Flusslandschaft 2023

Medien

„Politischer Journalismus scheint zu einer Form des freiwilligen Embedded-Journalism geworden, zu sein … Auf diese Weise transformiert sich der politische Journalist zum politischen Akteur – freilich ohne dafür in irgendeiner Weise mandatiert zu sein.“ Der Soziologe Harald Welzer und der Schweizer Experte für die Erforschung semantischer Strukturen im Internet, Leo Keller, veröffent-
lichen eine Studie zum Umgang deutscher Leitmedien mit dem Ukrainekrieg. Sie liefert auf Basis computergestützter Analyse von über hunderttausend Artikeln eine solide empirische Grundlage dafür, „dass der Diskurs, der in den Berichterstattungen und Kommentaren der Leitmedien zum Ukrainekrieg stattfindet, die Meinungs- und Diskurslandschaft in der Bevölkerung nicht spiegelt.“1

Es ist schon eigenartig, auf einer Kundgebung empörter Reichsbürger den Sprechchor „Lügen-
presse“ zu hören. War doch Medienkritik früher ein Alleinstellungsmerkmal der Linken, die von „Mainstream-Presse“ sprach oder zuweilen auch von „Staatsmedien“. Das Erschrecken über die Aneignung linker Diskurse durch rechte Meinungsbildner dauert aber nicht lange. Nikolaus Dimmel findet in streifzuege.org die richtigen Worte, die das untergrundblättle am 3. Juli sogleich weiter verbreitet: https://www.untergrund-blättle.ch/gesellschaft/medien/dein-fernseher-luegt-7644.html

S-Bahn auf dem Weg von der Donnersberger Brücke zum Marienplatz. Neben einer Dame sitzt ein Reisender mit Koffer, ihnen gegenüber eine junge Frau, die über ihr Smartphone wischt. Der Rei-
sende zu seiner Nachbarin: „Excuse me, Central Station?“ Diese meint, nachdem der Zug bremst: „You are here.“ Der Zug hält. Die junge Frau schaut kurz hoch und deutet auf die Anzeige im Zug: „No, here is Karlsplatz.“ Durch das Fenster ist allerdings groß „Hauptbahnhof“ zu lesen. Der Rei-
sende schafft es gerade noch auszusteigen. Die Dame fragt die junge Frau: „Trauen Sie nur noch den Medien oder der Wirklichkeit?“ Sie hätte auch fragen können: Löst sich räumlich erfahrbare, konkrete Sozialität und Gemeinschaftlichkeit zunehmend in einer medialisierten, vereinzelten Lebensrealität auf?

Mit großer Sorge nehmen Künstlerinnen und Künstler in Bayern die Berichterstattung über einen radikalen Umbau der Welle Bayern 2 zur Kenntnis. Mehrere Stunden eigenständiges Kulturpro-
gramm sollen im Frühjahr 2024 im Zuge einer weitreichenden Programmreform verschwinden. Bayern 2, das Kulturradioprogramm des Bayerischen Rundfunks, verzichtet künftig unter ande-
rem auf eine eigene Büchersendung. Damit gibt es keine Sendung mehr, die wöchentlich über das literarische Leben in Bayern mit seiner großen Verlagslandschaft berichtet, in den deutschsprachi-
gen Raum blickt und ebenso Weltliteratur vorstellt. Auch soll eine Sendung wie das Kulturjournal eingespart werden – und damit, so der Untertitel, Formate wie „Kritik-Dialog-Essay“. Im Novem-
ber 2021 – in der Corona-Pandemie – initiierte BR-Intendantin Katja Wildermuth öffentlich eine große „Kultur-Offensive“ – zur Stärkung der Kultur in einer für die Kunst und Kultur sehr schwie-
rigen Zeit. Zwei Jahre später befürchten Künstlerinnen und Künstler in Bayern eine ganz andere Kultur-Offensive: das Ende einer eigenständigen kontinuierlichen und vertiefenden Kulturbe-
richterstattung, das Ende von Debattenkultur, das Ende kultureller Themensetzung im Programm von Bayern 2. Diese Entwicklung steht auch gegen die im Medienstaatsvertrag festgeschriebene besondere Rolle der Kulturberichterstattung in den Programmen des BR. In einer Zeit, in der die Sender der ARD vielfach Gegenwind erfahren, werden ausgerechnet Kulturprogramme verändert und eingespart. Die ARD gibt damit einen Teil Ihrer Kernkompetenz auf, ein falscher und fataler Weg. Künstlerinnen und Künstler, „feste“ Freie und Mitarbeiter des BR protestieren am Montag, 11. September, von 11 bis 11.45 Uhr in der Arnulfstrasse 42 direkt vorm Haupteingang des BR-Hochhauses und ziehen dann um die Ecke in die Herbststrasse, die Sackgasse neben dem „Funk-
stadel“, direkt beim BR-Hochhaus. Inzwischen wird bekannt: Der BR will ALLE Kultursendungen (darunter auch Lesungen und das Büchermagazin „Diwan“) zusammenstreichen bzw. einstellen. Dagegen protestieren der Schriftstellerverband PEN und die Bayerische Akademie der Schönen Künste. Am 30. November kommt es um 12 Uhr zur nächsten Protestversammlung am Rundfunk-
platz 1.2


1 Siehe https://www.fischerverlage.de/magazin/neue-rundschau/die-veroeffentlichte-meinung.

2 Siehe https://www.openpetition.de/petition/blog/mehr-kultur-im-br-gegen-die-kuerzung#petition-main

Überraschung

Jahr: 2023
Bereich: Medien