Materialien 2014

Mahnmal angepisst

Wie man als „ehemaliger“ Nazi die Opfer verhöhnt

34 Jahre nach dem Oktoberfest-Attentat, fast zur gleichen Zeit, als damals die Bombe explodierte, uriniert ein junger Kerl schamlos gegen das Mahnmal zum Gedenken an die Opfer der Gräueltat. Nun ist das nichts besonderes auf der Wiesn, dass Besoffene ihre Notdurft in aller Öffentlichkeit an allen möglichen und unmöglichen Orte verrichten. Doch an diesem Tag ist es schon etwas anderes als sonst. Entsprechend wütend sind die Reaktionen der Umstehenden: Sie umringen im Pulk den Mahnmalschänder, halten ihn entschlossen fest und übergeben ihn der Polizei. Auf dem Boden liegen im Kreis um die Stele die Namen der Verletzten und Getöteten, nun besudelt; Kränze sind aufgestellt, und Diskussionstrauben umstehen das Rund. Manche in stillem Gedenken, manche irritiert fragend, ratlos, nichtsahnend, doch die meisten halbwegs respektvoll bei aller Betrun-
kenheit. Nur Wenige trampeln im Suff gedankenlos torkelnd über die Nelken und Rosen, die da niedergelegt sind, auch einige künstliche aus der Schießbude. Unübersehbar ist an diesem Tag die Erinnerung an 1980. Ebenfalls ein Freitag.

Damals am 26. September ließ militärischer Sprengstoff eine Splitterbombe detonieren, direkt am Haupteingang der Wiesn, gegen 22.19 Uhr, kurz vor Schluss in den meisten Bierzelten. Es war das verheerendste Attentat in der deutschen Nachkriegs-Geschichte, bis heute noch immer nicht um-
fassend aufgeklärt. Franz Josef Strauß kandidierte damals als Bundeskanzler, und wusste bereits 3 Stunden danach auf einer improvisierten Pressekonferenz am Tatort zu verkünden, wer es war: Die Linken als Terroristen, so versuchte er den Schock für seine Law-and-Order-Politik zu instrumen-
talisieren. Den Innenminister Mayhofer der linksliberalen Bundesregierung forderte er sogleich zum Rücktritt auf. Es sollte offenbar ein Klima der Angst und Verunsicherung erzeugt werden, das in der Endphase des Bundestagswahlkampfs den Ruf nach dem „starken Mann“ aus dem Süden beflügeln hätte können. Daraus wurde bekanntlich nichts. Was dennoch gelang, war die Vorgabe der Ermittlungsrichtung an die bayerischen Behörden: Wenn schon ein rechter Hintergrund der Tat offenkundig und nicht zu vertuschen war, dann wenigstens durfte es kein organisierter sein, allenfalls das blutige Werk eines durchgeknallten Einzelnen. Die CSU-Staatsregierung hatte sich bis dahin strikt geweigert, die Nazi-Wehrsportgruppe zu verbieten, deren Ex-Mitglied in den Terroranschlag verwickelt war.

Es hat lange gedauert und etliche Jahre Anstrengungen gekostet, bis die Landeshauptstadt München sich dazu durchringen konnte, einen würdigen Erinnerungsort am Haupteingang des weltgrößten Bierausschanks zu schaffen. Eines Tages hatte sich ein zentnerschwerer Stein dort gefunden als Mahnung für ein Mahnmal. Das Provisorium wurde weggeräumt. Doch die jährliche Mahnwache konnte schlecht weggeräumt werden. So finden sich seit 1983 jedes Jahr Dutzende Menschen ein, um den ganzen Tag über bis abends ihre Forderung nach Wiederaufnahme der Ermittlungen hochzuhalten inmitten des Trubels.

Eine wie von Stahlsplittern durchbrochene rostige Eisenwand umrahmt im Halbrund eine schlanke Stele, welche den Ort markiert, an dem das Verkehrsschild gestanden hatte mit jenem Papierkorb, in dem die Bombe in einer Plastiktüte deponiert war, die 12 zufällig anwesende Menschen in den Tod riss und 211 nach Hause strömende Wiesnbesucher – darunter 60 schwer – verletzte. Der 13., nicht zufällig Anwesende war der ebenfalls getötete Attentäter Gundolf Köhler, ein ehemaliges Mitglied der nazistischen Wehrsportgruppe Hoffmann, von der sein Ausweis am Tatort gefunden wurde. Unter den Leichenteilen fand sich eine abgerissene Hand, die keinem der Anschlagsopfer zugeordnet werden konnte. Deren Fingerabdrücke fanden sich jedoch im Keller des Gundolf Köhler, der im Ermittlungsbericht dennoch als allein handelnder Einzeltäter ausge-
geben wurde. Bis heute halten die Behörden an dieser amtlichen Version des verwirrten, frustrier-
ten Einzeltäters eisern fest, als gelte es die Mittäter, die dahinter stehenden Strippenzieher und Auftraggeber zu schützen. Bezeichnenderweise wurde das blutige Beweisstück für die Unhaltbar-
keit dieser Theorie aus der Asservatenkammer vernichtet, angeblich aus Platzgründen.

Auch diverse Zeugen kamen auf dubiose Weise ums Leben, darunter der mutmaßliche Sprengstoff-Lieferant in U-Haft, einen Tag, bevor er angeblich „auspacken“ wollte, durch Selbstmord in der Zelle, aufgefunden mit einem schnell hingekritzelten Zettel als Abschiedsbrief: „Kameraden, es
ist Wolfszeit“. Die Aussage eines Historikers in einem Luxemburger Prozess, sein Vater habe ihm erzählt, als Bundeswehroffizier und Angehöriger des BND in die Machenschaften der „Stay-Be-
hind“-Untergrundarmee „Gladio“ verwickelt gewesen zu sein, die auch beim Wiesn-Attentat ihre Finger im Spiel gehabt hätte, wurde weitgehend ignoriert. Diese Geheimorganisation der NATO war in den Bombenanschlag vom 2. August 1980 in Bologna involviert, ein ähnlich dimensionier-
tes, wahllos verübtes Verbrechen, ebenfalls kurz vor Wahlen. Doch an Spekulationen ist der Opfer-
anwalt Werner Dietrich weniger interessiert als an den bis heute nicht aufgearbeiteten Spuren. Nun hat er erstmals die Gelegenheit, Einsicht in alle Ermittlungsakten zu nehmen. Einem dritten Wiederaufnahme-Verfahren könnte tatsächlich Erfolg beschieden sein. Die Recherchen des BR-
Rundfunkjournalisten Ulrich Chaussy seit 1982, als die Ermittlungen offiziell eingestellt worden waren, sowie der beeindruckende Spielfilm „Der Blinde Fleck“ haben dazu publizistisch den Weg geebnet. Die eklatanten Widersprüche und offenen Fragen dürften auch für die Generalbundes-
anwaltschaft nicht mehr länger zu ignorieren sein.

Der Polizist, der den Pisser vorübergehend in Gewahrsam genommen hatte, erklärte, dieser habe zwar eingeräumt „früher mal Nazi gewesen“ zu sein, aber doch heute nicht mehr. Man solle bitte jedem zugestehen, dass er seine Meinung geändert haben könnte. Seine Begleiter, ein Kumpel
und anscheinend seine Freundin, lassen derweil freimütig durchblicken, wie sie heute denken: „Verschwinde, verpiss dich, geh zu deinem Scheiß-Mahnmal“, faucht die blonde Frau reflexartig, als wolle sie die vorgeschobene Behauptung des angeblichen Gesinnungswandel ihres Galans noch einmal Lügen strafen. Es fragt sich, ob diese „Ordnungswidrigkeit“ (Erregung öffentlichen Ärger-
nisses) jemals in der Statistik rechtsradikaler Aktivitäten auftaucht.

Jedoch gibt es an diesem Abend auch viele berührende Szenen am Tatort von 1980: Ein junger Betrunkener in Trachtenjanker und Lederhose kniet mühsam nieder und verweilt betend, be-
kreuzigt sich und ist den Tränen nahe. Ein älterer Mann erzählt aufgewühlt, er komme jedes Jahr an diesem Tag hierher, weil er den Blitz der Bombenexplosion nicht vergessen könne. Er habe nur unverletzt überlebt, weil er in diesem Moment hinter einer der tannenreisgeschmückten Vierkant-
säulen des Eingangstores stand. Die Geruchsmischung aus verkohlten Haaren und Steckerlfisch habe sich ihm eingebrannt. Solche gibt es mehrere, die ihre sehr persönlichen Eindrücke schildern, oft noch als Kinder erlebt. Ein Mitte 50-Jähriger aus dem Sauerland zeigt seinen linken Arm-
stumpf vor. Seine Hand habe er während der Kampfmittel-Entsorgung bei der Bundeswehr verlo-
ren, an genau dem Tag des Attentats, daher könne er sich exakt erinnern, weil das im Fernsehen kam. Der Mahnmal-„Wächter“ mit dem ver.di-Überzieher, der interessierten Passanten noch bis spät in die Nacht geduldig Auskunft gibt, worum es hier heute geht, bekommt von Oktoberfest-Besuchern zum Dank für sein Engagement eine Handvoll „Mon Cherie“ zugesteckt und eine Brezn.

Wolfgang Blaschka


zugeschickt am 29. September 2015

Überraschung

Jahr: 2014
Bereich: Rechtsextremismus