Flusslandschaft 1973
Zensur
Silvester: Das bayrische Fernsehen will sich aus dem vom Westdeutschen Rundfunk in der ARD ausgestrahlte Programm der Lach- und Schießgesellschaft, welches „Der Abfall Bayerns“ heißt, trotz schwerwiegender Bedenken NICHT ausschalten. Allzu viel sich bevormundet fühlende Fern-
sehzuschauer haben sich beim Bayerischen Rundfunk (BR) wegen der letzten Abschaltungen be-
schwert. Der Pressesprecher des BR meint aber auch, dass der „Abfall Bayerns“ erheblich aktuali-
siert werde, so dass die Silvestersendung mit dem ursprünglichen Programm „höchstens zu einem Zehntel“1 übereinstimmen wird. Es kommt zu weiteren heftigen Protesten; manche Zeitgenossen genieren sich für die Provinzialität der bayrischen Fernsehverantwortlichen.
Am 8. Januar findet in der ARD die Erstausstrahlung der „Sesamstraße“ statt. Der BR protestiert gleich zu Beginn der Ausstrahlungen, da die Lebensumstände in den USA und in Deutschland nicht miteinander zu vergleichen seien; einige Szenen spielten, so die protestierenden Bayern, in New Yorker Slums. Deutsche Lehrerverbände befürchten eine Bildungskatastrophe … die „Sesam-
straße“ wird im Sendegebiet von NDR, RB, SFB, WDR und HR sowie in allen dritten Programmen mit Ausnahme des BR gesendet. Dieser produziert als Ersatz das „feuerrote Spielmobil“.
Am 31. Januar 1972 zeigte der WDR Rosa von Praunheims Film “Nicht der Homosexuelle ist per-
vers …”. Die ARD zog da noch nicht mit. Am 15. Januar 1973 ist die ARD so weit. Bundesweit soll der Streifen gesendet werden. Einer schert aus: Fernsehdirektor Oeller, der den Spitznamen „Der Verhüter“ trägt, verhindert, dass bayrische Fernsehzuschauer von diesem Schweinkram behelligt werden. Die Bayerische Initiative Rundfunkfreiheit (BIR) zeigt daraufhin den Film im ARRI-Kino. Im Anschluss an den Film findet eine Diskussion mit Schülerinnen und Schülern statt.
Ein Münchner Staatsanwalt zieht gegen Schweinkram zu Felde. Die United Artists lassen nicht einmal Bertoluccis Der letzte Tango von Paris in München laufen. Erst nach Intervention eines Kinobesitzers läuft der Streifen unter dem Titel „Heinrich VIII“.2
Ende April strahlt das ZDF statt des Stücks „Oberösterreich“ von Franz Xaver Kroetz Gaston Sal-
vatores „Büchners Tod“ aus, weil der Sender für die bereits am 1. März unter August Everdings Leitung aufgezeichnete Diskussion, die in dieser Sendereihe automatisch mit der Stückaufzeich-
nung gekoppelt ist, von der Zeitschrift Gong der kommunistischen Unterwanderung bezichtigt wird. „Und das genügte, um wieder einmal die Informations- und Kunstfreiheit abzuwürgen. Zur ZDF-Erklärung schreibt die ,Zeit’ (4.5.1973): ,Es sei nicht das Stück diskutiert worden, sondern soziale Probleme mit unkontrollierbaren Sachbehauptungen.‘ Zweite Schlußfolgerung: Die Infor-
mations- und Kunstfreiheit besteht nach Ansicht des ZDF darin, sich selbst die Freiheit anzuma-
ßen, garantierte Grundrechte in eigener Machtvollkommenheit abzuschaffen. Lassen wir für einen Moment mal die impertinente Argumentation der Mainzer beiseite. Wieso sind denn Stück und Diskussion wochenlang ohne jeden Einwand konserviert worden? Weil niemand etwas einzuwen-
den hatte. So einfach ist das. Es gibt hier, und jede andere Lösung wäre ein Rückfall in die Restau-
rationspraktiken der Adenauer-Ära, nur eine Konsequenz: Verfassungsklage. Aber das, verehrte Leser, ist wohl eine Illusion.“3
Siehe auch „Schwule/Lesben“.
(zuletzt geändert am 27.7.2025)
1 Frankfurter Rundschau 73 vom 27. März 1973, 16; vgl. Was ist mit unserem Rundfunk los? Bayerische Initiative Rund-
funkfreiheit, München 1976, 45.
2 Siehe „‚Ein Penis halt’“.
3 Blätter für deutsche und internationale Politik 5/1973, Köln, 553.