Flusslandschaft 1975
Gewerkschaften/Arbeitswelt
- Allgemeines
- DGB
- Deckel
- Lehrerinnen und Lehrer
- Metallindustrie
- Rhode & Schwarz
- Schreiner
- Schwabinger Krankenhaus
- Siemens
ALLGEMEINES
Anfang April sind in Bayern 9.735 Jugendliche erwerbslos.1
Am Ende des Jahres in der BRD
– ist Wirtschaftswachstum immer noch das vorrangige Ziel,
– wird der Bevölkerung eine immer größere Lärm- und Schafstoffbelastung zugemutet,
– ereignet sich alle 18 Sekunden ein Arbeitsunfall,
– ist jeder 13. Erwerbstätige von einem Arbeitsunfall/einer Berufskrankheit betroffen,
– bekommen Frauen bei gleicher Arbeit 1/3 weniger Lohn als Männer,
– gibt es ca. eine Million Erwerbslose, jeder 10. davon ist ein/e Jugendliche/r,
– wird Arbeitern eine qualifizierte Mitbestimmung (was und wie produziert wird) verweigert,
– besitzen 1,7 Prozent der Bevölkerung 70 Prozent des Produktivvermögens,
– sind Wegwerfprodukte wichtiger als dauerhafte Güter,
– werden allein für Werbung 100 Millionen DM aufgewendet,
– wird Natur zerstört, um noch mehr Straßen zu bauen und noch größere Fabriken zu errichten,
– soll mit Atomkraftwerken die sog. Energielücke geschlossen werden,
– gibt es 6 Millionen Arme (=10 Prozent der Bevölkerung) mit einem Einkommen, das unter den Sozialhilfesätzen liegt,
– gibt es über 600.000 Obdachlose, davon die Hälfte Kinder,
– gibt es ca. 1 Million Alkoholiker,
– sind über 40.000 Jugendliche rauschgiftsüchtig,
– gehen über 4 Millionen Menschen wegen psychischen und psychosomatischen Krankheiten zum Arzt,
– sterben täglich 36 Menschen durch Selbstmord, über 100.000 unternehmen einen Selbstmord-
versuch,
– sterben täglich 36 Menschen durch Verkehrsunfälle auf der Straße,
– werden ca. 30.000 Kinder von ihren Eltern schwer misshandelt,
– sind viele Wohnungen zu klein, zu laut und zu teuer,
– sind 20 Prozent der Großstadtwohnungen sanitär unzureichend ausgestattet,
– sind über 100.000 BügerInnen auf ihre „Verfassungstreue“ überprüft worden.
Siehe auch „Frieden/Abrüstung“.
DGB
Das Motto des DGB zum Ersten Mai lautet: »Sichere Arbeitsplätze, Gerechtigkeit, Starke Gewerk-
schaften — DGB — Internationales Jahr der Frau.« Der DGB-Kreisvorsitzende begrüßt 50.000 Menschen auf dem Königsplatz. Seine Forderungen lauten: „Für sichere Arbeitsplätze“, „Mitbe-stimmung“, „Gegen Lohnsenkung“ und „Für Berufsbildungsreform“. Der Polizeibericht spricht von 8.000 Teilnehmern, die Bild-Zeitung von 6.000 und die Süddeutsche Zeitung von 12.000 Teilneh-mern. Dann sprechen Oberbürgermeister Kronawitter und Bundesforschungsminister Matthöfer. Sie weisen auf die augenblickliche Wirtschaftskrise hin, grenzen die Gewerkschaftsbewegung gegen „Rechts“ und „Links“ ab und fordern dazu auf, die Ärmel hochzukrempeln, dann werde man es schon schaffen.2
7. Juni: Kundgebung der DGB-Jugend gegen Lehrstellenabbau, Jugendarbeitslosigkeit und für Ausbildungsreform.3
Mit der Ölkrise 1973 beginnen Angriffe auf mühsam und nur in Ansätzen erkämpfte Errungen-
schaften wie Sozialstaat und Mitbestimmung. Der DGB hält bei einem Kongress in Frankfurt am Main Anfang Oktober dagegen. Der Vorsitzende Heinz Oskar Vetter: „Das Grundgesetz hat als pro-
visorische Regelung der Frage der Wirtschafts- und Gesellschaftsordnung grundsätzlich offenge-
lassen. Diese Offenheit bedeutet nicht, dass allein eine Alternative gestattet wäre: einerseits der li-
beralistische Kapitalismus alter Art, andererseits ein sich auf der Grundlage von Maßnahmen der Vergesellschaftung entwickelnder demokratischer Sozialismus. In der politischen Diskussion jener Zeit spielten vielmehr gerade dritte Wege eine wichtige Rolle: Modelle einer weitgehend durch so-
ziale Grundrechte, Mitbestimmungsrechte der Arbeitnehmer und Interventionsrechte des Staates modifizierten privatwirtschaftlichen Ordnung. Diese Modelle sollten in jedem Falle verfassungs-
rechtlich zulässig sein. Sie kommen mit der politisch-historischen Bedeutung der Begriffe ‚sozialer Staat‘ und ‚sozialer Rechtsstaat‘ zur Deckung. Nicht zu vergessen: Auch die soziale Marktwirtschaft sollte mehr sein als nur ein neues Etikett für eine alte Ware.“4
DECKEL
Firma Deckel: „… Im Zusammenhang mit der Kurzarbeit sei auch auf die Überstunden hingewie-
sen, die an manchen Stellen in unserem Betrieb geschoben werden mußten. Auf der einen Seite Kurzarbeit und auf der anderen Überstunden. Prinzipiell sind wir der Meinung, dass die Arbeiter-
bewegung nicht über 50 Jahre für den 8-Stunden-Tag gekämpft hat, damit ihn die Unternehmer durch Überstundenzwang ständig durchlöchern. Zum anderen sollten wir auch daran denken, dass auch in München viele Kollegen arbeitslos sind. Wenn wir zu viel Arbeit haben, die durch den re-
gulären 8-Stunden-Tag nicht geschafft werden kann, dann soll man neue Arbeitskräfte einstellen und uns nicht ewig mit Überstunden kommen.“5
LEHRERINNEN und LEHRER
Für den 9. Juli lädt die Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft (GEW) zu einer Demonstration „gegen Planstellenstreichungen und Lehrerarbeitslosigkeit“.6
METALLINDUSTRIE
Der neue Tarifabschluss in der Metallindustrie ergibt 6,8 Prozent. Das scheint ein annehmbares Ergebnis zu sein. Tatsächlich haben die aktuellen Preiserhöhungen das meiste schon wieder aufge-
fressen. Nichts ist besser geworden.7
RHODE & SCHWARZ
In der Toilette bei Rhode & Schwarz steht an der Wand: „Die 7 Phasen der Auftragsabwicklung –
1. Begeisterung. 2. Verwirrung. 3. Ernüchterung. 4. Massenflucht der Verantwortlichen. 5. Suche der Schuldigen. 6. Bestrafung der Unschuldigen. 7. Auszeichnung der Nichtbeteiligten.“ In der Firma sollen zehn Prozent der Kosten reduziert werden. Das geht bekanntermassen auch über Entlassungen. Der Betriebsrat steht da im Wege. Was tun?8
SCHREINER
Schreiner demonstrieren am 15. März gegen tariflosen Zustand.9
SCHWABINGER KRANKENHAUS
Eine Initiativgruppe vom Schwabinger Krankenhaus informiert am 24. Juli in der Max-Emanuel-Brauerei in der Adalbertstraße 33 über „Auswirkungen der 40-Stundenwoche auf Patienten und Pflegepersonal“ und protestiert gegen den drohenden Gewerkschaftsausschluss der Kranken-
schwester Barbara Rotthaler und des Arztes Johannes Spatz, deren Forderungen der ÖTV zu weit gehen.
SIEMENS
Manche Siemens-Mitarbeiter haben auch ein paar Aktien des Betriebs, in dem sie arbeiten. Dass sie sich deshalb mit ihrer Firma identifizieren, ist nicht immer gesagt.10 — „Drohungen wegen Krankheit – Im Bereich Fg wurden auf Anweisung der Personalabteilung Listen mit den Fehlzeiten der einzelnen Kollegen aufgestellt. Mehreren Kollegen, die öfters wegen Krankheit gefehlt hatten, wurde nun eröffnet, dass sie im Wiederholungsfalle mit einer Kürzung der Sonderzulagen zu rechnen hätten. Wir betonen, dass es sich keinesfalls um sogenannte Blaufeierer handelt, in den meisten Fällen lagen der Firma ärztliche Atteste vor. Sonderzulagen können bekanntlich jederzeit gekürzt werden; es ist jedoch eine grobe Unverschämtheit, diese Zulagen als Druckmittel gegen Kranke einzusetzen. Damit soll letztlich erreicht werden, dass Kollegen entgegen der ärztlichen Weisung zur Arbeit kommen. Ob sie damit ihre Gesundheit ruinieren, interessiert die Herren von Siemens wohl nicht. Da die Verantwortlichen offensichtlich meinen, die augenblicklich (für sie) günstige Lage auf dem Arbeitsmarkt ausnützen zu können, ist davon jeder betroffen. Kollegen, meldet solche Vorfälle Eurem Betriebsrat, sobald sie Euch bekannt werden. Er wird sich für die Betroffenen einsetzen.“11
(zuletzt geändert am 10.8.2020)
1 Vgl. Süddeutsche Zeitung vom 3. April.
2 Siehe Fotos vom „ersten mai“.
3 Vgl. Süddeutsche Zeitung 129/1975.
4 Heinz O. Vetter (Hg.), Mitbestimmung, Wirtschaftsordnung, Grundgesetz. Protokoll der wissenschaftlichen Konferenz des DGB vom 1. – 3. Oktober 1975 in Frankfurt a.M., Frankfurt/M. 1976, 25.
5 Unser Echo. Zeitung der DKP-Betriebsgruppe für Deckel 3/1975, 1.
6 Broschüre: Stadtarchiv, Zeitgeschichtliche Sammlung 152/1.
7 Siehe „In der Krise lassen sie alle die Maske fallen – auch die Herrn von BMW“.
8 Siehe „Unbequeme Betriebsräte sollten gefeuert werden“.
9 Vgl. Süddeutsche Zeitung 63/1975.
10 Siehe „Die Hauptversammlung“ von E. A. Rauter.
11 Betriebsecho. Zeitung der DKP-Betriebsgruppe für die Siemens-Belegschaft, April 1975, 8.