Flusslandschaft 2020
Kapitalismus
1
Schellingstraße 3 im Januar
Die „Chicago-Boys“ haben während der Pinochet-Diktatur in Chile zwischen 1973 und 1988 das Land grundlegend verändert. Westliche Politiker propagieren eine neue Marktordnung. 2003 meint Kanzler „Basta!“ Schröder im Bundestag: „Wir werden Leistungen des Staates kürzen, Eigenverantwortung fördern und mehr Eigenleistung von jedem Einzelnen abfordern müssen.“ Der neoliberale Mainstream durchdringt den Alltag. Mit seinem ideologischen Trommelfeuer bewirkt er, dass „die Menschen diese Ansätze und Ideen als gut, als angemessen und als alterna-
tivlos kennenlernen“.2 Der entgrenzte Markt, der angeblich Freiheit verspricht, wird zugleich autoritär und repressiv abgesichert. Nur wer sich unterwirft, mitspielt und mit marktkonformen Verhalten seine Konkurrenzfähigkeit gegenüber anderen unter Beweis stellt, wer sich „kritisch“ selbst analysiert, sich selbst „optimiert“ und auf dem Markt die „bessere“ Performance zeigt, sieht keine Notwendigkeit, das System zu hinterfragen. Die Frage lautet: Welche Strategien benötigen wir, um dem falschen Freiheitsversprechen Paroli zu bieten?
3
An der S-Bahn-Haltestelle Laim im Februar Richtung Hirschgarten
Das Corona-Virus bedroht nicht nur menschliche Atemwege und führt das Gesundheitssystem an seine Grenzen, es attackiert zugleich die zunehmend globalisierte Weltwirtschaft. Die politischen Entscheider beschließen ein Milliardenhilfspaket, „um das Schlimmste abzuwenden“. Es wird am Ende der Krise die Wirtschaftsgiganten retten, die kleineren Produzenten werden auf der Strecke bleiben. Global Player wie Black Rock werden den Finanzkapitalismus weiter und noch besser do-
minieren. Für sie ist die Pandemie ein Geschenk des Himmels. Jetzt werden die Weichen gestellt zwischen der Transformation hin zu einer resilienten, klimaneutralen Wirtschaftsordnung und der Wiederneuauflage eines noch „effektiveren“ Kapitalismus. Es ist zu befürchten, letztere wird sich durchsetzen. Es sei denn …
4
Soll einer sagen, bei den Kapitalvertretern gäbe es keine ehrlichen Leute! Alexander Dibelius ist einer von ihnen. Seines Zeichens Finanzmanager und Berater von Angela Merkel, äußert er sich in einem Interview mit dem HANDELSBLATT auf bemerkenswert offene Weise zum Thema Corona-
krise. Wie alle klugen Leute, die bei schwierigen Problemen die Dinge gegeneinander abwägen, stellt er angesichts der Gefährdung der Wirtschaft am 23. März die Frage, ob es „richtig“ sei, „dass 10 Prozent der – wirklich bedrohten – Bevölkerung geschont, 90 Prozent der gesamten Volkswirt-
schaft aber extrem behindert“ würden. Die Logik des verhinderten Seuchendoktors ist die: besser die Wirtschaft mit den Jungen und Gesunden hochfahren als auf die Alten und Schwachen Rück-
sicht zu nehmen. Wie sagte Ende der Neunziger Jahre der ehemalige Präsident der Bundesärzte-
kammer und Menschenfreund Karsten Vilmar einmal? Bei einer dauerhaften Budgetierung der finanziellen Aufwendungen im Gesundheitswesen sollte überlegt werden, „ob die Zählebigkeit der älteren Generation weiterhin anhalten könne oder ob man deren sozialverträgliches Ableben för-
dern müsse …“.
Richy Meyer hat im April dieses Plakat an seinem Auto angebracht. Er meint, er sei zwar skeptisch und habe keine Illusionen, dass die Menschheit aus ihren Fehlern lerne, er sehe buchstäblich schwarz, aber es könne ja nichts schaden, trotzdem für eine bessere Welt zu werben.
Am 14. Mai demonstrieren ein Dutzend Mitglieder von Fridays for Future, Attac, BUND Natur-
schutz München, Pro Regenwald und dem Dachverband der Kritischen Aktionäre vor der BMW-Zentrale in München und halten ein Banner hoch mit der Aufschrift: „SUVs zu Straßenbahnen! Autoindustrie klimagerecht umbauen!“ Die virtuelle Aktionärshauptversammlung beschließt eine Ausschüttung von 1,6 Milliarden Euro Dividende. Davon gehen 425 Millionen Euro an Stefan Quandt und 344 Millionen Euro an Susanne Klatten, die beiden BMW-Hauptaktionäre. Mit so viel Geld könnte man jeder der 1,1 Millionen Pflegekräfte in Deutschland (ambulant und stationär) eine Prämie von 700 Euro auszahlen. Die Forderung der Autokonzerne, einschließlich BMW, nach staatlichen Kaufprämien zur Steigerung des Autoabsatzes ist angesichts der verfügbaren liquiden Mittel etwa bei BMW von 19 Milliarden € schlicht und ergreifend unverschämt.5
6
Guido Zingerl hat 2019 und 2020 mit 16 Acrylgemälden, elf Zeichnungen und 13 Karikaturen seinen Zyklus „Das Narrenschiff“ fertiggestellt.
Am 2. September stirbt David Graeber. Extinction Rebellion München setzt einen Nachruf ins Netz: https://xrebellmuc.blogspot.com/2020/09/david-graeber-zu-danken-ein.html.
Der Verantwortliche für diese Web-Seite schreibt am 6. Dezember an Werner Schmidt-Koska einen Brief: „Lieber Werner, Danke für die erhellenden Zusammenhänge. Deine Rede ist außergewöhn-
lich, weil sie nicht auf die ‚Braunen‘ einprügelt, sondern viel eher den Horizont erweitert. Mit Dei-
ner Zustimmung veröffentliche ich sowohl die Fotos wie die Rede. Das dritte Foto lassen wir besser weg. Die offenkundige Teilnahme des Familienministeriums trägt nicht zu Wahrheitsfindung bei. Am Ende läuft die Diskussion darauf hinaus: ‚Wie weit seid Ihr Linken gesunken, dass Ihr jetzt Staatspropaganda betreibt!!! Ihr besorgt Merkels und Söders Geschäft, Ihr Schweinebacken!!!‘ Da-
bei ist der Schweinepreis momentan auf einem Tiefstand, was den teutschen Ferkelzüchter ver-
zweifeln lässt. Heute hatte ich Besuch von einer alten Genossin, die den ‚chinesischen Weg‘ als goldrichtig propagiert. Der Kapitalismus werde am ‚chinesischen Weg‘ scheitern. Etwas einge-
schüchtert betonte ich leise, die Chinesen bauten jetzt riesige Ferkelfabriken, zehn- oder gar hun-
dertmal so groß wie die Teutschen. ‚Da siehst Du‘, meinte mein Gast, ‚vom chinesischen Weg ler-
nen heißt siegen lernen‘. Manchmal weiß ich nicht mehr weiter …“ Darauf antwortet Schmidt-Koska spontan, ohne Lektor*in und frisch von der Leber weg, aber grundsätzlich.7
8
Harald Welzer motiviert in seinem neuen Buch „Alles könnte anders sein. Eine Gesellschaftsutopie für freie Menschen“, das in Frankfurt am Main erscheint, zu einem positiven Wandel, zu einer ge-
sellschaftlichen Transformation. So erfreulich seine Anstöße sind, wenn es um Alternativen in der Mikroökonomie geht, die weltweiten Katastrophen werden davon nicht tangiert. So schließt er sich der Behauptung Steven Pinkers an, dass es im Prozess der Zivilisierung zu einer kontinuierlichen Abnahme von Gewaltausübung gekommen wäre. Dies trifft für Menschen in den privilegieren, rechtsstaatlich abgesicherten Ländern zum Teil zu. Geleugnet wird damit jedoch, dass es weiterhin Gewalt in Privathaushalten gibt, Kriege zugenommen haben, die ökologische Apokalypse zur mas-
siven Verschärfung von Spannungen zwischen verschiedenen Gruppen führt und Überwachung und Repression spürbar ausgeweitet werden. Welzer thematisiert nicht globale Unterdrückung, Ausbeutung, Entfremdung und Entwürdigung, er sieht nicht die Kluft zwischen dem Selbstver-
ständnis und der Realität demokratischer Institutionen und die kontinuierliche Anhäufung von Reichtum durch eine kleine Schicht von Gewinnern.
(zuletzt geändert am 15.1.2024)
1 Foto: Franz Gans
2 Patrick Schreiner, Unterwerfung als Freiheit. Leben im Neoliberalismus, Köln 2020, 8.
3 Foto © Volker Derlath
4 Zeichnung: Günter Wangerin
5 Siehe https://www.isw-muenchen.de/2020/05/bmw-aktionaerstreffen-spenden-fuer-dividenden/?utm_source=mailpoet&utm_medium=email&utm_campaign=isw+Newsletter+2020-01.
6 Zu sehen ist Zingerls Zyklus unter https://verdi-kultur.de/averdiKulturforumZingerl/42DieHoelleistleer.jpg.
7 Siehe „Teutsche Chinesen“ von Werner Schmidt-Koska.
8 DIW Wochenbericht 29/220