Flusslandschaft 2020

Armut

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Schaufenster eines Trödelladens in der Fraunhoferstraße im März

Im reichen Deutschland leben etwa 41.000 Obdachlose. Niemand kann ihnen raten, ihre Wohnung zu verlassen. Nachtcafés, Tagesstätten, Suppenküchen, Notunterkünfte und Beratungsstellen sind seit Ende März geschlossen. Viele Wohnungslose sind nicht krankenversichert und die meisten so-
wieso schon bei schlechter Gesundheit. Wohnraum entscheidet über Leben und Tod. Am 17. März fordern Obdachlose, dass die Münchner Notschlafstelle für Obdachlose in der Bayernkaserne auch tagsüber geöffnet ist. Ab 21. März öffnet die Stadt den Übernachtungsschutz auch tagsüber.

Ab Montag, 1. Juni, werden Obdachlose tagsüber wieder auf die Straße geschickt. Sie können sich so nicht ausreichend gegen die Pandemie, die noch nicht vorbei ist, schützen. Eine Gruppe Frauen, die den Übernachtungsschutz nutzen, weisen auf teils schwere gesundheitliche Probleme hin. Sie wüssten nicht, wie sie die Tage auf der Straße überstehen sollten. Andere Personen erzählen von Jobverlusten in der Krise und fragen, wie sie ohne Geld und mit all ihrem Gepäck einen neuen Job finden sollen. Einige erklären, völlig mittellos zu sein. Sie erhalten aber keine oder nicht ausrei-
chend Informationen zu ihren Ansprüchen auf soziale Leistungen und Unterstützung, diese zu be-
antragen. Im Übernachtungsschutz gäbe es auch kein Internet, das für viele Besuche bei Behörden oder Beratungsangebote und um mit Angehörigen zu kommunizieren, aktuell notwendig sei. Auch ohne Corona ist die Stadt verpflichtet, obdachlosen Personen eine ganztägige Unterkunft, die Min-
deststandards entspricht, zur Verfügung zu stellen, um ihr Leib und Leben und ihre Menschenwür-
de zu schützen. Der Übernachtungsschutz genügt diesen Mindeststandards nicht: Er muss ab Montag wieder tagsüber mit allen persönlichen Gegenständen verlassen werden. Es ist so für viele unmöglich, einer Arbeit nachzugehen oder sich im Krankheitsfall zu erholen. Der Übernachtungs-
schutz sieht eine Unterbringung von bis zu 7 – 10 Personen in einem Zimmer vor, die jeden Tag neu belegt werden. Es gibt keine Möglichkeit, zu kochen oder Besuch zu empfangen. Die Hausre-
geln werden vom Sicherheitsdienst scharf überwacht und Vergehen hart bestraft. Immer wieder wird Nutzer*innen ein Hausverbot ausgesprochen, teils werden sogar Kollektivstrafen verhängt. Den Nutzer*innen steht keine unabhängige Beschwerdestruktur zur Verfügung, um etwa über un-
gerechtfertigte Strafen zu berichten. – Die Straße ist meist die einzige Alternative. Verschärfend kommt in der aktuellen Pandemie Situation hinzu, dass Tagesaufenthalte für obdachlose Personen (Infozentrum Migration und Arbeit, Teestube Komm etc.) derzeit entweder geschlossen sind oder zur Gewährung der Mindestabstände extrem eingeschränkten Betrieb haben und deshalb bei wei-
tem nicht ausreichend Platz bieten. Die Initiative Zivilcourage ruft zur Kundgebung auf für Sams-
tag, 30. Mai, 9.30 – 10.30 Uhr auf dem Odeonsplatz.2 30 Menschen protestieren. Eine Türkin trägt ein Schild mit der Aufschrift „Insan gibi yasamak istiyoruz“ (Auf Deutsch: „Wir wollen wie Men-
schen leben“).

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Seitenkapelle der Theatinerkirche am Nachmittag des 3. Oktober

Am 11. Oktober schlägt die Initiative Zivilcourage Alarm. Die Nutzer*innen des Übernachtungs-
schutzes in der Bayernkaserne sollen ab November tagsüber trotz massiv steigender Coronazahlen und sinkender Temperaturen wieder auf die Straße geschickt werden. Diese Neuigkeiten verursa-
chen Panik und Protest unter den Nutzer*innen, da die Entscheidung ihre ohnehin sehr prekären Lebensumstände – besonders im Lichte der Pandemie und des herannahenden Winters – sehr verschlimmern wird. Die Initiative fordert: Die Räumlichkeiten des Übernachtungsschutz sollten für die Nutzer*innen auch nach dem 30. Oktober weiterhin tagsüber zur Verfügung stehen. Es sollte sichergestellt sein, dass die Nutzer*innen über die Zeit mit gleichbleibenden und selbstge-
wählten Zimmerkoleg*innen ihre Räume teilen. Den Nutzer*innen sollten weiterhin private, ab-
schließbare Spinde für ihre Habseligkeiten zur Verfügung stehen.

Bis Mitte Oktober bleibt die Obdachlosenunterkunft in der Bayernkaserne ganztags geöffnet. Trotz massiv steigender Coronazahlen und sinkender Temperaturen sollen die Obdachlosen aber ab No-
vember tagsüber wieder auf die Straße geschickt werden. Am 21. Oktober entscheidet der Stadtrat, ob der Tagesaufenthalt geschlossen wir. Er grüner Stadtrat meint, dies wäre in Ordnung, weil die Stadt Geld sparen müsse.

Siehe auch „Bürgerrechte“.


1 Foto © Volker Derlath

2 http://inizivi.antira.info/2020/05/28/obdachlose-munchnerinnen-protestieren-tagesaufenthalt-in-der-bayernkaserne-wird-nun-mitten-in-der-pandemie-geschlossen/ Siehe http://inizivi.antira.info/2020/03/18/corona-was-obdachlose-menschen-in-munchen-fordern/

3 Foto: Jessica di Rovereto

Überraschung

Jahr: 2020
Bereich: Armut