Materialien 1983
Die Polizei
Als Anfang der sechziger Jahre vollkommen unerwartet die Schwabinger Krawalle ausbrachen und tagelang wie ein Naturereignis einen ganzen Stadtteil lahmlegten, reagierte die Münchner Polizei hilflos. Sie marschierte mit Hundertschaften der Bereitschaftspolizei auf, knüppelte auf Beteiligte und Unbeteiligte ein und schuf so das, was sie seither meidet wie der Teufel das Weihwasser: klare Fronten und eine saubere Unterscheidung zwischen Freund und Feind.
Die Lehre aus diesem Fiasko war der Aufbau einer psychologischen Abteilung im Polizeipräsidium, aus der sich die bekannte »Münchner Linie« entwickelte. Sie besteht darin, abweichende Verhal-
tensformen frühzeitig zu erfassen, mögliche Sympathisanten abzuschrecken und allgemein ein Kli-
ma der Unsicherheit und Ohnmacht bei den Betroffenen zu verbreiten.
Bei Demos tritt die Münchner Polizei üblicherweise nicht in Form von martialischen Hundert-
schaften in Erscheinung wie beim Häuserkampf in Berlin oder wie in Brokdorf und an der Start-
bahn West. Es fehlt daher an einer Öffentlichkeit, in der sich die wirklichen Konflikte klärend zu-
spitzen könnten.
Viel typischer für die Münchner Linie sind kleinere Schlägereien am Rande und oft provoziert von Zivis, denen dann die Uniformierten »zu Hilfe« kommen. Solchen Zwischenfällen fehlt die Öffent-
lichkeit. Die provozierten Schlägereien erscheinen den übrigen, die nicht unmittelbar Augenzeugen wurden, unplausibel, die Polizeipropaganda tut ein übriges. Die Bewegung ist gespalten, bevor sie noch dazu kommt, ein gemeinsames Bewusstsein zu entwickeln.
Ähnlich wirksam sind die überall »verdeckt« mitlaufenden Zivis,die oft meilenweit als solche zu erkennen sind und sich gar nicht um Tarnung bemühen. Ihre bloße Anwesenheit verunsichert, zu-
mal man weiß, dass sie ihre Beobachtungen später notieren und weitergeben.
Aus ihren Berichten entstehen die Rädelsführer-Legenden, ohne die der Polizeiapparat nicht leben kann. Wer einmal als »Führer« identifiziert ist, kann sich nirgendwo mehr blicken lassen, ohne dass jeder Schritt und jede Äußerung sich im Polizeiakt niederschlägt. Auch wenn gar nichts pas-
siert: zu einem Verfahren wegen unangemeldeter Versammlung, wegen beleidigenden Sprechchö-
ren oder wegen Werfen von Krachern reicht es immer. Die Münchner Polizei ist sehr stolz auf ihre vorbeugende Tätigkeit. Tatsächlich ist ihre Sensibilität gegenüber allem, was den Keim der Rebel-
lion in sich trägt, verblüffend. Das einzig nennenswerte autonome Jugendzentrum ZOFF in der Landsberger Straße bekam 1983 eine Kündigung, noch bevor es die neu angemieteten Räume überhaupt beziehen konnte. Big Brother war bei der Vermieterin gewesen und hatte sie unter Druck gesetzt. Als es dann trotzdem zu einem zeitlich befristeten Mietvertrag mit dem ZOFF kam, überlegte sich die Polizei was Neues. Diesmal ging es gegen die Besucher. Bei einem Konzert stand sie schon mit einer Hundertschaft bereit. Eine abgebrochene Autoantenne und ein luftleerer Reifen eines Polizeiautos waren der Vorwand, um das ganze Gebäude zu umstellen und alle zu zwingen, sich auszuweisen. Als sich ein Teil der Besucher weigerte, sich registrieren zu lassen, wurde er stundenlang festgehalten. Ähnlich erging es in den 70er Jahren mehr als 500 Studenten, die sich ohne Genehmigung des Universitätspräsidenten Lobkowitz in einem leeren Hörsaal versammelt hatten und 150 Leuten, die ein Fest in einem leerstehenden Altersheim veranstalteten, um gegen den bevorstehenden Abriss zu protestieren.
Die Münchner Polizei scheut in diesen Fällen den – auf den ersten Blick ganz unsinnigen – Auf-
wand nicht. Offenbar geht es dabei nur um kleinste Regelverstöße. Das polizeiliche Aufgebot steht dazu in scheinbar groteskem Verhältnis. Schwer bewaffnete Hundertschaften gegen unorganisierte und erschreckte Leute, die so verblüfft sind, dass ihnen kein Gedanke an Widerstand kommt. In jedem Einzelfall werden dann Verfahren durchgezogen, umständlich Ermittlungen geführt und erkennungsdienstliche Unterlagen gesammelt. Selbst wenn dann am Ende nicht viel Greifbares herauskommt, der Einschüchterungs- und Abschreckungseffekt ist enorm.
Deshalb glauben wir, dass die flexible Münchner Linie viel gefährlicher für jede oppositionelle Be-
wegung ist als die bekannten traditionellen Polizeistrategien anderer Städte. Dort geht die Polizei regelmäßig nach dem Prinzip vor, die »Störung« dann zu bekämpfen, wenn sie auftritt, und nur mit Mitteln, die in etwa dem Anlass entsprechen sollen. D.h, wenn »friedlich« demonstriert wird, ist auch die Polizei zurückhaltend, erwartet man militante Aktionen, erscheint sie in militärischer Formation.
Mittlerweile hat das Münchner Modell auch woanders Schule gemacht. Der in München schon seit vielen Jahren gebräuchlichen Praxis, mit zivilen Greiftrupps und sogenannten Klettengruppen Pro-
vokationen in die Demos zu tragen, hat der »Spiegel« noch am 19. Dezember 83 einen ganzen Arti-
kel gewidmet.
Weil in München viel radikaler als anderswo der Grundsatz der Vorbeugung auch bei kleinsten An-
lässen unnachgiebig durchgezogen wird, gelingt es, den Widerstand zu brechen, bevor er sich sei-
ner selbst bewusst wird und formieren kann. Der Münchner Linie gehört die Zukunft oder anders-
herum: nur wenn wir lernen, auch mit dieser Linie fertigzuwerden, haben wir eine Zukunft.
Börni, Annette, Ruth, Mathias, Hartmut (Wächtler), Christopher, Lilo, Billy und Andrea (Wolf) mit Beiträgen von Wolfi und Reinhard, Stark sein – stärker werden, München Januar 1984, 13 ff.