Materialien 1969
Zum Konzept der antiautoritären Erziehung
Das Wort ,antiautoritär’ ist für viele ein rotes Tuch. Antiautoritäre Erziehung: Soll das heißen, dass die Kinder tun und lassen dürfen, was sie wollen?
Zu Ihrer Beruhigung: nein. ‚Antiautoritär‘ erzogene Kinder wachsen nicht ohne jede Autorität auf. Wir unterscheiden zwischen zwei verschiedenen Arten von Autorität: der institutionellen, die sich von einer Position gesellschaftlicher Macht ableitet und irrational und selbstzweckhaft erscheint. Und der sachlichen Autorität, die sich als einholbarer Vorsprung an Wissen und Erfahrung aus-
weist. Die erste lehnen wir ab. Antiautoritäre Erziehung bedeutet uns: Erziehung zur Kritik an der irrationalen, unausgewiesenen Autorität, am drohend erhobenen Zeigefinger. Erziehung zu ratio-
nalem Verhalten.
Wäre es dann nicht am besten, die Kinder in Familien zu erziehen, deren erwachsene Teile die Selbstzweck-Autorität abgelegt haben? Wir glauben: nein. Nicht umsonst ist die Familie für das bestehende kapitalistische System schutzwürdig. Sie ist es, weil sie bestimmte Funktionen erfüllt, die auch durch eine andere (die antiautoritäre) Erziehungsmethode in der Familie nicht aufgeho-
ben werden können. Sie erfüllt die Funktion:
1. der Isolierung der Individuen (Verhinderung ihrer gesellschaftlichen Solidarisierung),
2. der Möglichkeit zur Weitergabe von im Betrieb erfahrener Unterdrückung an Frau und Kinder,
3. der Befestigung des Eigentums-Denkens und -Verhaltens,
4. der sexuellen Beschränkung der beiden Erwachsenen aufeinander. Sexuelles Tabu für die Kin-
der.
Die Verinnerlichung dieser Mechanismen garantiert die Anpassung der Individuen an das kapitali-
stische System. Die Mechanismen innerhalb der Familie in der Erziehungsmethode aufheben zu wollen, ist einerseits illusorisch (Es gibt z.B. keine geeigneten sexuellen Partner für die Kinder in-
nerhalb der Familie; die Familie erhält sich gemeinsam, denkt also notwendig in Kategorien des Familieneigentums etc.) und würde andererseits eine Verschleierung der objektiven Machtverhält-
nisse in der Familie bedeuten. (Wenn beispielsweise die Eltern von sich aus darauf verzichten, ihre Machtmöglichkeiten den Kindern gegenüber einzusetzen, und die Kinder als gleichberechtigte Partner anerkennen, so sieht das von den tatsächlichen Machtverhältnissen in der Familie sowie vom objektiven Interessengegensatz zwischen Erwachsenen und Kindern ab.) Ein Mitspracherecht der Kinder in der Familie kann also höchstens Formaldemokratie bedeuten.
Wir brauchen den Kindergarten als kompensatorische Einrichtung zur Familie: der Kindergarten ist für die Interessen und Bedürfnisse der Kinder da, diese sind den Erwachsenen gegenüber in der Übermacht, hier finden sie gleichstarke Partner, die sich in der gleichen Phase der geistigen und sexuellen Entwicklung befinden, mit denen sie sich auseinandersetzen und mit denen sie zusam-
menarbeiten können.
Der Kindergarten ist somit Voraussetzung für die eine Seite der antiautoritären Erziehung, die aus den Erkenntnissen der Psychoanalyse abgeleitet ist und das Ziel hat, Neurosen und zwanghaftes, irrationales Verhalten zu vermeiden, die zwangsläufige Folgen der Familienerziehung sind; be-
stimmte Bedürfnisse, insbesondere die sexuellen, müssen dort verdrängt werden, woraus Angst und Schuldgefühle entstehen, die der Autonomie des Individuums entgegenstehen. Eine Fixierung an die Eltern, d.h. die Verinnerlichung der Autorität als Macht an sich kann in der Familie allein nicht abgebaut werden. Sie hat ein unauflösbares, weil irrationales Ohnmachtsbewusstsein gegen-
über gesellschaftlicher Macht zur Folge. Die Kinder sollen deshalb im Kindergarten die Möglich-
keit haben, ihre der jeweiligen Entwicklungsphase entsprechenden Bedürfnisse ohne Angst vor Strafe oder Liebesentzug ausleben zu können.
Das soll nicht heißen, dass die Familienerziehung dann weiterhin autoritär sein kann; sie muss sich in jedem Fall der Erziehung im Kindergarten angleichen, weil sonst – solange die Kinder nun mal noch z.T. in Kleinfamilien leben – eine für sie nicht verstehbare und von uns nicht vertretbare Schizophrenie der Möglichkeiten und Normen zustande kommt. Vielmehr sollten unsere Kinder-
gärten politisch auch ein Beitrag dazu sein, die ebenfalls durch die Struktur der Familie – insbe-
sondere ihre Isolierungsfunktion – bedingte vollständige Trennung zwischen Privatheit und Öf-
fentlichkeit ansatzweise aufzuheben.
Die psychoanalytische Seite unserer Erziehung soll also die Voraussetzungen (nämlich Ich-starke, selbständige Persönlichkeiten) für das schaffen, was wir eigentlich wollen.
Wir wollen keine Freiräume für Privilegierte schaffen. (Was auch nur bedingt möglich wäre – weil die Kinder ja auf jeden Fall bereits als Kinder der Unterdrückung begegnen werden [Hauswart bzw. -frau, beim Einkauf, Verwandte, andere Erwachsene, auf Spielplatz, in der Schule!] und als Erwachsene ihr auch nicht völlig entgehen können.)
Erziehung zur Realität heißt in unserer Gesellschaft: Vorbereitung auf die Unterdrückung.
Wir halten es jedoch nach unserer politischen Überzeugung für richtig, diese Realität der Unter-
drückung nicht als ohnehin unveränderbar resignierend hinzunehmen. Vielmehr sind die Bedin-
gungen und der Zusammenhang der Unterdrückung bereits den Kindern durchsichtig zu machen. Unterdrückung ist von Menschen geschaffen und kann von Menschen abgeschafft werden.
Als wichtigste Ziele unserer Erziehung, die bereits im Vorschulalter anzulegen sind, stellen sich daher die folgenden dar:
1. Die Kinder sollen lernen, ihre Interessen zu erkennen und ohne Angst vor Strafe oder Liebes-
entzug zu vertreten, auch und gerade den Erwachsenen gegenüber.
2. Sie können lernen, dass dies gemeinsam eher möglich ist als allein, also Kooperation und Solidarität.
3. Konflikte sollen nicht verschleiert, sondern offen und möglichst selbständig und rational ausgetragen werden.
4. Die Welt ist als veränderbar zu verstehen.
Flugblatt der Münchner „Aktion Kindergarten“, Hans-Werner Saß (Hg.), Antiautoritäre Erziehung oder Erziehung der Erzieher. Soziales Lernen in Erwachsenengruppen, Stuttgart 1972, 193 f.