Materialien 1957

Ein Gesicht in der Menge

Elia Kazan drehte einen Film über das Phänomen der Massen-Idole

Was ist das für eine Welt? Die noch nicht Zwanzigjährigen zucken mit den Gliedern, die über zwanzig bestenfalls mit den Achseln. Elvis Presley, ein guter, grüner Junge aus dem amerikani-
schen Süden, singt, schluchzt, röhrt und schwenkt seine Hüften in eindeutig erotischer Pointie-
rung. Was ist das für eine Welt, die solche Helden zum Idol erhebt? fragen die einen. Was ist das für eine Welt, die unseren Sehnsüchten und heißen Wünschen nur das Ventil der Sentimentalität und Brutalität öffnet? fragen – stumm und schreiend – die anderen.

Der Rummel um den röhrenden Troubadour Elvis Presley ist eine Bankerotterklärung nicht der Jungen, sondern der Älteren. Wo der Profit das einzig haltbare Ideal ist, muss sich die Sehnsucht nach Idealen zur Gier nach Idolen pervertieren, muss Schönheitsfreude zu Kitschsucht werden und Eros zum gefühlskeimfreien Sex. Massenidole wie Presley sind Mittel zur Ersatzbefriedigung und zum Selbstbetrug zugleich. Indem die Heranwachsenden von ihnen die Erfüllung ihrer inneren Leere erwarten, bekommen sie doch nur einen Spiegel ihres eigenen, sich verläppernden Seins vor-
gehalten, verziert freilich mit dem Heiligenschein des Erfolgs und des Tun-und-lassen-Können, was man will.


Wenn Lonesome Rhodes zu seiner Gitarre sehnsüchtige und erotische Lieder singt, geraten die Teenager außer Rand und Band. Der Saal kocht vor Ekstase. In hysterischer Begeisterung drän-
gen sich die Mädchen an Rhodes und drohen ihm die Kleider vom Leibe zu reißen.

Elia Kazans neuer Film „Ein Gesicht in der Menge“ trifft dieses Phänomen genau, wenn er die um-
gekehrte Perspektive zeigt und damit die teuflische Wechselwirkung zwischen Anbetern und Ab-
göttern enthüllt. Sein „Held“, ein junger Mann, gleich Presley aus den Brackwassern der Menge nach oben geschwemmt, wird an der Fähigkeit, andere toll zu machen, am Ende selber toll.

Wie in der Wirklichkeit erweisen sich auch im Film schließlich die Knappen mächtiger als die, die sie auf den Schild gehoben. Der Sieger wird zum Verlierer. Begeisterungssüchtige Massen regene-
rieren sich schnell, die Strohmänner ihrer Launen und Lüste nur selten. Ein Versagen – und der Spiegel ist zerbrochen. Man trampelt auf den Scherben herum. Die Menge erwacht aus ihrer Betäu-
bung zu neuer Leere und sucht nach neuen, schärferen Narkotika. Was ist das für eine Welt, die nur noch kaufen und verkaufen kann und selbst ihre Götter bezahlt und enterbt? Elia Kazans Film wirft diese Frage auf. Die Antwort überlässt er seinem Publikum.


Das Schönste. Die Monatsschrift für alle Freunde der schönen Künste 11 vom November 1957, München, 30 f.

Überraschung

Jahr: 1957
Bereich: Jugend