Flusslandschaft 2020

Frauen

Abtreibung bleibt in Deutschland eine Straftat, die nur nicht geahndet wird, wenn sie in den ersten zwölf Wochen und nach Beratung geschieht. Kirchen und reaktionäre Gruppen fordern Frauen und Ärzt*innen regelmäßig auf, „ihrem religiösen Gewissen“ zu folgen. Manchmal wird dieser Druck auch handgreiflich. Nach § 129a dürfen Ärzt*innen nicht einmal auf ihrer Internetpräsenz auf Ab-
brüche hinweisen. Dies wird als illegale Werbung gewertet und mit Bußgeldern bestraft. Die Zahl der Praxen, die Abbrüche durchführen, ist in den letzten fünfzehn Jahren um vierzig Prozent ge-
sunken.

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In der Nähe des Bahnwärter Thiel im Schlachthofgelände im Januar

Die Antisexistische Aktion München veranstaltet mit über sechzig TeilnehmerInnen am 7. Januar um 19 Uhr unter dem Motto „Kein Vergessen“ vor dem ehemaligen Club Liverpool in der Schiller-
staße 11A, heute Broadway, eine Gedenkkundgebung in Erinnerung an den 36. Jahrestag des rechtsterroristischen Anschlags der „Gruppe Ludwig“, bei dem 1984 die 20jährige Barangestellte Corinna Tartarotti getötet und acht weitere Menschen verletzt wurden. Bedrückend ist, dass über die Täter alles bekannt ist, die Opfer aber „vergessen“ wurden. Bei der Kundgebung wird gefordert: Ein respektvolles Gedenken aus Opferperspektive und Solidarität mit allen von Rassismus, Antife-
minismus und Antisemitismus betroffenen Menschen, die lückenlose Aufklärung und Aufarbei-
tung aktueller und vergangener rechter Terroranschläge, ein Ende der Pathologisierung und Ent-
politisierung rechter Gewalt und  einen bundesweiten Gedenktag für die Opfer rechter Gewalt.2

Seit 30 Jahren organisiert die VivaTS Selbsthilfe e.V. Hilfe zur Selbsthilfe von und für trans* und non binary Personen. Für Sonntag, 2. Februar, ruft der Verein zu einer Demo unter dem Motto „Zusammen gegen trans*feindliche Gewalt“ auf: „Diese Gewalt ist für uns Alltag geworden. Als Trans*Frauen, Trans*Männer, non_binary und gender non conforming Menschen sind wir, unsere Partner*innen, Freund*innen, unsere Community davon betroffen. Besonders häufig werden Trans*Weiblichkeiten, und dabei vor allem Schwarze und Trans*Weiblichkeiten of Color angegrif-
fen. Im letzten Jahr ist die Zahl dieser Übergriffe angestiegen. Dem wird aber in der Öffentlichkeit kaum Bedeutung geschenkt. Mit der Demonstration wollen wir zeigen: Trans*Rechte sind Men-
schenrechte! Wir haben verschiedene Trans*Aktivist*innen eingeladen, über die Situation in Mün-
chen zu sprechen. Dafür organizieren wir Flüsterübersetzungen in english und spanisch, bitte kommt auf uns zu, wenn ihr sie hören wollt.“ Um 13.00 Uhr beginnt die Kundgebung auf dem Ste-
phansplatz, dann demonstrieren 150 Menschen zum Gärtnerplatz. Im Anschluss treffen sich viele im Bellevue di Monaco bei heißem Tee und Kaffee.

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1 Billion Rising: Am 14. Februar tanzen am Stachus — wie an diesem Tag weltweit — Frauen mit einem erhobenen Zeigefinger gegen Gewalt und für mehr Respekt.4

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Eigentlich sind Viren ja Gleichmacher. Sie befallen jeden, egal, ob reich oder arm, egal, welche Hautfarbe ein Mensch hat oder aus welchem Land er stammt. Tatsächlich ist es anders: Während reiche Menschen aufs Land fliehen und im Homeoffice per Videokonferenz weiter ihr Geld verdie-
nen können, müssen Kassierer*innen und Pfleger*innen jeden Tag aufs Neue das Haus verlassen und sich in Gefahr begeben. Es sind jetzt vor allem Frauen, die „systemrelevant“ sind. Mehr als 70 Prozent der Belegschaften im Nahrungsmittel-Einzelhandel, bei den Sozialversicherungen und in den Krankenhäusern sind Frauen.

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Kaufingerstraße am 2. Mai

Gerade jetzt, in Zeiten der häuslichen Isolation, nimmt patriarchale Gewalt im persönlichen Um-
feld sprunghaft zu. Frauenorganisationen veranstalten am Freitag, 8. Mai, um 16 Uhr auf dem Stachus nach Morden und Mordversuchen an Frauen in Hamburg und Gießen am vergangenen Wochenende eine Mahnwache „Es heißt Femizid! Stoppt die Gewalt an Frauen“.

Deutschland: Jede Stunde wird eine Frau von ihrem „Partner“ geschlagen. Jeden Tag versucht ein Mann eine Frau zu töten, häufiger als jeden dritten Tag gelingt dies. Seit dem Jahreswechsel wur-
den 87 Frauen ermordet. Am Freitag, 12. Juni, findet um 17 Uhr eine weitere Mahnwache „Es heißt Femizid! Stoppt Gewalt gegen Frauen“ auf dem Rotkreuzplatz statt.

Der Staat schreckt ab. Die Situation von Frauen in den Flüchtlingslagern ist extrem prekär. Münchner Frauenorganisationen machen mobil.7

Am Montag, 28. September, findet ab 15 Uhr auf dem Marienplatz die Kundgebung des Bayeri-
schen Bündnisses für die Streichung von § 218
statt. Das Bündnis fordert
♀ die sofortige Streichung des § 218 StGB (inklusive §219a): uneingeschränkten, legalen, kosten-
freien Zugang zu Schwangerschaftsabbrüchen,
♀ den kostenfreien, offenen Zugriff auf sachgerechte Informationen über Schwangerschaftsabbrü-
che (ohne jeglichen Beratungszwang), sowie staatlich geförderte Beratungsangebote durch Ärzt*Innen und Beratungsstellen, die freiwillig in Anspruch genommen werden können,
♀ Abbruchmethoden als Teil der ärztlichen Ausbildung,
♀ Schutz und Unterstützung für Einrichtungen, die Beratung anbieten oder Schwangerschaftsab-
brüche vornehmen,
♀ eine staatlich geförderte Sicherstellung der ärztlichen Versorgung und die diskriminierungsfreie Behandlung von Frauen, die einen Schwangerschaftsabbruch in Erwägung ziehen oder sich bereits für einen Abbruch entschieden haben.
Als Voraussetzung für einen verantwortungsvollen, gesellschaftlichen Umgang mit Schwanger-
schaften empfiehlt es die sofortige Umsetzung folgender Maßnahmen:
♀ Informationen und kostenfreien Zugang zu Verhütungsmethoden (ohne Altersbegrenzung nach oben)
♀ kostenfreie Abgabe der „Pille danach“
♀ Verbesserung und Ausbau der schulischen Aufklärung, wissenschaftliche Sexualaufklärung für alle Altersgruppen
♀ eine Ausweitung der Förderung der Schwangerenberatungen und der familienunterstützenden Leistungen (Ausbau der bestehenden Beratungsstellen, Förderung niedrigschwelliger Angebote).




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Abtreibungsgegner*innen veranstalten am 3. Oktober einen „Marsch für das Leben.“ Bei der Ge-
genkundgebung vor dem Reiterdenkmal am Odeonsplatz nehmen 140 Menschen teil. Etwa 20 Minuten vor 15 Uhr gehen sie zur Feldherrnhalle, wo kurz vor 15 Uhr etwa 100 Abtreibungsgeg-
ner*innen mit ihrer Kundgebung und nach etwa einer Viertelstunde mit ihrem Umzug beginnen, begleitet von 250 Gegendemonstrant*innen. 300 Polizistinnen und Polizisten sind im Einsatz. Der Zug durch die Stadt soll wieder am Odeonsplatz enden. Auf dem Weg dorthin werden die Attacken heftiger. Blockadeversuche werden umgangen. Schließlich versuchen 30 Gegendemonstrant*innen den Zugweg in die Residenzstraße zu blockieren. Polizisten zücken den „Einsatzmehrzweckstock“, es kommt zu heftigen Wortwechseln. Die 30 werden solange eingekesselt, bis die Abtreibungsgeg-
ner*innen durch die Engstelle gelangen. Mehrere Personen werden angezeigt, unter anderem we-
gen des Widerstands gegen Vollstreckungsbeamte, des tätlichen Angriffs auf Vollstreckungsbeamte sowie wegen „einer Belästigung der Allgemeinheit“. Um 17 Uhr treffen die Abtreibungsgegner*in-
nen am Odeonsplatz ein, um hier zu beten. – Ein Fotograf begleitet die Veranstaltungen. Er lichtet auch Transparente der Autonomen ab. Einer von diesen geht auf den Fotografen zu, versperrt ihm die Sicht mit einem geöffneten Regenschirm und brüllt zugleich „Abstand“. Der Fotograf ist sauer. Er meint zum Autonomen, er solle sich doch gleich in die Riege der Blockwarte einreihen. Jessica di Rovereto, die diesen Vorgang beobachtet, ist verblüfft. Einerseits – vermutet sie – wollen die Autonomen mit ihren Bannern öffentlich wahrgenommen werden, dann wieder verhindern sie ihr eigenes Anliegen. Oder geht es um etwas ganz anderes, das nur sie nicht begreift?


Am Samstag, 31. Oktober, demonstrieren Frauen in der Sendlinger Straße 8 um 16 Uhr zusammen mit Radfem Munich, Stopsexkauf und weitere Menschenrechtsorganisationen. Edurne Carpintero von VulvaFem: „Die Corona-Pandemie hat die katastrophalen Zustände in der Prostitution deut-
lich gemacht: Viele prostituierte Frauen haben weder eine Wohnung noch eine Krankenversiche-
rung noch finanzielle Rücklagen oder Alternativen. Sie sind täglich psychischer und körperlicher Gewalt ausgesetzt, deren Folge oft posttraumatische Belastungsstörungen sind. Sie müssen sich prostituieren, um überleben zu können, weil Alternativen und Unterstützung oft fehlen. Zusätzlich zu dieser krank machenden Tätigkeit sind sie momentan in hohem Maße einem gefährlichen Coro-
na-Virus  ausgesetzt. Anstatt Frauen flächendeckende und aus Steuern finanzierte Ausstiegshilfen zu bieten, verjagen die Bundesländer sie und bestrafen mit hohen Bußgeldern und Freiheitsstrafen. Deswegen finden bundesweit in  der Woche vom  23. bis 31. Oktober Proteste statt. Menschen-
rechts-Organisationen, Initiativen, Bürgerinnen und Bürger gehen in vielen deutschen Städten auf die Straße und demonstrieren gegen diese Absurdität und Grausamkeit. Wir fordern:
● Sexkauf wird untersagt. Freier und sonstige Profiteure werden entsprechend bestraft.
● Prostitution wird nicht bestraft. Bußgelder und Sperrbezirks-Verordnungen für Prostituierte werden ausgesetzt. Frauen, die sich aufgrund illegaler Prostitution oder Prostitution im Sperrbe-
zirk in Haft befinden, werden amnestiert und freigelassen. Bereits verhängte Bußgelder werden erlassen.
● Frauen in der Prostitution werden als Risiko-Gruppe aufgefasst. Corona-Tests und andere me-
dizinische Hilfen werden ihnen kostenlos angeboten.
● Es werden Unterbringungsmöglichkeiten sowie finanzielle Hilfen für Prostituierte geschaffen. Hilfe und Unterstützung bei Zwang, Substanz-Mißbrauch oder physischen Problemen wird aktiv angeboten.
● Das Personal der zuständigen Behörden muss zu Themen Sexkauf, Zuhälterei und Profite aus Prostitution anderer kritisch geschult werden, um eine gewaltfreie und konstruktive Kommuni-
kation, sowie Solidarität für Prostituierte zu ermöglichen.“
Langfristig fordern die Frauen: Abolition der Prostitution und Einführung des Nordischen Mo-
dells.

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Beim bislang größten Protest gegen die Verschärfung des Abtreibungsrechts in Polen mit rund 100.000 Teilnehmern kommt es am Freitag, 30. Oktober, zu Übergriffen durch maskierte Täter gegen die Demonstrantinnen. Koordiniert werden die Proteste vom losen Zusammenschluss ver-
schiedener Frauenrechtsorganisationen „Strajk Kobiet“ (Frauenstreik). Das Bild zeigt den Mast einer Straßenlaterne auf dem Marienplatz am Abend des 2. November.

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Westendstraße 51 am 31. Dezember


1 Foto © Volker Derlath

2 Siehe http://asam.noblogs.org.

3 Foto: Jessica di Rovereto

4 Siehe die Bilder von „1 billion rising“ von Cornelia Blomeyer und https://www.onebillionrising-muenchen.de/

5 Siehe die Bilder von „weltfrauentag“ von Peter Brüning.

6 Foto © Volker Derlath

7 Siehe „Gewaltschutz für geflüchtete Frauen“.

8 Fotos: Jessica di Rovereto

9 Foto © Volker Derlath

10 Foto: Franz Gans

11 Foto: Richy Meyer

Überraschung

Jahr: 2020
Bereich: Frauen