Flusslandschaft 2017

Bürgerrechte

Betroffene des 1972 ratifizierten „Radikalenerlasses“ fordern Entschädigung und eine vollständige Rehabilitierung. Als erstes Land der Bundesrepublik beschloss Niedersachsen im vergangenen Jahr die Einrichtung einer Kommission „zur Aufarbeitung der Schicksale der von niedersächsi-
schen Berufsverboten betroffenen Personen und der Möglichkeiten ihrer politischen und gesell-
schaftlichen Rehabilitierung“. Rechtsanwalt Hans-E. Schmitt-Lermann spricht am 11. Mai im Ge-
werkschaftshaus über die historische Kontinuität von Berufsverboten.1

Seit dem 30. Mai gilt der § 114 StGB. Der Paragraph „ist eine Vorschrift, die pünktlich zum G20-Gipfel im Juni 2017 in Kraft getreten ist und den ›tätlichen Angriff‹ gegen Vollstreckungsbeamte unter eine Mindeststrafe von drei Monaten Gefängnis stellt. Es ist vor allem ein Angriff auf die Versammlungsfreiheit, mit der in Hamburg wie in einem Feldversuch praktische Erfahrungen ge-
sammelt worden sind. Im Rahmen der Verfolgung von Gipfelgegnern hat die Staatsanwaltschaft ihre Auslegung der Vorschrift offenbart: Schon das gemeinsame Zugehen im Pulk auf Polizeibeam-
te stelle eine erhebliche Kraftentfaltung dar, die auf einen unmittelbaren körperlichen Zwang ge-
richtet sei. Einer tatsächlichen Berührung bedürfe es nicht. Am 7. Juli gegen 6.30 Uhr stellte sich eine Hundertschaft der Bundespolizei am Rondenbarg einer zu dem Zeitpunkt friedlich marschie-
renden Demonstration in den Weg. Das Zulaufen auf diese Polizeikette wird jetzt als Straftat ver-
folgt. Was heißt das? Es bedeutet, dass es der Polizei überlassen bleiben soll, durch ihr Verhalten das strafbare Verhalten von Demonstrationsteilnehmenden zu begründen. Es ließe sich in Zukunft jede Studierendendemonstration, jeder Marsch der Gewerkschaften, jeder Streik, der mit einer De-
monstration über das Betriebsgelände und aus den Betriebstoren hinaus geht, als kriminell diskre-
ditieren, wenn die Polizei den Weg versperrt. …“2

Der Überwachungsstaat droht. Der Whistleblower und Bürgerrechtsaktivist sowie ehemaliger Mitarbeiter von CIA und NSA Edward Snowden warnt: www.kontext-tv.de/de/sendungen/edward-snowden-aufstand-gegen-den-ueberwachungsstaat, www.kontext-tv.de/de/sendungen/edward-snowden-krieg-der-geheimdienste-gegen-die-demokratie und www.kontext-tv.de/en/broadcasts/edward-snowden-i-wake-every-morning-glad-decisions-i-took.


Der Druck auf die Gesellschaft wächst, die Freiheiten werden kontinuierlich eingeschränkt, die All-
gemeinheit wird unter Generalverdacht gestellt und überwacht. Am 18. Mai hat der Bundestag wei-
tere Überwachungsverschärfungen beschlossen. Das Bündnis „Freiheit statt Angst“ geht auf die Straße für die Freiheit und gegen die Angst, ob Angst vor dem Terror, ob Angst vor dem Nachbarn oder Angst vor dem Ladendieb. Angst davor, dass die Welt gefährlich ist, und Angst vor Kontroll-
verlust. Angst davor, dass der Arbeitnehmer Zeit stiehlt. Freiheit basiert auch auf Vertrauen. Vor-
auseilende Kontrolle ist Misstrauen gegenüber jedem und allen. Nach Ansicht des Bündnisses werden über 80 Millionen Bürger in Deutschland durch die verschärften Regelungen zu potenziel-
len Verbrechern gemacht. Die Kundgebung richtet sich am 15. Juni gegen Vorratsdatenspeiche-
rung, Kontrolltechnologien, Überwachung und Generalverdacht.

Seit dem 1. August 2017 ist das „Gefährdergesetz“ gültig. Bisher konnte die Vorbeugehaft in Bayern bis zu 14 Tage dauern, länger als anderswo. Wer ab jetzt unter Verdacht steht, ein Gefährder zu sein, kann schon bald lange in Haft gehen – verdammt lange. Ohne dass eine Straftat vorliegt, kann man/frau schon wegen „drohender Gefahr“ unbefristet in Haft genommen werden; die rich-
terliche Kontrolle ist sehr unzureichend.3

(zuletzt geändert am 25.1.2021)


1 Siehe „Berufsverbote historisch“ von Hans-E. Schmitt-Lermann.

2 Demokratische Rechte verteidigen. RAV Infobrief 114 vom Dezember 2017. Zum G20-Gipfel in Hamburg. Siehe auch „Post aus der Hölle – Notizen zum G20 in Hamburg“, Juli 2017, in https://bhliestunterwaesche.wordpress.com/

3 Siehe „Unendlichkeitsgewahrsam, Vorverlagerung des Gefahrbegriffs und Kontrollen in Geflüchtetenunterkünften – Bonbons aus den jüngsten PAG-Novellen“ von Yunus Zyial.

Überraschung

Jahr: 2017
Bereich: Bürgerrechte