Materialien 1957

Heimgegangen

„Übrigens: wir haben nicht feststellen können, dass zur Trauerfeier der fünfzehn toten Soldaten auch die schweizerische Rüstungsfirma Hispano-Suiza einen Kranz geschickt hätte, so wie kürz-
lich zur Beisetzung eines prominenten CDU-Parlamentariers.“

H. Henrich: „Das deutsche Schicksal an der Iller“ (Frankfurter Rundschau vom 8. Juni 1957)

Der Hohn

Ein düsterer Totentanz begleitete die Hochzeitsfeierlichkeiten in Rott am Inn. Reportagen und Fotos widerspiegeln die grausige Symbolik und bittere Ironie, die ein Junitag uns schauriger dar-
bot, als ein satirischer Dramatiker auszudenken vermocht hätte. Die Bundeswehr-Kapelle spielte einen Choral; Feldjäger in grauen Uniformen und weißem Lederzeug standen am Hochaltar. Stu-
denten – wohl etwa im Wehrpflichtalter – in vollem Wichs kreuzten die Degen über dem Braut-
paar, das mit feierlicher Miene den Fotografen entgegenschaut. In welchem Jahrhundert leben wir?

Wehrpflicht-Rekruten in voller Uniform, mit Stahlhelm, Rucksack und Karabiner wateten fünfzig Meter neben der Brücke durch den Fluss. Ist das eine Schilderung aus dem Befreiungskriege? Das Wasser des reißenden Stromes hat fünfzehn junge Menschen in die Tiefe gedrückt. Neben dem Bundeskanzler, Ministerkollegen, CDU-Abgeordneten und höchsten Generälen spannt der Bräuti-
gam lachend den Schirm auf, die Gäste vor dem Regen zu schützen. Unter dem blauen Baldachin traute Kardinal Wendel mit dem Wortspiel: „Von der Stätte des Todes sind Sie, Herr Bräutigam, zurückgeeilt, den Lebensbund zu schließen“.

„Nicht der Mörder, der Ermordete ist schuldig,“ Es wäre möglich gewesen, den sinnlosen Befehl zu verweigern, stellte Minister Strauß und ihm nachfolgend Bundestagsabgeordneter Fritz Erler fest. Warum haben die Jungen denn auch gehorcht? Ja mehr noch: Sie hätten ja den Wehrdienst ver-
weigern können, dann wären sie heute noch am Leben, Aber sie sind nicht daheim geblieben. Sie sind – ihrem Gewissen? – nein: dem Gestellungsbefehl gefolgt, in die Kaserne und nicht heimge-
gangen. Sind sie es doch?

„Zutiefst erschüttert und bewegt gedenkt mit mir in dieser Stunde die gesamte Bundeswehr in Ehrfurcht der heimgegangenen Kameraden.“ Die Sprache der religiösen Verschleierung, die Herr Franz Josef Strauß benutzt, macht den Hohn erst offenbar.

Aber damit nicht genug. „Opfer und Leid der Angehörigen verpflichten uns in unserem Dienst zum Schutze unserer Heimat.“

Da haben wir wieder die militärische Sinngebung. Das unsinnige Vorhaben verpflichtet. Welch Wort könnte falscher sein als: „Opfer“; – wer hat es denn dargebracht oder angeboten?

Sinn und Pflicht

Der Befehl war sinnlos! Gewiss! Aber widersprach er der „Menschlichkeit“?

Sinnlos ist nicht der Befehl, sinnlos ist die Armee, die ihn möglich macht. Mit und ohne Atomwaf-
fen kann diese blödsinnige teure Soldatenspielerei nichts schützen, nichts verhindern, nichts ab-
schrecken. Sinnlos ist sie, wenn man sie nicht gebrauchen will. Wird sie gebraucht, dann wird das ganze deutsche Vaterland in den Fluten untergehen, dann wird ebenso schnell wie diese fünfzehn Verstorbenen das ganze deutsche Volk „heimgegangen“ sein. Sollte zufällig Herr Strauß der Kata-
strophe fernbleiben und sie überleben, vielleicht auf einem künstlichen Monde, von dem aus die Schlacht gelenkt und beobachtet wird, dann kann er nachher feststellen, dass das heimgegangene deutsche Volk den Unsinn hätte verweigern können, der gegen die Menschlichkeit verstieß und „über seine Kräfte ging“. Er kann feststellen, dass das Volk und jeder einzelne vor dem Heimgange hätte heimgehen können. Das Unheimliche liegt gerade darin, dass jede Armee solchem vorzeiti-
gen „Heimgang“ dient. Vielleicht wird der Nachruf dann Aussprüche zitieren, die der bayerische Abgeordnete F. J. Strauß einst von sich gab, lange bevor er Bundesminister wurde.

Die Wissenschaftler der ganzen Welt bestätigen: es gibt keinen Schutz der Menschheit vor den modernen Atomwaffen. Die Militärs der ganzen Wett erklären, wenn es zum Kriege kommt, wer-
den die Atomwaffen angewandt; sie stellen ihre Strategie darauf um. So unsinnig es also ist, diese Waffen zu erzeugen, so unsinnig ist es auch, Armeen aufzubauen, so veraltet und dumm, Milliar-
den für Luftschutz zu fordern. Auch die Opposition im Bundesparlament muss sich an die Tatsache gewöhnen, dass wir im Jahre 1957 leben, nicht im Jahre 1789. Wer da meint, eine Armee gehöre trotz aller technischen Entwicklung heute wie einst als legitimes Kind zur Demokratie – vielleicht in der vordemokratischen Form des Berufsheeres –, der ist hoffnungslos zurückgeblieben. Die Atomenergie, genutzt für Krieg oder für Frieden, ist ein neues Produktionsmittel und verändert also die Formen der menschlichen Gesellschaft, die Produktionsverhältnisse. Entweder die Sozial-
demokraten begreifen den „veralteten“ Marx – oder sie sind praktisch politisch nicht fortschrittli-
cher als ihre bürgerlichen Gegner. Unsinnig ist es, eine Armee zu bejahen und ihr gleichzeitig die modernsten Waffen zu verweigern, die der Gegner hat.

Uns verpflichtet diese Tragödie laut Nachruf und Tagesbefehl des Ministers zu „persönlicher Ver-
antwortung, Pflichterfüllung und Dienst zum Schutz der Heimat“. Sehr wohl! Also dann: Fort mit der ganzen sinnlosen Bundeswehr!!

System und Geist

Hält man am Unsinn fest, so hat in ihm allerdings jegliche einzelne Aktion ihre Logik und ihren Sinn. Die Tragödie von Kempten ist dafür genau so ein Beispiel wie alle anderen kleinen oder gro-
ßen Unfälle, die sich in jeder Armee ereignen.

Stabsoberjäger Peter Julitz, zur Zeit in Haft, ist sicherlich ein normaler Durchschnittsbürger. Er ist zudem zum Verantwortungsbewusstsein der Vorgesetzten in der demokratisch geölten Armee aus-
gebildet worden.

Vielleicht war Peter Julitz mal Führer einer Jugendgruppe, sei es von Pfadfindern oder Gewerk-
schaftsjugend oder sonst etwas. Ihm wäre dann so wenig wie irgendeinem sechzehnjährigen Wan-
derführer der Falken oder Naturfreundejugend eingefallen (ohne besondere Verantwortungsin-
struktionsstunde), gleichaltrige oder jüngere Menschen in voller Kleidung ins Wasser zu jagen oder zu locken. Ihm wäre klargewesen, dass ein Teil der Leute schwer krank werden kann, selbst wenn im Wasser nichts geschieht.

Peter Julitz, so las ich, soll vier Jahre lang bei der Polizei ausgebildet worden und auch dort schon Feldwebel gewesen sein. Aber auch da ist ihm nicht eingefallen, seine Leute durch Tümpel, Seen oder Ströme zu schicken.

Nur der Geist der Armee schafft diesen Ungeist der blödsinnigen Bravourstücke, der Heldener-
tüchtigung und der Abhärtungstheorie mit Schockmethoden.

Der „Todesmarsch in die Iller“ beweist, was wir vor Jahren kritisch schrieben, als wir uns mit dem Kontrollausschuss für die leitenden Offiziere beschäftigten. Der Einzelne mag seinen Test gut be-
stehen; die Institution hat ihre Eigengesetzlichkeit; in letzter Konsequenz eben den Krieg, die Ver-
nichtung der Menschen und der Länder, die angeblich verteidigt werden sollen. Peter Julitz ist ein Opfer, das Opfer forderte. Auf die Anklagebank gehört nicht der Stabsoberjäger, dahin gehören die Armee, ihre Befürworter und obersten Führer.

Sie selbst liefern die Beweise. Zunächst wollte man die Dinge so darstellen, als wäre das ganze Un-
glück Folge eines harmlosen Spiels nach der Rast gewesen. Glücklicherweise haben wir noch keine Militärjustiz, die solche Version sicherlich gerne aufrechterhalten würde, um vom Kerne der Ver-
antwortung abzulenken.

Dann: „Generalleutnant Röttiger, Inspekteur des Bundesheeres, teilte in einem Interview mit dem Bayerischen Rundfunk mit, dass für das 19. Luftjägerbataillon ein Bataillonsbefehl bestand, der das Durchschreiten der Iller verbietet.“ Also nur für dieses Bataillon, andere dürfen. Also nur für die Iller, durch andere Gewässer darf oder soll man vielleicht. Grundsätzlich findet es unsere ko-
mische Wehrmacht demokratischen Geistes also durchaus in Ordnung, dass Neunzehnjährige in voller Ausrüstung, ob Schwimmer oder nicht, durchs Wasser gejagt werden – wahrscheinlich um besser und schneller die feindlichen Düsenbomber zu angeln. Und Herr Röttiger erzählte auch gleich noch, wie es zu dem Befehl für dieses Bataillon und für die Iller gekommen sei. Die Iller ist nämlich bei einem Unterführer-Lehrgang im Februar dieses Jahres (also bei Eiseskälte!) schon einmal durchquert worden. Daraufhin hat der damalige Kommandeur Major Alfred Genz, der erst nachher davon unterrichtet wurde, das Durchschreiten des Flusses als „Wahnsinn“ bezeichnet und den Verbotsbefehl erlassen.

Ich halte es durchaus für möglich, dass Peter Julitz im Februar den Lehrgang mitgemacht und durch die eiskalte Iller gelaufen ist. Hat er wirklich, wie die Vorgesetzten behaupten, bei der Unterrichtsstunde gefehlt, in der das Verbot mitgeteilt wurde, dann musstet Ihr den armen Kerl sofort aus der Haft entlassen; – – er ist genug bestraft durch die Last auf seinem Gewissen. Aber Ihr müsst ihn bestrafen, denn Ihr braucht einen Schuldigen. Sonst könnten die neuen Rekruten und deren Eltern Euch, die Institution, verantwortlich machen – und zur Verweigerung des Wehrdienstes aufrufen.

Befehlsverweigerung

Wenn es aber zu den Verteidigungsübungen der Wehrmacht gehört, junge Menschen in vollem Wichs durchs Wasser zu schicken, wie soll denn der Jugendliche einen solchen Befehl verweigern? In den Vorschriften, die mir auf einen Zeitungs-Anzeigen-Ausschnitt hin Herr Blank freundlicher-
weise sandte, stand gedruckt, der Soldat dürfe nur solche Befehle zu befolgen verweigern, die ge-
gen die Menschlichkeit verstoßen; also wohl: schießen, Bomben abwerfen usw. Das erschien mir allerdings merkwürdig, denn damit wurde ja der Sinn der ganzen Sache ad absurdum geführt.

Merkwürdiger aber erscheint mir, dass jetzt plötzlich nach dem Unglück von Kempten ganz neue Gründe zusätzlich für Befehlsverweigerung angegeben werden, von denen die ertrunkenen jungen Arbeiter noch nichts gewusst haben können. „Der Mittag“ (Düsseldorf) vom 13. Juni 1957 berich-
tet, dass Ministerialrat Neudeck von der Rechtsabteilung des Bundesverteidigungsministeriums erklärte, „nach dem Soldatengesetz sei zum Beispiel ein Befehl, dessen Ausführung gegen die Men-
schenwürde verstoße, unverbindlich“. Aber damit beweist ja Neudeck nur, dass die Soldaten den Gang durch die Iller nicht verweigern durften. Wieso verstößt denn ein Uniformspaziergang eines Luftlandejägers gegen seine Würde, wenn er statt durch die Luft durchs Wasser wandelt? Eher könnte ein hochmoralischer Rekrut auf den Gedanken kommen, es verstoße gegen die Moral und also gegen seine Würde, wenn man ihm befohlen hätte, nackt durchzuwaten. Aber gut gekleidet – da ist doch die Würde gewahrt.

Und unser Ministerialrat macht’s noch deutlicher: „Den Befehl“ auf einen Baum zu steigen und zu rufen: ‚Ich bin der dümmste Rekrut der Kompanie’, braucht ein Soldat nicht auszuführen.“ Aber gerade das ist es ja: Auf den Baum klettern muss er, wenn die erniedrigende Selbstanklage nicht dabei ist. Hatte denn Peter Julitz den Rekruten befohlen, zu brüllen: „Wir sind Idioten, weil wir zur Wehrmacht gingen!“ Also konnten sie nicht verweigern, denn die Würde war ja nicht bedroht.

Vorsichtshalber aber betont Herr Neudeck weiter, „dass der Untergebene, der einen Befehl nicht befolgt, das volle Risiko seines etwaigen Irrtums trage. Einem Untergebenen die verbindliche Be-
urteilung einer Sachlage als Grund zur Befehlsverweigerung zu überlassen, bedeute die völlige Auflösung der Disziplin“.

Wenn der Rekrut aber nicht konsequenzenlos entscheiden kann und darf, was zu seiner Würde gehört, wozu dann das ganze Geschwafel? Die Herren Strauß, Erler und Neudeck haben also die Öffentlichkeit getäuscht, wenn sie meinten, der Rekrut hätte verweigern können.

Vollständigkeitshalber aber noch folgenden dunkelschimmernden Passus von der Pressekonferenz, über die „Der Mittag“ berichtet: „Major Schmückle von der Abteilung ‚Inneres Gefüge’ äußerte die Überzeugung, dass eine Weiterentwicklung des Ausbildungssystems der Luftlandejäger in eine ‚deutsche Richtung’ gelingen werde. Die Offiziere und Unteroffiziere der Bundeswehr hätten sich auch bisher schon bemüht, die von den Amerikanern übernommenen Methoden der ‚deutschen Mentalität’ anzupassen.“

Soll das heißen, dass der Iller-Todesmarsch schon zur deutschen Anpassung gehört – oder soll das heißen, dass die Methoden der USA-Armee noch schlimmer sind? Und da waren wir doch so stolz auf die demokratischen Armee-Ausbilder bei uns – , und da sind doch die zivilen Fachleute der Bundestagsfraktionen nach USA gefahren (unter ihnen auch Genosse Erler), die Armee dort zu studieren. Warum haben sie uns denn früher nichts davon erzählt?

Mut und Feigheit

Herr Strauß hatte aber noch einen anderen Grund zum Ungehorsam angegeben: „Ein Soldat brau-
che einen Befehl nicht auszuführen, wenn man ihm etwas zumute, was über seine Kräfte gehe.“

Auch das ist offenbar Bla-bla. Dann könnte ja einer einen Gepäckmarsch von 15 km ablehnen. Dann könnte einer ablehnen, ein Maschinengewehr in Stellung zu bringen. Entscheidet der Soldat selbst über seine Kräfte, dann würde das doch ebenso die Disziplin unmöglich machen, wie wenn er selbst über seine Würde entschiede. Wie viel Sand darf man denn ungestraft der deutschen Öffentlichkeit in die Augen streuen?

Aber auch, wenn das so stimmen könnte, wie Minister Strauß es gesagt hat, trifft es ja nicht das Iller-Unternehmen. Warum sollten denn die gebietsfremden jungen Leute annehmen, dass der Gang durch das Wasser ihre Kräfte übersteigen könnte? Sie haben so wenig wie ihre jungen Feldwebel an eine wirkliche Lebensgefahr gedacht. Angenommen, die Rekruten wären heil durch-
gekommen, sie wären danach wieder in ihre irdische Kaserne heimgegangen, was wäre wohl dem-
jenigen geschehen, der den Wasserdurchgang verweigert hätte? Zwingen wir uns mal zu glauben, er wäre ohne Strafe davongekommen. Wäre er nicht tage- oder wochenlang dem Hohn und Spott seiner Kameraden preisgegeben gewesen? Wäre er nicht der Schandfleck, der Feigling, das Mut-
tersöhnchen der Kompanie gewesen? Haben unsere Heerespsychologen wirklich keine Kenntnis von dem moralischen Druck, der auf jedem Jugendlichen manchmal schlimmer lastet als ein blödsinniger Befehl?

Selbst wenn Peter Julitz keinen Befehl gegeben hätte, selbst wenn er, wie es so schön in den ersten unhaltbaren romantischen Berichten hieß, nach der Rast in fröhlichem Übermut ins Wasser gestie-
gen wäre mit dem Ruf: „Wer folgt mir?“, dann wären doch diese Jungen auch gegangen. Denn wer möchte denn ein Feigling oder Drückeberger sein? Wir kennen das doch alle. Turnlehrer Hirte in der Bismarck-Oberrealschule ließ uns von 4 Meter Höhe auf die Matte herunterspringen. Es war Blödsinn, denn es diente nicht der Körperertüchtigung, es war eine Mutprobe. Aber ein deutscher Junge zittert nicht, ein deutscher Junge weint nicht – und da unten steht die Hälfte der Klasse, die schon gesprungen ist und feixt. Mein Schulkamerad Günter Ludwig und ich haben uns unsere Angst vor jedem Absprung eingestanden – aber wir haben nicht gewagt, unsere Angst zu zeigen. Wegen des Hohns der Kameraden haben wir Mut markiert, nicht aus Angst vor dem Lehrer; der hätte uns bestenfalls eine schlechte Note ins Zeugnis geben können, aber das wäre für die Verset-
zung unwichtig gewesen. Zu diesem Mut aus Feigheit sind wir schon in der Schule gedrillt worden.

Wir können doch mit „deutscher Mentalität“ jeden Jungen besoffen machen. Wer merkt, dass er genug Alkohol zu sich genommen hat und dass er aufhören muss, den brauchen doch die Alt-Stifte oder Gehilfen oder die Freunde am Biertisch nur zu necken, ihn Schlappschwanz zu heißen, oder: „Du bist ja kein Mann“ („wer niemals einen Rausch gehabt, das ist kein braver Mann“) – und dann ist es doch aus mit der Würde und mit den vernünftigen Bedenken, dann besauft er sich doch aus „Ehr-Furcht“, bis er sinnlos unter der Bank liegt.

Das Militär muss noch erfunden werden, das die Zivilcourage, den Mut gegen Befehl und Kollektiv, den Mut zum Bekenntnis zur eigenen Schwäche und Feigheit stärkt und erzieht.

Verweigerer und Drückeberger

So sind wir zu Hause, in der Schule, von Kollegen und Freunden im täglichen Leben erzogen, bevor wir zum Militär kommen, bei dem wir genau wissen, was uns da erwartet und was man von uns er-
wartet.

Wie schamlos und dumm sind daher all die Menschen auch aus unseren eigenen Reihen, die sich vorher gehütet haben, die Wehrdienstverweigerer aktiv und moralisch zu unterstützen, und deren Gescheitheit nun darin besteht, zu höhnen, dass es so wenig Verweigerer gab. Der Neunzehnjähri-
ge wurde und wird nicht nur bedroht mit dem Ersatzdienst, der länger dauern soll als der Militär-
dienst, bei dem er unter Umständen im Moor statt im Wasser ersaufen darf. Zudem weiß er genau, dass alle Weigerung, Soldat zu spielen, gar nichts nutzt, wenn es doch zum Kriege kommt, weil er ja dem ohnedies nicht entrinnen kann. Wird er aber nicht in Friedenszeiten ständig eben unter dem moralischen Druck des Feiglings, des Vaterlandsverräters stehen, ökonomische und berufli-
che Nachteile haben? Die Wehrdienstverweigerung ist ebenso ein theoretisches Recht wie die Ge-
horsamsverweigerung. Und in der Praxis zeigt sich, dass beim Kommiss genau so wie beim Prü-
fungsausschuss nicht der Gesinnungstäter und der Mutige zum Erfolge kommt, sondern viel eher der richtige Drückeberger.

Der pfiffige Rekrut, der Dünnschiss und Kopfschmerzen heuchelt, der braucht nicht ins Wasser zu gehen. Die Drückeberger, die jedem Druck auszuweichen verstehen, die gehen heute zur Armee und werden Helden.

Wenn ich die Praxis der Prüfungsausschüsse richtig beurteile, allerdings aus wenigen Beispielen etwas folgernd, so ergeben sich zwei Phasen. Im Anfang sind fast alle Verweigerer, auch die aus politischer Überzeugung, anerkannt worden. Dann aber fürchtete man, mitteilen zu müssen, dass 95 Prozent der Verweigerer anerkannt würden, denn das hätte viele der kommenden Jahrgänge vielleicht ermuntert, auch zu verweigern. Jetzt werden den jungen Menschen mehr und mehr dieser völlig abwegigen dummen Fangfragen gestellt.

In einer deutschen Großstadt berief sich ein Verweigerer, der jahrelang Mitglied der Sozialistischen Jugend „Die Falken“ ist – und dabei religiös gläubig – darauf, dass der Atomkrieg derart furchtbar sei, dass sein Gewissen es ihm verbiete, diesen vorbereiten zu helfen. Gegenfrage: Würden Sie dann nicht zu anderen Waffengattungen gehen? „Nein – denn es ist ein Atomkrieg.“ Gegenfrage: Hätten Sie also 1870 oder im Mittelalter, als man mit Lanzen und Keulen Krieg führte, verweigert? „Das weiß ich nicht, das ist eine ganz andere Frage.“

Der Jugendgenosse wurde nicht als Verweigerer aus Gesinnungsgründen anerkannt.

Anderes Beispiel: Frage: „Wenn Sie die Möglichkeit hätten, einen Flieger abzuschießen, der ohne ihre Abwehr sein Ziel erreichen, seine Bomben werfen und Zehntausende vernichten kann, würden Sie ihn abschießen?“ Antwort: „Nein, denn ich belaste mein Gewissen mit keinem Mord!“ Der junge Mann wurde anerkannt.

Die Prüfungsausschüsse sind also wehrlos gegen heuchlerische Drückeberger (die sich übrigens schon bei der Musterung „richtig“ benehmen), aber sie können wirkungsvoll gegen wirkliche Ge-
wissensverweigerer sein.

Hier und dort wo auch immer: Die „débrouillards“, die pfiffigen Druck-Ausweicher, die „Immer-Obenauf-Schwimmer“, werden heimgehen zu Muttern, ins Büro oder auch ins „Reich“, Die ande-
ren werden eben bei den „Heimgegangenen“ sein. Und die wirklich Verantwortlichen werden Or-
den und Ehren und womöglich Reichtümer sammeln. Das liegt im System und ist eine Frage der politischen Einsicht und Entscheidung.

Jeder muss daher am 15. September mithelfen, dass die in Wahrheit Gewissenlosen, die das Un-
glück der Menschheit vorbereiten helfen, abtreten und heimgehen müssen.

Thomas Münzer


Funken. Aussprachehefte für internationale sozialistische Politik 7 vom Juli 1957, 97 ff.

Überraschung

Jahr: 1957
Bereich: Bundeswehr