Flusslandschaft 1974

Bürgerrechte

„… Ob es uns wohl vergönnt ist, eine Art von Größe zu erleben, die nicht unmenschlich ist, ein Glück, das nicht von der Mittelmäßigkeit verfälscht wird? … Die Schönheit hat sich auf kalte Mu-
seumsstücke zurückgezogen, die auf dem schmutzigen Ozean des Elends treiben … Wir sehen nur noch elende Massen, und über ihnen einen Herrschaftsapparat ohne eine Spur von Größe. Eine Kunst ohne die Schönheit des Könnens. Die Reize sind verschwunden. Überall zeigt sich die Macht ohne Scham: Gewehre, Panzer, Polizei …“ Henri Lefebvre 1974

Für den 21. Januar lädt der Münchner Initiativkreis Solidarität gegen Berufsverbote zu einer Protestversammlung.

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Kundgebung des „Initiativkreises Solidarität gegen Berufsverbote“.


„Der Münchner Maler und Graphiker Jost Maxim, 8 München 70, Heiglhofstraße 43 (Tel. 089/71 51 60), zeichnete das hier abgebildete Solidaritätsblatt für den vom Berufsverbot betroffenen So-
zialpädagogen Erich Frieser, dessen Anstellung bei der Stadt München durch einen einstimmigen Beschluß der CSU und SPD/FDP-Stadtratsfraktionen verhindert worden ist. Die Zeichnung kann in Plakatgröße bei Jost Maxim bezogen werden. Das Blatt kostet DM 20. – .“2

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»Ingrid Scholz, 40 Jahre, medizinisch-technische Assistentin, qualifizierte Fachkraft auf dem Ge-
biet der Elektronenmikroskopie am Institut für Zellbiologie der Universität München, 15 Jahre im Öffentlichen Dienst tätig, wurde im März durch folgende formlose Mitteilung, die an ihren Chef, Prof. Miller gerichtet war, überrascht: ‚Unter Bezugnahme auf das Universitätsschreiben vom 23.5.73 Nr. IV-P 699 wird mitgeteilt, daß das mit der Angestellten Scholz mit 30.6.1974 befristete Arbeitsverhältnis zu diesem Zeitpunkt auslaufen wird. Die Planstelle ist am 1.7.1974 neu zu beset-
zen.‘ … Ein bayrischer Fernsehjournalist ermittelt bei einem Unirechtsvertreter: Sie ist Mitglied der DKP, unterzeichnete einen DKP-Wahlaufruf zur Kommunalwahl in München und nahm an einer Deligiertenkonferenz ihrer Partei teil.«4 Das Berufsverbot richtet sich nicht nur gegen Erzie-
her und Beamte.

Am 13. April erfährt der Medienwissenschaftler Prof. Dr. Horst Holzer vom Kultusministerium, dass er aus dem Beamtenverhältnis auf Probe „mangels Eignung“ entlassen werde. Holzer ist akti-
ves Mitglied der DKP. Für den 21. Mai plant die bayrische Studentenschaft eine Demonstration gegen Berufsverbote und gegen die Entlassung Holzers. Die Gewerkschaft Erziehung und Wissen-
schaft
(GEW) ruft für den 27. Juni zu einer Demonstration für Holzer auf.5

„Im Juni hatte ich zu melden: »Strafe für alle Demonstranten?« Die CSU-Regierung bereitete einen Gesetzentwurf vor, wonach jeder Staatsbürger, der sich einer »friedensstörenden Menschen-
menge« anschließt oder sich nicht daraus entfernt, grundsätzlich wegen Landfriedensbruch be-
langt werden kann. Bisheriger Strafrahmen: Nicht unter sechs Monate Freiheitsentzug. Eine solche Verschärfung des Aufruhrparagrafen 125 im Strafgesetz wollte Bayern über den Bundesrat durch-
setzen. Begründet wurde das mit zunehmender Gewalttätigkeit bei Olympischen Spielen. Auch lag ein Anschlag in Stockholm nicht weit zurück. – Zur gleichen Zeit arbeiteten Experten interdiszipli-
när im Landeskriminalamt an der Entwicklung neuartiger nichttödlicher Polizei-Waffen gegen Terroristen und »harte Kriminelle«. Abteilungsleiter Sebald erzählte mir von KO-Gasen, Bakteri-
en, Geschossen aus Hartgummi, einer Steinschleuder und einem Minisender, der noch bis auf tau-
send Meter durch Mauern und Türen übertragen könne. Realisiert wurde erst zehn Jahre später ein Reizgas, das bei den Polizei-Einsätzen in Wackersdorf zu tödlichen Unfällen geführt haben soll.“6

„GERICHTSENTSCHEID: Berufsverbot verboten! – Die Lehrerin Ingelore Priesing, die wegen ‚mangelnder Verfassungstreue‘ keine Anstellung gefunden hatte, bekam jetzt vor dem Arbeitsge-
richt München Recht. Die Begründungen des Berufsverbotes durch die CSU-Staatsregierung und die SPD-Stadtverwaltung (‚freiwillig unter den Einfluss der Essenz des Weltkommunismus bege-
ben‘) wurden als rechtswidrig zurückgewiesen. Ingelore Priesing bekommt jetzt Lohn (Nachzah-
lung seit 1.12.73) und Arbeit.“7

Am 27. Juni findet eine Kundgebung für Rüdiger Offergeld statt. Der DGB distanziert sich wegen „kommunistischer Unterwanderung“.8


„NA BITTE, am Freitag, den 26. Juli ist es endlich soweit: das SOMMERFEST des KOLLEKTIVS ROTE HILFE steigt. Für Musik sorgen EMBRYO, die Rockband SAMETI, THOMAS wartet mit po-
litischen Liedern auf. Für die VERSTEIGERUNG hat MARTIN WALSER das HANDGESCHRIE-
BENE ORIGINALMANUSKRIPT seiner Erzählung „VORSPIEL ZU DÜRER“ zur Verfügung ge-
stellt. HEINRICH BÖLL hat eine noch nicht veröffentlichte Erzählung zur ROTEN-HILFE-VER-
STEIGERUNG beigesteuert. Zwei Drehbücher von WIM WENDERS und VOLKER VOGELER sind auch da; versteht sich von selbst: eine Menge handsignierter Bücher auch. Der Film des FRANK-
FURTER HÄUSERRATS hat selbstverständlich auch auf dem Fest seine WELT-PREMIERE – falls er bis zum Freitag fertiggestellt ist. Für die TOMBOLA sind 1.000 Preise eingegangen! Schallplat-
ten, Poster, Grafiken, Bücher, Bilder, Schmuck, Matratzen, Singvögel, Briefmarken, Haselnüsse, Regenschirme und eine Taucherbrille. Die bekannten ORIGINAL-ROTE-HILFE-T-SCHIRTS, alle handbedruckt, gibts natürlich auch zu kaufen. Deshalb: am Freitag, 26.7., gehen alle um 19 Uhr ins SCHWABINGERBRÄU aufs SOMMERFEST. Wir sind auch da. Der REINERLÖS aus den Eintritts-
preisen (5 DM/3 DM) wandert an die KNASTHILFE.“9

Die Sozialdemokratin Heidewig Fankhänel ist nicht nur Mitglied im 12. Bezirksausschuss, sie ver-
sieht auch das Ehrenamt einer Schöffin am Amtsgericht München. Im September 1974 legt sie dieses Amt aus Gewissensgründen nieder.10

Siehe auch „CSU“.

(zuletzt geändert am 17.5.2025)


1 »Berufsverbote«, Nachlaß Zingerl, Archiv der Münchner Arbeiterbewegung

2 tendenzen. Zeitschrift für engagierte Kunst 95 vom Mai/Juni 1974, 66.

3 tendenzen. Zeitschrift für engagierte Kunst 96 vom Juli/August 1974, Umschlag Rückseite.

4 Deutsche Volkszeitung 33 vom 15. August 1974.

5 Flugblätter etc.: Stadtarchiv, Zeitgeschichtliche Sammlung 152/1.

6 Karl Stankiewitz am 27. Juni 2024

7 Blatt. Stadtzeitung für München 25 vom 14. Juni 1974, 3.

8 Vgl. Süddeutsche Zeitung 146/1974.

9 Blatt. Stadtzeitung für München 28 vom 12. Juli 1974, 3 und 12.

10 Siehe „Hintergründe im Fall Fankhänel — ein Skandal!“.