Materialien 1980

Manchmal werfen Schatten auch ihre Ereignisse voraus ...

Verwunderte Leserschaft, vom Umfang her wie auch von seiner üblichen Ausstattung fällt dieses 182. Blatt aus dem Rahmen. Es ist merklich und unüberlesbar geschrumpft. Blatt 182 ist eine Not-
ausgabe geworden, die zweite in der Geschichte vom Blatt. Anders aber, als im April 74, wo das 21. Blatt als schmalseitige Krisennummer erschien, ist es diesmal nicht der Geldsack, der uns zwingt, dieses Heft so dürftig zu präsentieren: Ohne redaktionellen Teil, ohne Veranstaltungskalender und Adressen bleibt es auf den vorab verkauften Anzeigenraum, ausgewählte Leserbriefe und einige Kurznachrichten beschränkt. Unsere Not heute hat einen anderen, nicht weniger wichtigen Grund …

Der Wahlkampfterror der letzten 10 Tage hinterließ nicht nur auf dem Oktoberfest seine grausa-
men Spuren. Sein mordendes Geschäft, aber auch die großen, starken Sprüche, die widerstandslos und regiegerecht sein Finale traumatisierten, haben auch in unseren Köpfen ihre Krater hinterlas-
sen. Betroffenheit und Angst, längst schon haben sie sich öffentlich wieder verloren in den Schlag-
zeilen der Aktualität, termingeplagt und erinnerungslos. Zum Alltag übergehen?

Anders als im deutschen Herbst vor drei Jahren, als das Begreifen von einer strikt befolgten Nach-
richtensperre behindert war, hat Deutschland den Herbst 80 als „einzigartige journalistische Lei-
stung“ (so ein dankbarer SZ-Leserbrief) auf den Frühstückstisch geliefert gekriegt. Auch wenn of-
fensichtlich ist, dass mit den flinken, opportunen Thesen vom „irrsinnigen Einzeltäter“ noch längst nicht das letzte Wort gesprochen ist; auch wenn es hilflos beschränkt wirkt, wie sich der eingefah-
rene antifaschistische Sachverstand jetzt nur auf die WSG-Hoffmann als dem „Umfeld“ des neona-
zistischen Terrors einschießt; auch wenn jetzt nach der Wahl vielleicht erst erahnbar wird, was die Langzeitwirkung der Bombe ist – an Nachrichten, Kommentaren, Foren und Medien zu verbreiten, was zu sagen wär, hat es diesmal nicht gefehlt.

Vier Tage nach der Bombe trotten in München kaum mehr als 2.000 Menschen ausdruckslos hin-
ter den Naziverbotsparolen der ordnungsbewußten kommunistischen Sekten hinterher. Während die Politik nicht ungeschickt die Folgen des Terrors zu nützen weiß, verdrückt sich die Linke von den Straßen: Man kann doch nicht wegen jedem Scheißdreck zum Demonstrieren gehen! Das Schweigen, die Reglosigkeit und Einsamkeit des Widerstands im deutschen Herbst 1980 ist kein Aufklärungsproblem. Mit Bewußtseinsperre dürfte er treffender beschrieben sein.

„Nach Auschwitz kann man keine Gedichte mehr schreiben“ hat Adorno gesagt, bevor er in Frank-
furt dann doch über das neue Deutschland aufzuklären begann. Aus der von ihm so entscheidend geprägten Gesellschaftstheorie hat die größte außerparlamentarische Opposition in diesem Land dereinst ihren kritischen Verstand bezogen. Mit ihr auch erfuhr der aufklärerische Glaube an die bewußtseinsverändernde Macht des geschriebenen Worts eine neue, papierene Renaissance. Und als Spätfolge davon entstand das unüberhörbare Rauschen im alternativen Blätterwald. Die taz, gewaltigstes und umstrittenstes Kind im neuen Medienverbund, deren entscheidender Geburtshel-
fer die Nachrichtensperre bei der Schleyer-Entführung war, versuchte am Montag nach dem Ge-
metzel auf der Wiesn unter der Überschrift „Medien und Terror“ ihre Sprache zu finden: „Das Oktoberfest geht weiter, in München scheint man sich darauf verständigt zu haben, den Anschlag vorsichtshalber psychologisch herunterzuspielen, eine andere Medienstrategie könnte sich als Bumerang erweisen …“ Was als Kritik an Tandlers beharrlicher These von der Einzeltäterschaft gedacht war, geriet aber auch in Berlin der taz zum Bumerang. Denn Tage später ließ sich unter dem Druck der Ereignisse nur noch zwischen ihren Zeilen herauslesen, dass die Bombe schon fast wieder vergessen ist. Nicht nur das Oktoberfest geht weiter, sondern auch die alternative Medien-
maschinerie!

Als ob nichts gewesen wär: Diese Woche begann in Frankfurt die Buchmesse und dazu pflichtge-
mäß natürlich die Gegenmesse der alternativen Medienindustrie. Aus gleichem Anlass hatte der Frankfurter „Pflasterstrand“ vor einem Jahr für eine „Erhöhung der Analphabetenrate“ plädiert. Aus dem Inhalt: „Die (gedruckte, veröffentlichte, d.Verf.) Läuterung der Rede über die eigene Erfahrung, die nur Erfahrung aus zweiter, dritter, x-ter Hand ist, wird begleitet oder ist Ausdruck einer stätigen Vereinzelung, Vereinsamung, dem Rückzug in die eigene Stube.“

Angesichts der kaputten, eingefahrenen und von nichts als kleinlicher Vereinsmeierei geprägten Trauer – und Protestdemonstration am letzten Dienstag haben sich die Veränderungen, die mit uns in den letzten Jahren geschehen sind, öffentlich gezeigt. Die Frage sei deshalb erlaubt: 180 Blätter seit 7 Jahren, was haben sie bewirkt? Es mag eine vermessene, die Bedeutung und Wirkung unserer Arbeit weit überschätzende Fragestellung sein, nur, warum sollten wir an diesem Abend das Blatt und seine Geschichte nicht auch SO hinterfragen?

Es war nicht nur unsere Sprachlosigkeit, die diese Notausgabe produzierte. Vielmehr bestärkte uns eine Antwort, die sich unter dem Druck der Umstände in diesen letzten Tagen einfand: Dass spon-
tane Reaktion, Trauer, Wut und Angst keine Frage von Aufklärung und Gegeninformation ist. Denn dem Service des alternativen Pressewesens, öffentlich verbreitet, aber privat gelesen, ist ein wesentliches Merkmal der politischen Kultur der vergangenen Bewegung verloren gegangen – die Fähigkeit zum lebendigen Disput in aller Öffentlichkeit! Sie lässt sich nicht schreibend erzwingen und durch keine Medien ersetzen.

Vor die Wahl gestellt, eine Schwerpunktnummer zum Thema „Faschismus“ (mit ausführlichen Analysen, Informationen und Dokumentationen) zu machen oder ein Blatt wie dieses zur Diskus-
sion zu stellen, haben wir uns für letzteres entschieden: In der Hoffnung, dass unser Schweigen davon erzählt, was sich hinter dem Geschriebenen verborgen hält, und in der Hoffnung auch, dass die nächsten Blätter wieder „sprechender“ werden …


Blatt. Stadtzeitung für München 182 vom 10. Oktober 1980, 2 f.

Überraschung

Jahr: 1980
Bereich: Rechtsextremismus