Kapitals andererseits zu tun haben, sondern der Konflikt zwi-
schen beiden Interessen4 längst mit den modernen Gewerkschaften institutionalisiert ist.
Bei Marx hat der Lohnkampf noch zwei Seiten: Einerseits ist der Kampf um mehr Lohn völlig den Gesetzen des Kapitalismus verhaftet. Denn dem Kampf um die Erhöhung des Preises der Ware Arbeitskraft wohnt die Bedingung inne, daß sich die Arbeiter als Ware Arbeitskraft verkaufen. Andererseits würde ein Nachgeben der Arbeiter gegenüber den ständigen Versuchen des Kapitals, den Lohnstandard herunterzudrücken, für die Arbeiter bedeuten: „sie würden sich selbst unwei-
gerlich der Fähigkeit berauben, irgendeine umfassendere Bewegung ins Werk zu setzen.“ (Marx: Lohn, Preis und Profit, Kap. 14.).
Diese Argumentation von Marx setzt aber voraus, daß beim Konflikt zwischen den unmittelbaren ökonomischen Interessen der Arbeiterschaft und den Interessen des Kapitals es die Arbeiter sind, die dem Kapital mit Lohnforderungen entgegentreten. Der heutige gewerkschaftliche Kampf um mehr Lohn bleibt aber nicht nur mit seinen Forderungen völlig innerhalb des Kapitalismus. Sondern darüber hinaus erfüllen die Gewerkschaften die Aufgabe, daß die Arbeiter gar nicht mehr an dem Konflikt zwischen ihren unmittelbaren ökonomischen Interessen und den Interessen des Kapitals beteiligt werden. Sondern die Behandlung dieses Konflikts ist fast gänzlich in die Aus-
schüsse der Bourgeoisie verlagert worden (so wie die Bourgeoisie die ständig auftretenden Un-
gleichzeitigkeiten und Disproportionalitäten ihrer Wirtschaftszweige „unter sich“ zu „bereinigen“ versucht). Dies stellt so stark die Wirklichkeit „gewerkschaftlicher Interessenvertretung“ dar, daß die zur Verschleierung dieser Wirklichkeit bestimmten Spielregeln der Gewerkschaften verküm-
mern (in Tarifangelegenheiten kommt sogar das innergewerkschaftliche, der „repräsentativen Demokratie“ entsprechende Delegationssystem kaum noch zum Tragen; Urabstimmungen zur Bestätigung von Tarifkompromissen werden „vergessen“ etc.).
In der hervorragenden Funktionstüchtigkeit der Gewerkschaften für das Kapital liegt allerdings zugleich die Schwäche dieses Systems der Integration des Konflikts zwischen den unmittelbaren ökonomischen Interessen der Arbeiterschaft und den Interessen des Kapitals. Immerhin artiku-
lieren sich dennoch die unmittelbaren ökonomischen Interessen der Arbeiterschaft bei Tariffra-
gen soweit, daß die Gewerkschaften nach Abschluß der Tarifkompromisse besonders viel Austrit-
te zu verzeichnen haben. Von grundsätzlicherer Bedeutung ist die Tatsache, daß solche Lakaien-Gewerkschaften in wirtschaftlichen Krisensituationen kaum imstande sind, auch nur den er-
reichten Lohnstandard zu halten, und daß ihre Legitimationsschwäche besonders groß ist. Wie schon die 1. Mai-Kampagne in München andeutete, reagieren sie auf Initiativen aus der Arbei-
terschaft, die ihre Legitimation in Frage stellen, derart allergisch, daß sie selbst zur Verbreitung und Politisierung dieser Initiativen beitragen.
3) Wenn wir davon ausgehen, daß auch der organisierte Monopolkapitalismus kein Kapitalismus ohne ökonomische Krisen ist, sondern daß seine Krisenhaftigkeit erst zur Entwicklung des anti-
zyklischen Instrumentariums geführt hat, dann ist die Integration des Konflikts zwischen den unmittelbaren ökonomischen Interessen der Arbeiterschaft und den Interessen des Kapitals von großer politischer Bedeutung für die Aufrechterhaltung des Kapitalismus. Unter diesem Gesichts-
punkt ist auch unser Anknüpften an den unmittelbaren ökonomischen Interessen der Arbeiter-
schaft zu sehen: an den unmittelbaren ökonomischen Interessen ist soweit anzuknüpfen, daß dadurch eine Basis für die praktische Auseinandersetzung mit dem Mechanismus der Integration des Konflikts zwischen den unmittelbaren ökonomischen Interessen der Arbeiterschaft und den Interessen des Kapitals geschaffen werden kann. Es geht also nicht darum, daß die Arbeiter einen Kampf für „eigene“ ökonomische Forderungen neben den Tarifverhandlungen der IG Metall füh-
ren, sondern darum, daß sich die Arbeiter ausgehend von ihren unmittelbaren ökonomischen In-
teressen mit den Tarifverhandlungen der IG Metall praktisch auseinandersetzen.
Die Arbeiter-Basis-Gruppen haben darum auch keine eigenen, notwendigerweise nur ziemlich will-
kürlich festlegbaren Lohn- und Gehaltsforderungen aufgestellt. Sondern in Parolen auf den Fab-
rikmauern und im ersten der wöchentlich bis vierzehntägig erscheinenden Flugblätter wurde eine Forderung aufgegriffen, die in dem Münchner Großbetrieb DECKEL aufgestellt wurde (15 % Lohn- und Gehaltserhöhung). Das unmittelbare Ziel der ersten Agitationsphase bestand darin, die Arbei-
ter für diese Forderung zu gewinnen und diese Forderung so zu verankern, daß sie von den Arbei-
tern auch gegenüber der Gewerkschaft aufrechtgehalten wird.
Zunächst noch unkommentiert wurde auf diesem Flugblatt dazu ein Beschluß der IG Metall-Ver-
treterversammlung abgedruckt, der die von der Ortsverwaltung „empfohlene Fassung“ eines An-
trags der IG Metall-Vertreter bei DECKEL5 darstellt. Dieser Beschluß6 ist in zweierlei Hinsicht – nämlich der Form und dem Inhalt nach – schon ein Teil der gewerkschaftlichen Abwiegelungs-
strategie zur Integration des Konflikts zwischen den unmittelbaren ökonomischen Interessen der Arbeiterschaft mit den Interessen des Kapitals: Erstens fängt der Beschluß eine Initiative von „unten“ dadurch auf, daß einerseits sich die Vertreter aus den einzelnen Betrieben damit ihre „Radikalität“ gegenüber der IG Metall-Spitze bestätigen können und daß andererseits diese Initiative von „unten“ durch den nichtöffentlichen Charakter solcher Beschlüsse innerhalb des Gewerkschaftsapparats bleibt und nicht etwa mobilisierend auf die Arbeiter anderer Betriebe wirkt. Zweitens reduziert die von der Ortsverwaltung „empfohlene Fassung“ schon einmal den ursprünglichen Antrag. Die Vertreterversammlung fordert nicht mehr eine Lohn- und Gehalts-
erhöhung um 15 %, sondern „erwartet“ eine Verbesserung der „tariflichen Einkommens-
struktur“ um „etwa“ 15 %. In der Diskussion auf der Vertreterversammlung wurde klar, was mit „tariflicher Einkommensstruktur“ gemeint ist. Es handelt sich nicht um 15 % mehr Lohn, sondern in den 15 % sind schon die drei geforderten Urlaubssamstage verrechnet, die als 2,5 %ige Ver-
besserung der Einkommensstruktur veranschlagt werden – womit schon auf der untersten Ebene der gewerkschaftlichen „Willensbildung“ von den 15 % nur noch 12,5 % übrigbleiben.
Wir haben aber bewußt darauf verzichtet, diesen Beschluß schon auf dem ersten unserer Flug-
blätter zu entlarven. Sondern die erste Agitationsstufe soll die Basis dafür schaffen, daß sich die Arbeiter dann selber und auf der Grundlage einer von ihnen getragenen Forderung mit der ge-
werkschaftlichen Tarifpolitik auseinandersetzen (Im Prinzip gilt auch hier: „Den Bogen spannen, doch den Pfeil nicht abschnellen, sondern den Schuß nur markieren.“ – Mao Tse Tung: Unter-
suchungsbericht über die Bauernbewegung in Hunan, Ausgewählte Werke, Bd. 1, S. 48).
In der Losung „15 % und kein % weniger!“ deutet sich schon an, daß es bei dieser Forderung we-
niger auf ihre Quantität ankommt. Die 15 % sind natürlich eine sehr minimale Forderung. Viel wichtiger als die Höhe aber ist, daß von den 15 % unter keinen Umständen Abstriche gemacht werden. Der qualitative Aspekt der Losung besteht dann darin, daß sie sich von vornherein gegen den gewerkschaftlichen Mechanismus des Aushandelns und institutionalisierten Kompromiß-Machens wendet. Damit können von vornherein auch die Aktionsformen andere als bei einer reinen Lohnauseinandersetzung sein (Z.B. Angriffe gegen den innergewerkschaftlichen Verschlei-
erungsprozeß, Öffentlich-Machen von Tarifverhandlungen durch Aktionen). Unter ihrem qualita-
tiven Aspekt weist die Kampagne den heute noch notwendigen Stellvertreteraktionen eine Funk-
tion zur Mobilisierung der Massen zu, die sich aus einem reinen Lohnkampf nicht ableiten ließe.
Die praktische Auseinandersetzung mit der gewerkschaftlichen Tarifpolitik ist von vornherein zugleich eine Auseinandersetzung mit dem gegenwärtigen Bewußtsein der Arbeiterschaft. Sie geht gegen ein Händler-Bewußtsein, das bei vielen Arbeitern vorherrscht und eines der wesentli-
chen Hemmnisse für die Entfaltung des Klassenkampfs ist. Denn das Denken „Wir müssen 20 % fordern, um 10 % zu bekommen“ weicht jede Forderung so auf, daß kein Kampf für sie zustande kommen kann (seine Vollendung findet dieses Denken bei den „linken“ Reformisten, die Revolu-
tion fordern, um Reformen zu bekommen). Letztlich geht es. Bei unserer Kampagne also nicht um die Initiierung von ökonomischem Kampf, sondern um einen Angriff auf eine der ideologischen Grundlagen des Kapitalismus. Wenn der Kapitalismus nicht in den Köpfen der Arbeiter existieren würde, wäre ihm eine seiner wesentlichen Existenzgrundlagen entzogen. Das Händler-Bewußtsein der Arbeiter ist die Fortsetzung des Lohnsystems in den Köpfen der Arbeiter. Ihren eigentlichen Sinn bekommt unsere Kampagne dadurch, daß es für die Entfaltung des Klassenkampfes notwen-
dig, die Alternative zwischen Händler-Bewußtsein und Klassenbewußtsein zu einer praktischen Alternative zu machen.
Was haben wir mit unserer Kampagne erreicht? Wenn man den Erfolg daran bemessen will, was die Arbeiter aufgrund unserer Agitation getan haben, dann war sie kein Erfolg. Wenn man es jedoch für eine gegenwärtig sehr notwendige Aufgabe hält, daß wir kontinuierlich Diskussionen in den Betrieben in Gang setzen, daß wir das Vertrauen der Arbeiter erwerben und daß wir uns in der Arbeiterschaft verankern, dann hat unsere Kampagne die Erfüllung dieser Aufgabe wesentlich vorangetrieben.
Anfangs bestanden innerhalb der Arbeiter-Basis-Gruppen durchaus noch Illusionen über unsere Möglichkeiten. Das unmittelbare Ziel der ersten Agitationsphase bestand darin, die Arbeiter für die Forderung „15 % und kein % weniger“ zu gewinnen und diese Forderung so zu verankern, daß sie von den Arbeitern auch gegenüber der Gewerkschaft aufrechterhalten wird. Dies war insofern falsch, als einige von uns dabei glaubten, daß wir die Arbeiter veranlassen könnten, sich aktiv für diese Forderung einzusetzen. Wenn man sich anschaut, welche Betriebe von der großen Streikwelle 1969 erfaßt wurden, dann zeigt sich, daß es fast immer „objektive Gründe“ geben muß, auf die sich die Arbeiter berufen können (geringer Lohn im Verhältnis zu vergleichbaren anderen Betrieben oder Industrien, besonders hohe Gewinne etc.) Dennoch war es richtig von uns, so hartnäckig an der Forderung „15 % und kein % weniger“ festzuhalten: angesichts der großen Streiks lebt unsere Forderung unter den Arbeitern wieder auf und bietet uns einen guten Ansatzpunkt für die agitato-
rische Vermittlung der großen Streiks. Das gleiche gilt dafür, daß wir in fast jedem Flugblatt zu den Tarifverhandlungen auf das Verhältnis zwischen Wahlkampf und Klassenkampf eingegangen sind: damit existiert schon eine Grundlage, auf der wir das Verhalten der Gewerkschaften, Parteien und der Regierung gegenüber den großen Streiks wirklich materialistisch darstellen können.
Gerade, wenn wir sehen, wie die Unterstützungsversuche der Genossen bei den streikenden Ar-
beitern im Ruhrgebiet und Saarland auf Ablehnung stoßen, wird die Bedeutung solcher Kampag-
nen wie der von uns durchgeführten deutlich: wir hatten uns mir dieser Kampagne zum erstenmal eine derartige Basis geschaffen, daß wirkungsvolle Stellvertreteraktionen von uns z.B. gegen die Sitzungen der großen Tarifkommission möglich und notwendig gewesen wären. Wir müssen uns darüber im klaren sein, daß wir erst dafür arbeiten müssen, daß die Arbeiter von uns Unterstüt-
zung erwarten. So aber sehen wir auf der einen Seite, wie die Arbeiter unsere Kampfformen auf-
greifen, und stehen auf der anderen Seite in den Augen der Streikenden und demonstrierenden Arbeiter wie die Gewerkschaft da: wir können der realen Bewegung nur hinterherlaufen – mit dem höchstens den Spott der Arbeiter hervorrufenden Unterschied, daß die Gewerkschaft der realen Bewegung hinterher rennt, um sie zum stoppen zu bringen, und wir der realen Bewegung nach rennen, um sie „voranzutreiben“. Genossen, wir werden daraus kein Klagelied von Leuten machen, „die gesät haben, aber um die Ernte gebracht wurden“. Wir können aber auch nicht umgekehrt uns damit beruhigen, daß die Arbeiter jetzt von sich aus zu kämpfen begonnen haben und „uns gar nicht mehr brauchen“.
Was die Arbeiter tatsächlich nicht mehr brauchen, ist das Beispiel, das ihnen „die Studenten“ mit dem Kampf an den Hochschulen und auf der Straße gaben. Wenn die Arbeiter zu kämpfen an-
fangen, sind sie selber in der Lage, die Mittel und Formen des Kampfes zu finden, mit denen sie die Interessen durchsetzen können, die sie heute als ihre Interessen erkennen können. Um z.B. den Straßenverkehr lahm legen zu können, brauchen sie uns nicht mehr. Aber während das Komplott der Gewerkschaften, Unternehmer, Parteien und Regierung noch nie so sehr politisch entlarvt wurde wie durch die von den Arbeitern selber in Gang gesetzte Streikwelle, bleibt das politische Verhalten der Arbeiter fast unbeeinflußt von ihrem Streik. Das über ihre unmittelbaren Interessen hinausgehende politische Klassenbewußtsein werden die Arbeiter weder aus eigener Kraft noch durch das Beispiel einer Studentenrevolte erreichen. Damit aus den konkreten begrenzten Kämp-
fen ein solches Bewußtsein entsteht, brauchen die Arbeiter die Revolutionäre und zwar Revo-
lutionäre, die gerade in der Zeit hartnäckig bei ihnen und unter ihnen arbeiten, wenn sie noch nicht im entferntesten an Kampf denken.
Thomas Schmitz-Bender und Helge Sommerrock
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1 Dies ist ein deutlicher „Fortschritt“ im Vergleich zum Parlamentarismus vor 1933, der seine integrierende Funktion noch dadurch erfüllte, dass sich die Arbeiter durch „ihre Partei“ im Parlament vertreten glaubten.
2 Eines der Ziele unserer 1. Mai-Kampagne war die Bekämpfung dieses Ohnmacht-Bewusstseins. Denn das noch vorhan-
dene Bewusstsein der Arbeiter über ihre Lage verliert durch dieses Ohnmacht-Bewusstsein wieder seine mögliche klassen-
kämpferische Wirkung. Der Ansatz bei den Gewerkschaften schien uns auch deswegen wichtig, weil sich in der Konfronta-
tion mit ihnen für die Arbeiter noch eher ein dieses Ohnmacht-Bewusstsein überwindender Handlungsspielraum eröffnet (auf die Gefahren dabei wiesen wir in unserem Bericht über die 1. Mai-Kampagne im SDS-INFO 13/14 hin). Wir zeigten darum die Gewerkschaftsführer auch nicht als starke Bonzen, sondern als um ihre Stellung bangende Lakaien des Kapitals.
3 „… dass die Notwendigkeit, mit dem Kapitalisten um ihren Preis (= Preis der Arbeit) zu markten, der Bedingung inhärent ist, sich selbst als Ware feilbieten zu müssen. würden sie (die Arbeiter) in ihren täglichen Zusammenstößen mit dem Kapital feige nachgeben, sie würden sich selbst unweigerlich der Fähigkeit berauben, irgendeine umfassendere Bewegung ins Werk zu setzen.“ (Lohn, Preis u. Profit, Kap. 14)
4 Wir setzen hier allerdings voraus, dass es einen solchen Konflikt gibt. Wir betrachten auch den organisierten Monopolka-
pitalismus nicht als ökonomisch soweit „perfektioniert“, dass in ihm das Kapital keine Versuche mehr unternehmen würde, den Lohnstandard der Arbeiterschaft zumindest indirekt (über die Reproduktionskosten) zu drücken. Einerseits muss der Kapitalismus die Konsumtionsfähigkeit der Massen für den Absatz der produzierten Güter entwickeln, andererseits entfal-
tet sich die Krisenhaftigkeit der Kapitalverwertung letztlich immer auf Kosten der Konsumtionsfähigkeit der arbeitenden Massen.
5 Antrag von Mitgliedern der IG Metall bei der Firma Deckel an die Vertreterversammlung der IG Metall, Verwaltungsstelle München: „Am 30.9.69 laufen die Lohn- und Gehaltstarife aus. Die Vertreterversammlung der IG Metall fordert namens ihrer 45.000 Mitglieder eine Lohn- und Gehaltserhöhung von 15 %!“
6 Beschluss der Vertreterversammlung vom 14.7.: „… Die Vertreterversammlung erklärt, dass sie eine Verbesserung der tariflichen Einkommensstruktur um etwa 15 % erwartet. Die Vertreterversammlung fordert den Vorstand und die Tarif-
kommission auf, bei Gesprächen bzw. Verhandlungen diese Forderung zu berücksichtigen …“
neue kritik 54/1969, 29 ff.