Flusslandschaft 2023

Armut

Begüterte spenden gerne. Wer arm ist, bekommt ihr Mitleid. Aber egal ob effektiver Altruismus oder Crowdfundingkampagnen: Private Mildtätigkeit stärkt den neoliberalen Kapitalismus. Jo-
hann Heinrich Pestalozzi: „Wohltätigkeit ist die Ersäufung des Rechts im Mistloch der Gnade.“

Am 17. Januar schrauben am hellichten Tag mehrere Menschen in Arbeitskleidung im S-Bahnhof Marienplatz „defensive Architektur“ in Form von Armlehnen an 23 Bänken der Deutschen Bahn ab, um auf die Verdrängung von obdachlosen Menschen aufmerksam zu machen. Die Armlehnen verhinderten bisher, dass Menschen auf den Bänken übernachten können. „Statt darauf zu warten, dass Parteien unsere Probleme lösen, nehmen wir die Dinge selbst in die Hand”, so die Arbeiter in einem Statement. „Wir haben in den vergangenen Jahren immer wieder gesehen, dass Geld da ist, wenn es benötigt wird. Statt allen Menschen das Grundbedürfnis nach bezahlbaren Wohnraum zu ermöglichen, werden lieber 100 Milliarden an Steuergeldern für Aufrüstung und Militär ausgege-
ben. Dahingegen bleibt die prekäre Lebenssituation von obdachlos gewordenen Menschen wäh-
rend der Pandemie – wie auch sonst – oft unsichtbar … Bei unserer Aktion geht es nicht nur um die einzelnen Bänke. Es braucht ein Umdenken zur Frage, wie wir als Gesellschaft mit Obdachlo-
sigkeit umgehen wollen. Wir denken, dass nicht die Menschen, welche durch diese Architektur verdrängt werden sollen, das Problem sind. Es sind die Zustände, in denen sie leben müssen, die falsch sind. Es ist das kapitalistische Wirtschaftssystem, das trotz Leerstand zu hohe Mieten und Wohnungsnot produziert, und das die Profitinteressen und das Wohlbefinden von Immobilienin-
haber*innen und Konzernen über die Bedürfnisse der Menschen stellt … Wir fordern: Weg mit dieser menschenfeindlichen Architektur! Wir fordern ein selbstbestimmtes Leben in Würde für alle wohnungslosen Menschen! Leerstand enteignen, Wohnraum für alle!”1

Nationalstaatliche Sozialpolitik deckelt das Unruhepotential gerade soweit, dass es dem Laden nicht um die Ohren fliegt. Proteste, die das Mantra der „alternativlosen Lohnarbeit“ nicht kriti-
sieren, bleiben bei einer moralischen Empörung stehen. Denn die Ideologie der Leistungsgerech-
tigkeit wirkt so ungebrochen fort.2


1 Siehe https://www.untergrund-blättle.ch/politik/deutschland/muenchen-gegen-verdraengung-von-obdachlosen-menschen-7466.html

2 Siehe Anne Seeck/Gerhard Hanloser/Peter Nowak/Harald Rein (Hg.), KlassenLos. Sozialer Widerstand von Hartz IV bis zu den Teuerungsprotesten, Berlin 2023.

Überraschung

Jahr: 2023
Bereich: Armut