Materialien 2015
Volksnahes Staatsballett
ALERTA, ALERTA ANTIFASCISTA!
Gratis-Zugabe unter Standing Ovations im Januar 2015
Unmittelbar im Anschluss an den bunten „Arbeiterfasching“ am 19. Januar 2015 unter dem Motto „Tanz den Bagida“ wurde in der Haupthalle des Hauptbahnhofs ein weiterer kultureller Höhe-
punkt zu später Abendstunde gegeben: Eine großzügig kostümierte und opulent ausgestattete Aufführung für „das Volk“ und mit dem Volk, bei freiem Eintritt und unkontrolliertem Einlass. Wieder einmal bewies der Freistaat Bayern, dass „Kultur für alle“ kein Privileg für blasierte Eliten sein muss. Man brauchte nur ein wenig Glück, zur richtigen Zeit am rechten Ort einzutrudeln, und schon wurde einem ein Stück populistischen Theaters vom Feinsten präsentiert.
Vorausgegangen war dem grandios angelegten Bewegungstanz in der Halle ein dramatisches Prä-
ludium mit zwei fliegenden Holzpaletten, einer Warnbake mit Ständer, einem Brett und einer leeren Mülltonne, die einen Polizisten am Kopf getroffen haben soll, so dass dieser kurz bewusstlos gewesen sei und ein leichtes Schädelhirntrauma davongetragen habe, was wiederum infolge der Festnahme zweier Personen am Treppenaufgang an der Arnulfstraße passiert sein muss, die ver-
sucht hatten, Bagida-Anhänger zu attackieren. Schon vor diesem heftigen Auftakt zu der Eurhyth-
mie am Hauptbahnhof lag eine gewisse Anspannung in der Luft.
Bereits während des Gespensterzuges durch die Sonnenstraße soll es zu vereinzelten Flaschen- und Eierwürfen gekommen sein bei erfolglosen Versuchen, die hermetischen Polizeiabsperrungen zu durchbrechen, welche ebenfalls Verletzungen zeitigten bei einem Gegendemonstranten mit stark blutender Kopfplatzwunde, die laut Aussage eines Polizeibeamten vor Demonstranten einem seiner Kollegen gegenüber von einem Schlagstockeinsatz auf Höhe der Landwehrstraße herrühr-
ten. Es war also bereits ein Drama vorangegangen, bei dem nicht Theaterblut geflossen war, sondern echtes. Der klassische Plot somit: Rache und Gegenrache. Dem Rezensenten war das beinharte Vorspiel nicht bekannt, sonst hätte er seine Theaterkritik mit erhebenderer Ergriffenheit formuliert.
Schrill hallte die Ouvertüre durch die festlich erleuchtete, wenngleich beinahe gespenstisch aus-
gestorbene Halle, gesungen vom gemischten Chor der Antifa: „Ihr habt den Krieg verlor’n …“, eine Avance an das Grüppchen „besorgter Bürger“, denen der „Nazi“ mitten ins Gesicht geschrieben schien, und die doch nur noch eines wollten: Heim zu Muttern. Sie waren dicht umringt von ihren Beschützern, den sie eskortierenden Damen und Herren in grünen Uniformen, die die Bühne offensichtlich souverän beherrschten.
Allerdings musste man etwas Geduld aufbringen, bis Bewegung in die Szenerie kam. Zunächst standen nur Polizeiketten quer durch den weiten Raum, regungslos skulpturenhaft in Reih und Glied. Die schimmernde Wehr des Inneren harrte verinnerlicht, um sich zu sammeln und kon-
templativ zu konzentrieren unter schmucklosen Helmen, bevor sie in Schlachtformation um-
schwenkte und begann als Platzanweiser und Hauptdarsteller in Personalunion die ausgedehnte Bühnenfläche zu beherrschen und weiträumig zu bespielen.
Ihr gegenüber ein Haufen junger Menschen mit Fähnchen und Spruchbändern, die gekonnt
und ausdauernd ein schrilles „Nazis raus“ skandierten, jedoch stakkatohaft auch kompliziertere Sprechchöre intonierten: „Hört, ihr Nazis, seid nicht dumm, folgt euerm Führer, bringt euch um!“ Zwischendurch ratterte ein Elektrowägelchen mit rasselnd leeren Anhängern im Hintergrund quer über den Kopfbahnsteig, um zu demonstrieren, dass hier eigentlich Bahnbetrieb zu herrschen habe. Doch Züge waren um diese Uhrzeit kaum welche da. Da sollten die wenigen, die noch kamen, zumindest erreichbar bleiben. Ansonsten hätte die Bagida-Bagage ihren abgelaufenen Fahrschein ungültig in den Gulli werfen können und in der Bahnhofsmission übernachten müssen. Das freilich wäre dieser kaum zuzumuten gewesen. Sie mussten also pünktlich und zielgenau auf die jeweiligen Bahnsteige expediert werden.
Unter fürsorglichem Staatsschutz waren sie vorher nach ihrer von zehnfacher Überzahl an Gegnern zugebrüllten und ausgefiffenen Kundgebung zum schmachvollen Abgang in den Untergrund der Stachuspassage geleitet worden, um die S-Bahn zu erreichen, ohne mit aufgebrachten Münchne-
rinnen und Münchnern konfrontiert zu werden. Den von auswärts kommenden Islam-Phobisten war nur der kürzeste Haltestellen-Abstand im gesamten Streckennetz des MVV vergönnt, sie mussten am Hauptbahnhof schon wieder raus aus der Geborgenheit kollektiven Schwarzfahrens unter Polizei-Aufsicht, und hinauf in die zugige Halle, wo sie schon erwartet wurden zum Höhe-
punkt des Abends: Grimmiges Rauchen in der Bahnhofshalle unter den Augen der Polizei, norma-
lerweise nur in gelb markierten Zonen außerhalb der Überdachungen gestattet. Angesichts dieses großen Aufgebots an Ordnungskräften spielten solch kleine Ordnungswidrigkeiten jedoch nur eine untergeordnete Rolle. Es hallte wider von Schmähungen gegen die „Spätheimkehrer“.
Bald schon setzte nach einer ausgeklügelten Choreographie ein gespenstischer Reigen behelmter Akteure ein, mal vor, mal zurück, mal seitlich in ausgreifenden Zangenbewegungen, dann wieder in V-Formation durcheinander flutend. Dramaturgisch geschickt schwenkten sie mal bedrohlich um, dann wieder entspannt zusammen zu immer neuen Aufstellungen, bildeten Karrees, Halbkrei-
se oder Elipsen, schwärmten in weit umfassenden Bögen aus, um wieder zu punktgenauen Sam-
melpositionen zusammenzufinden. Manchmal im gemächlichen Gänsemarsch, dann im gehetz-
teren Trott, seltener im trappsenden Laufschritt, doch immer wieder überraschend und kaum vorhersehbar. Die Regie bemühte sich um optische Abwechslung und vermied allzu lange stehende Bilder.
Die Synchronität ließ stellenweise zu wünschen übrig, doch das machten die monolithisch strammen Reihen der sympathischen Herren von der DB-Sicherheit mit ihren lustigen roten Baretts und Schulterklappen wieder wett, welche mit einhellig raunzigem Ton die Bahnsteig-Zugänge besetzt hielten und sich wichtig fühlen durften als Teil dieser sicherheitsdienstüber-
greifenden Inszenierung.
Die Reisenden in Sachen Minarett-Paranoia bekamen durch persönliche Begleitung der hilfreichen Polizeibeamten den Zugang zu ihren Zügen garantiert, unter dem höhnischen Gelächter des mit-
spielenden Publikums und dem schönen Schlusschor: „Ihr könnt nach Hause gehn …“ Applaus und Buhrufe! Als die letzten Abendland-Verteidiger wohlbehütet verfrachtet waren, konnte sich die Ballett-Truppe endlich eingehend einer Gruppe Antifas widmen, die eingekesselt und abgedrängt unter der Galerie auf das Ende der Veranstaltung warten mussten, ehe noch einige vorübergehende Festnahmen vorgenommen wurden, insgesamt sechs nach dieser krönenden Vorstellung. Die Buhrufe überwogen gegen Ende.
Oben auf den begehrten Logenplätzen, die unter der Hand allesamt an Protagonisten der staat-
lichen Mitspieler gegangen waren, hatten die Kamera-Kameraden jede Bewegung und alle Details der Aufführung lückenlos mitgeschnitten, sodass dieser Abend für alle Zeit auswertbar bleibe als das, was er war und sein sollte: Ein Staatsballett der volksnahen Sorte, gegeben zum Gaudium der mehr oder weniger zufällig Anwesenden. Ein Spektakel in Überlänge, aufgeführt mit sattsamen Überstunden des freistaatlichen Bereitschafts-Ensembles unter kostenloser Mitwirkung von Teilen der Bevölkerung sowie ausgewählten Solisten der Bagida-Truppe, die von sich trotzig behauptete, sie sei „das Volk“, zumal einer aus ihren Reihen während der Kundgebung den Hitlergruß gezeigt hatte und aus dem Verkehr gezogen werden musste. Alles in allem ein gelungenes Stück Verab-
schiedungskultur im ansonsten weltoffenen München. Immerhin zu einem Viertel von Migran-
tinnen und Migranten bewohnt bleibt es also eindeutig „bunt statt braun“. Weshalb die meisten Gesichter der „Braunen“ eher kreidebleich wirkten bei den gellenden Rufen „Alerta, alerta antifascista“.
Festzuhalten bleibt: Ohne das martialische Polizei-Aufgebot wäre der montägliche Spuk gar nicht möglich. Die staatliche Garantie eines angeblichen Rechts auf ungehinderte Verbreitung von Na-
zipropaganda, das es nicht gibt, ist und bleibt ein Skandal. Denn Faschismus ist keine Meinung, sondern ein Verbrechen. Rassistische Volksverhetzung ist keinesfalls hinnehmbar, auch nicht als obskures Schmierentheater. Unter den teils vermummten, von der Polizei jedoch weitgehend unbehelligt gebliebenen Bagida-Anhängern befanden sich stadtbekannte Islamhasser und Rechtspopulisten sowie etliche rechtskräftig verurteilte Gewalttäter, insgesamt mehr als 200 bekennende Neonazis auch verbotener Organisationen wie dem „Freien Netz Süd“, viele davon durchaus polizeibekannt, darunter einer der Angeklagten im NSU-Prozess. Da hört sich der Spaß auf, und es wird abgründig todernst.
Wolfgang Blaschka
zugesandt am 21. Januar 2015