Materialien 1969

Verlagswesen und Buchhandel

5. Der Fall Hueber

Anfang September 1969 stellte die Universitätsbuchhandlung Hueber drei Lehrlinge ein. Diese sahen sich schon wenig später dem Profitstreben des Unternehmens dreifach konfrontiert:

1. Entgegen dem Lehrvertrag, der einen vierteljährlichen innerbetrieblichen Ausbildungsturnus in jeder Abteilung vorsah, sollte die Ausbildungszeit pro Abteilung auf ein halbes Jahr verlängert werden.

Grund: Im Laufe des Jahres 69 hatte sich der Personalstand der Buchhandlung von 42 auf 31 Kol-
legen verringert. Damit wurden Personalkosten eingespart, zugleich aber erhöhte sich das Arbeits-
quantum pro Person – und zwar besonders für die Lehrlinge, die nach dem jeweils vierteljährli-
chen Ausbildungsturnus weitere drei Monate zu Routinearbeiten herangezogen werden sollten.

2. Bei Hueber pflegte man die Lehrlinge erst im 2. Lehrjahr in die Berufsschule zu schicken – ganz entgegen der gesetzlichen Regelung. Dafür biete man, so argumentierte Geschäftsführer N., den Lehrlingen jede Woche eine Stunde theoretischen Unterricht im Betrieb selber. Das Argument war leicht zu durchschauen: die Lehrlinge sollten nicht einen ganzen Tag für den Betrieb verlorenge-
hen, sondern im Betrieb für den Betrieb präpariert und zum reibungslosen Funktionieren angelei-
tet werden.

3. Was Wunder, daß der Geschäftsführer es ablehnte, eine – durchaus übliche – Lehrzeitverkür-
zung vertraglich zu fixieren, vielmehr sie nur vage in Aussicht stellte bei entsprechendem »Fleiß, reger Mitarbeit und geistiger Reife der Lehrlinge«: ein glänzendes Mittel, um die Betroffenen in Unsicherheit zu wiegen und »geistige Reife« aus Unternehmerperspektive als Gefügigkeit zu defi-
nieren.

Gegen diese profitorientierten Maßnahmen wehrten sich die drei Lehrlinge, unterstützt vom Be-
triebsrat und besonders von seinem Vorsitzenden. Daraufhin ging der Geschäftsführer, angesichts demokratischen Protests außer sich, zum Gegenangriff über: er teilte dem Betriebsratsvorsitzen-
den schriftlich mit, er werde das »Probearbeitsverhältnis« der Lehrlinge kündigen. Der Vorsitzen-
de schlug postwendend einen »Menschenhandel« vor: statt den Lehrlingen solle ihm gekündigt werden. Ihn leitete die Überlegung, daß jedes zukünftige betriebspolitische Engagement der Lehr-
linge durch einen Hinauswurf für immer blockiert werden könnte. Auf den angebotenen Men-
schenhandel ging der Geschäftsführer sofort ein, mit der unverhohlenen Eilfertigkeit eines Chefs, der froh ist, einen sozialpolitisch engagierten Betriebsrat loszuwerden.

Für die gewerkschaftlich organisierten Kollegen war der Fall das Fanal, sich mit der Ausbildungs-
problematik dieser Branche auseinanderzusetzen. Es entwickelte sich ein Lehrlingsarbeitskreis und im Lauf der nächsten Jahre wurde ein fortschrittliches Ausbildungskonzept entworfen.

7. Der Fall Goldmann

Diese Dokumentation1 wurde von der Fachgruppe Buchhandel und Verlage als Teil einer Strategie konzipiert, die eine Selbstorganisation der Angestellten im Goldmann-Verlag zum Ziel hat. Repres-
salien sollten von niemanden mehr als Folge persönlichen Versagens, sondern als Ausdruck von Unternehmerwillkür verstanden werden; die latenten Konflikte sollten nicht länger Angst und Re-
signation auslösen, sondern durch gemeinsamen Widerstand und durch die Gegeninitiative aller bewältigt werden. Um allen bundesrepublikanischen Verlagsangestellten und Buchhändlern diese Notwendigkeit aktiver Solidarität bewußt zu machen, wird die vorliegende Dokumentation zu ge-
gebenem Zeitpunkt einer breiteren Öffentlichkeit zugänglich gemacht. Sie ist u.a. dafür gedacht, weitere Publikationen dieser Art anzuregen. Denn nur dadurch, daß innerbetriebliche Fälle Öffent-
lichkeitscharakter gewinnen, kann der ohnmächtige individuelle Protest in einen effektiven ver-
wandelt werden. Dieser Protest hat eine politische Dimension; er geht von der Tatsache aus, daß in Deutschlands Betrieben nach wie vor demokratische Grundrechte verweigert werden. Die einseitig am Leistungsprinzip orientierte Struktur der bundesrepublikanischen Betriebe läßt keinen Spiel-
raum für die politische und soziale Entfaltung des einzelnen am Arbeitsplatz. Diese repressiven Verhältnisse durch gezielte Aufklärungsarbeit bloßzulegen und die Notwendigkeit einer Demokra-
tisierung der Betriebe zu unterstreichen, ist die politische Intention dieser Materialsammlung.

Wir brauchen einen Betriebsrat2
Laut Betriebsverfassungsgesetz haben wir – die Beschäftigten des Wilhelm Goldmann-Verlages – Anspruch auf Bildung eines Betriebsrates. Unregelmäßige und autoritär geführte Belegschafts-
versammlungen ohne echtes Mitspracherecht der Arbeitnehmer sind keinerlei Ersatz dafür. Wir fordern daher die freie, demokratische und geheime Wahl eines Betriebsrates. Es gibt für uns bisher keine Möglichkeit, ungehindert eine Kritik zu äußern. Daher fordern wir einen verschließ-
baren »Meckerkasten«. Wir fordern eine komplette Hausapotheke und ein Krankenzimmer für Betriebsunfälle. Wir fordern eine regelmäßige Beratungsstunde für Ratsuchende im Betriebsrats-
zimmer. Wir fordern die Bezahlung von Überstunden für Arbeiter und Angestellte, auch für be-
triebsnotwendige Heimarbeit. Wir fordern Mitbestimmung bei der Lehrlingsausbildung. Wir fordern, daß gewerkschaftlich organisierte Arbeitnehmer im Betrieb nicht diffamiert werden. Bis-
her traute sich keiner der Beschäftigten zur Betriebsratsgründung aufzufordern aus Angst vor Re-
pressalien durch die Betriebsführung. Unsere dringendste Forderung ist daher die nach soforti-
ger Einberufung einer Betriebsversammlung gem. §§ 16 folgende des Betriebsverfassungsgesetzes zum Zwecke der Vorbereitung der Betriebsratswahl.
Verantwortlich: Arbeitnehmer des Wilhelm Goldmann-Verlages, München

Goldmann: (betrachtet das Flugblatt) Das ist doch Ihr Stil, Herr H.?
H.: Ich für meine Person bekenne mich zu dem Flugblatt.
Goldmann: Nennen Sie mir Namen von weiteren Beteiligten.
H.: Das kann ich nicht. Geben Sie mir bitte bis morgen Mittag Zeit, dann kann ich mit den Betref-
fenden sprechen.
Goldmann: Sie können mir wenigstens sagen, aus welcher Abteilung die Leute kommen.
Antony: Sicher jemand aus der Herstellung.
H.: Ja. (Goldmann läßt die Angestellten der Herstellungsabteilung antreten.)
Goldmann: Wer von euch ist denn für einen Betriebsrat? (Bis auf drei melden sich alle. Die drei dürfen gehen.)
Goldmann: Man kann mit mir jederzeit reden, ohne daß einem der Kopf abgerissen wird. (zeigt auf Flugblatt.) Wer steckt denn dahinter? (Nichts rührt sich.)
H.: Das Schweigen zeigt, daß man Repressalien befürchtet.
Heilmann: Wer war es denn? Wer steckt denn dahinter? So etwas ist doch kein Verbrechen, nie-
mand hat Repressalien zu befürchten.
Goldmann: Ich lasse euch nicht nach Hause gehen, bevor ich es nicht weiß. Außerdem rufe ich die Kriminalpolizei an, die die Schreibtische durchsucht.
Z.: Ich möchte es darauf ankommen lassen. Holen Sie die Kriminalpolizei.
Goldmann: Sie sind still! Sie haben hier nichts zu sagen! Ihnen habe ich bereits gekündigt. (Zu H.) Gehen Sie, holen Sie die andern, sonst hole ich die Kripo.
H.: Gut, ich stehe für meine Person zu der Sache.
Goldmann: Holen Sie trotzdem die andern, schnell, schnell.

Goldmann: Wer steckt noch dahinter?
R.: Ich habe mit Herrn H. den Text verfaßt und stehe dazu.
D.: Ich habe beim Drucken mitgewirkt.
Goldmann: Wer war denn noch beteiligt? Ich muß das wissen, denn sonst kann ich mit euch nicht zusammenarbeiten. Ihr seid ja im Recht. Also, wer sind die andern? (Schweigen.)
Goldmann: Wo habt ihr das drucken lassen?
R.: Bei der Gewerkschaft.
Goldmann: Wie heißt der Mann, der euch unterstützt hat?
R.: Herr Müller.
Goldmann: Dem werde ich es zeigen! Ich habe einen Kriegskameraden, der eine hohe Stellung bei der Gewerkschaft hat. Der wird dem Müller schon Beine machen.
R.: Es besteht eine Unterschriftenliste, die von vierzehn Verlagsangestellten unterzeichnet ist.
Goldmann: Zeigen Sie sie her.
R.: Die liegt bei mir zu Hause.
Goldmann: Ich lasse Sie von Herrn Smusch (Fahrer) nach Hause fahren.
R.: Das scheint mir nicht nötig, denn Sie haben uns ja zugesichert, daß wir keine Repressalien zu erwarten hätten.
Goldmann: Ich möchte die Liste aber doch sehen.
R.: Die Namen habe ich ja im Kopf.
Goldmann: Wer hat eigentlich die Kreuzchenliste gemacht?
R.: Herr S. und ich.
Goldmann: Wurde das mit Schreibmaschine geschrieben?
R.: Ja.
Goldmann: Wo? Hier im Verlag?
R.: Nein, zu Hause.
Goldmann: Wer hat die zweite Sache geschrieben? (Gemeint ist der Kurztext mit verstellter Hand.)
K.: Ich.
Goldmann: Wer hat den Text gemacht?
R.: Ich.
Goldmann: Wer hat es angeheftet?
R.: S. und ich.
Goldmann: Wer steckt noch dahinter? Jemand aus dem Lektorat?
H.: Ich weiß es nicht.
Goldmann: Wenn Sie es nicht sagen, lasse ich alle Lektoren mit Herrn Smusch oder mit dem Taxi herholen.
Z.: Das ist doch lächerlich.
Goldmann: Sie sind in Kündigung, gehen Sie nach Hause, ich brauche Sie nicht mehr.
Z.: Ich möchte gern dabeibleiben. Ich fühle mich mit den andern solidarisch.
Goldmann: So etwas wie dieses anonyme Flugblatt ist mir in meiner ganzen bisherigen Tätigkeit als Verleger noch nicht vorgekommen. Schämt ihr euch denn gar nicht?
K.: Herr Goldmann, ich für meine Person distanziere mich von dieser Sache. (K. ist eine Dame.)
Goldmann: Normalerweise ist es doch so: lange Haare, kurzer Verstand. Bei Ihnen ist es umgekehrt. Ich bin auch sonst recht zufrieden mit Ihnen. Aber das hier (hebt Flugblatt hoch) ist doch tiefste Gosse. Das ist hinterhältig und gemein. Ihr könnt doch jederzeit zu mir oder meinen leitenden Herren kommen, wenn ihr Sorgen habt. Warum habt ihr das nicht getan?
H.: Wir hatten einfach alle Angst. Wir wußten nicht, wie Sie darauf reagieren würden. Wir hatten Angst vor Kündigung.
Goldmann: Aber warum seid ihr nicht zu Dr. Antony gekommen? Der ist nämlich Spezialist für Arbeitsrecht und hätte euch sicher gut beraten. Findet ihr nicht, daß euer Verhalten ungehörig war? Das war nicht richtig. Wissen Sie, daß das Störung des Arbeitsfriedens sein kann? Außerdem sind wir ein Tendenzbetrieb, das wißt ihr sicher nicht.
R.: So eindeutig ist das nicht.
D.: (Will etwas dazu sagen, wird jedoch von Goldmann unterbrochen.)
Goldmann: Sind Sie still, Sie haben hier gar nichts zu sagen. Lernen Sie erst einmal Anstand und Höflichkeit. Setzen Sie sich ordentlich hin. Ich weiß nicht, ob ich den D. behalten kann. Der ist nicht würdig, dem Buchhändlerstand anzugehören. Bei Herrn R. muß ich mir erst die Personalakte ansehen. Ich glaube, auch ihn muß ich aus dem Verlag entfernen. Denn wer solche Sachen macht, hat starke charakterliche Mängel. Der ist ein Unruhe stiftendes Element. Das, was ihr getan habt, ist Schmutz, ist tiefste Gosse.
Antony: Also, was steht denn eigentlich in dem Flugblatt drin?
Goldmann: (liest Punkt für Punkt vor und versucht, die Forderungen zu widerlegen. Bei jedem Punkt schreit er. Am Schluß brüllt er:) Also Lüge, Lüge, nichts als schmutzige Lüge.
H.: (widerlegt ihn in einigen Punkten, z.B. Lehrlingsausbildung und unregelmäßige und autoritär geführte Betriebsversammlungen.)
Goldmann: (greift H.s Arbeitsleistungen an.)
H.: (widerlegt die Anschuldigungen.)
Goldmann: (nimmt sie z.T. zurück.) So. Ihr wollt also einen Betriebsrat. Gut, das ist euer Recht. Dann gehen wir gleich gesetzlich vor. Ich zahle den Lehrlingen keine Fahrgeldzuschüsse mehr, sondern nur mehr den gesetzlich vorgeschriebenen Betrag.
H.: (will mehrfach protestieren, jedesmal wird ihm das Wort abgeschnitten. Schließlich sagt er:) Wo bleibt denn da die Redefreiheit! Herr Goldmann, Sie haben uns betrogen. Sie haben unser Vertrauen mißbraucht.
Goldmann: Sind Sie still! Sie schaden sich.
H.: (will weiterreden, wird aber endgültig daran gehindert.)
Goldmann: (kommt auf die Lehrlingsausbildung zu sprechen und äußert sich dann über die Nachteile eines Betriebsrats:) Dann könnt ihr nie mehr zu mir kommen und zu meinen leitenden Heren. Das geht uns dann gar nichts mehr an – wißt ihr das auch? (Es ist klar erkennbar, daß sowohl Goldmann wie die Verlagsleitung die Betriebsratsaktion auf jeden Fall ersticken wollen.)
Goldmann: Was wollt ihr denn? Habt ihr überhaupt Kandidaten? Wen schlagt ihr denn vor? (Es werden zögernd einige Leute vorgeschlagen.)
Antony: Das sind zu wenig.
Goldmann: Ich lasse euch nicht eher gehen, bis ihr die fehlenden Kandidaten genannt habt. (Es werden noch einige Namen genannt. Um 18.15 Uhr werden die Angestellten aus dem »Verhör« entlassen.)

Am 13. März verteilte die Fachgruppe Buchhandel und Verlag ein Flugblatt vor dem Verlag. Der Aufforderung zu einer Diskussion nach Betriebsschluß folgten etwa 25 Verlagsangehörige, die z.T. sehr freimütig ihre Unzufriedenheit mit den Verhältnissen im Verlag äußerten.

Inzwischen wurde der »Fall Goldmann« von der Münchner Presse und anderen bundesdeutschen Zeitungen aufgegriffen. In dieser Situation entschloß sich die Geschäftsleitung des Verlags zu einem überraschenden Schritt: Sie lud 10 Fachgruppenmitglieder zu einer Betriebsbesichtigung ein, bei der die Möglichkeit zu einer offenen Aussprache mit allen Verlagsangehörigen gegeben war. Im Anschluß daran fand die Gründungsversammlung für einen Betriebsrat statt; der aus drei Mitgliedern bestehende Wahlvorstand wurde gewählt.

Nach Ablauf der gesetzlich vorgeschriebenen Frist wurde die Belegschaft des Goldmann-Verlags Anfang Mai nicht etwa zur ersten Betriebsratswahl in der Geschichte des Hauses aufgerufen; zwei Wochen nachdem Goldmann und Dr. Antony in einer Betriebsversammlung noch einmal ihre Mei-
nung zu einem Betriebsrat unzweideutig geäußert hatten, erfuhr sie vielmehr vom Rücktritt des Wahlvorstandes (Mehrheitsbeschluß 2 : l).

Die Rücktrittserklärung hat folgenden Wortlaut:

Der Wahlvorstand gibt bekannt, daß er mit dem heutigen Datum um 16.00 Uhr zurücktritt, da er die Möglichkeit zur Durchführung einer Betriebsratswahl u.a. aus folgenden Gründen nicht mehr für gegeben hält (obwohl die Nachfrist noch nicht abgelaufen ist):
a) Die mögliche Kandidatur einiger Angestellter wurde durch den überraschenden Entschluß der Geschäftsleitung bzw. Herrn Goldmanns, die Betreffenden in den erweiterten Kreis der Geschäfts-
führung einzubeziehen und sie damit von der Wählbarkeit auszuschließen, verhindert.
b) Die Kandidatur von Betriebsangehörigen, die nicht bereits ein Jahr dem Betrieb angehören, wurde, entgegen der Übereinkunft mit Herrn Heilmann, nun durch Herrn Goldmann grundsätz-
lich ausgeschlossen.
Durch diese Maßnahme sind auf Grund des starken Personalwechsels3 etwa die Hälfte aller Be-
triebsangehörigen nicht wählbar, unter ihnen die an der Betriebsarbeit am meisten Interessierten.
Der Wahlvorstand hat darüber hinaus den Eindruck gewonnen, daß die Äußerungen in der Rede von Herrn Goldmann am 17.4. geeignet waren, Furcht und Resignation auch unter jenen auszulö-
sen, die bis dahin noch zu einer Kandidatur bereit gewesen wären.
Diese Beeinflussung, die nach dem Betriebsverfassungsgesetz eindeutig unzulässig ist, hat zusam-
men mit den oben genannten Maßnahmen die Voraussetzungen zu einer fairen und freien Wahl aufgehoben.
München, 2.5.1969

Die beiden Mitglieder, auf deren Wunsch der Wahlvorstand zurückgetreten war, wurden inzwi-
schen fristlos entlassen.

Unterdrückung am Arbeitsplatz: Die Betriebsordnung

»Jeder hat das Recht auf freie Entfaltung seiner Persönlichkeit.«
»Die Freiheit der Person ist unverletzlich.«
(Art. 2 des Grundgesetzes)

Der Verleger W. Goldmann, der – symptomatisch für Unternehmermentalität – in seinem Betrieb mit dem Gebaren eines Potentaten herrscht, hat ein sehr eigenartiges Verhältnis zum Grundgesetz: Was er selbstverständlich für sich beansprucht – das Recht auf freie Entfaltung seiner Persönlich-
keit – verweigert er mit der gleichen Selbstverständlichkeit den Angehörigen seines Unterneh-
mens.

Seine wirtschaftliche Überlegenheit, d.h. die Macht seines Kapitals gegenüber den von ihm Lohn-
abhängigen in brutaler Weise ausnutzend, regiert er seinen hierarchisch strukturierten Betrieb als Despot, der dem Arbeitnehmer nicht nur bedingungslosen Gehorsam und militärische Disziplin, sondern darüber hinaus auch noch Mitwirkung an der eigenen Unterdrückung abverlangt.

Dementsprechend hat er in seinem Verlag, wo
– der Betriebsangehörige (dessen »Waschen und Umkleiden … außerhalb der Arbeitszeit zu erfol-
gen« hat) »mit Beginn der Arbeitszeit arbeitsbereit an seinem Arbeitsplatz zu sein« hat, den »er nicht vor Schluß der Arbeitszeit verlassen« darf (ABO Nr. 13).
– »das Aufhängen von Bildern und Kalendern sowie das Aufstellen von Blumentöpfen und dgl. … nur mit Genehmigung der Verlagsleitung« erfolgen darf (ABO Nr. 36).
– private Ortsgespräche nur nach Angabe des Grundes und Hinterlegung von DM 0,40 weiterver-
bunden werden.
– striktes Rauchverbot – auch für Besucher – »in sämtlichen Geschäfts-, Pack- und Lagerräumen, auch in den Garagen« (»Die Toiletten zählen dabei zu den Geschäftsräumen«!) sowie Denunzia-
tionspflicht bei Verstößen gegen dieses Verbot herrschen (»Wer gegen diese Bestimmungen ver-
stößt, erklärt sich mit der fristlosen Entlassung ohne jeden Einspruch einverstanden«), vgl. die An-
ordnung »Achtung! Rauchen verboten!«, die Bestandteil der ABO ist.
– »unbegründete Verweigerung von Überstundenarbeit« ein Grund zur fristlosen Entlassung« ist (ABO Nr. 15).
– »jeder Betriebsangehörige die Interessen des Betriebs nach jeder Richtung hin zu wahren« hat (ABO Nr. 24),
eine Arbeits- und Betriebsordnung erlassen, die er wohl für so human und fortschrittlich hält, daß er nicht gestatten kann, »diese Mappe mit nach Hause zu nehmen oder deren Inhalt ganz oder teilweise Dritten zugänglich zu machen«; denn »wenn mein Verlag auf verschiedenen Gebieten vom sozialen Standpunkt aus günstige Regelungen getroffen hat, so dürfen diese anderen Betrie-
ben gegenüber nicht ausgespielt werden, denn alle diese Regelungen müssen jedem Unternehmen individuell angepaßt werden«.

Wie W. Goldmann behauptet, haben die »Festlegungen« der ABO »den Zweck, die Voraussetzung für ein gutes Betriebsklima zu schaffen, in dem jeder Mitarbeiter mit Anteilnahme seine Pflichten erfüllt, um die Leistungsfähigkeit des Unternehmens und seine wirtschaftliche Existenz im Inter-
esse aller Mitarbeiter zu sichern«. In Wirklichkeit bezwecken die inhumanen, vom Unternehmer selbstherrlich verfügten Anordnungen eine weitestgehende Unterdrückung der Arbeitnehmer und systematische Verstümmelung der Persönlichkeit des einzelnen. Sie mißachten nicht nur ganz all-
gemein die Menschenwürde und das Recht auf freie Entfaltung und Selbstverwirklichung des Men-
schen am Arbeitsplatz, sondern stehen in zahlreichen Punkten in Widerspruch zum bestehenden positiven Recht.

Juristische Stellungnahme zur ABO der Firma Goldmann Verlag

Die ABO enthält eine Reihe von Bestimmungen, die, bestünde in der Fa. Goldmann ein Betriebs-
rat, dessen Mitbestimmung unterlägen. Hinsichtlich derartiger Bestimmungen besteht ein rechts-
theoretischer Streit, ob ein Arbeitgeber sie in jedem Fall allein und einseitig treffen kann. Darauf kommt es im vorliegenden Fall aber nicht an.

Der einzelne Arbeitnehmer hat mit der Fa. Goldmann einen Arbeitsvertrag geschlossen, in dem auf die Geltung der ABO verwiesen wird. Erst nach Vertragsabschluß und erfolgtem Arbeitsantritt er-
hält er ein Exemplar der ABO, deren Aushändigung er – ohne sie gelesen zu haben – quittieren muß. Daraus folgt, daß die ABO unmittelbar Bestandteil jedes einzelnen mit der Fa. Goldmann ab-
geschlossen Arbeitsvertrags geworden ist.

Dabei ist von wesentlicher Bedeutung, daß dieser Vertragsinhalt nicht individuell und frei ausge-
handelt wurde. Vielmehr wurde die von der Fa. Goldmann formularmäßig vorformulierte ABO jeweils pauschal zum Inhalt des Arbeitsvertrags gemacht. Dem Stellenbewerber blieb dabei nur die Möglichkeit, diesen Vertragsinhalt als Ganzes zu akzeptieren oder abzulehnen (und damit die Stelle ausschlagen). Daß die Fa. Goldmann in der Lage ist, ihren jeweiligen Vertragspartnern (– potentiellen Arbeitnehmern) uneingeschränkt die eigenen Geschäftsbedingungen aufzudrängen, folgt aus ihrer überlegenen wirtschaftlichen Stellung gegenüber dem einzelnen Arbeitnehmer.

Diese Situation erinnert stark an die im Wirtschaftsleben üblichen Allgemeinen Geschäftsbedin-
gungen, bei welchen auch der jeweils wirtschaftlich mächtigere Geschäftspartner von ihm vorfor-
mulierte typisierte Vertragsbedingungen durchsetzt.

Martius Gerteeser

{Die mit Martius Gerteeser gezeichnete Arbeit wurde von Mitgliedern der Fachgruppe Buchhandel und Verlage in der Gewerkschaft HBV (Handel, Banken, Versicherungen) verfaßt und zusammen-
gestellt.}


1 Zitiert wird aus einer Dokumentation, die von der Münchner Fachgruppe Buchhandel und Verlage in der Gewerkschaft HBV herausgegeben wurde unter dem Titel: G – Gütezeichen für Unternehmerwillkür.

2 Flugblatt von Angestellten

3 Anmerkung der Redaktion: Innerhalb eines Jahres (Oktober 1967 bis September 1968) waren 20 Zugänge und 28 Abgänge zu verzeichnen. Von den 28 Abgängen waren 16 nicht länger als 2 Tage bis 12 Monate geblieben. Diese Zahlen betreffen Lektorat, Herstellung und Sekretariat. Name und Adresse sind den Herausgebern bekannt.


kürbiskern. Literatur, Kritik, Klassenkampf 4/1972, 732 ff.