Flusslandschaft 2023

Flüchtlinge

„Die EU spricht immer von Menschenrechten. Aber sie behandelt uns wie Müll.“
Yaser Taheri, Jugendlicher aus Afghanistan

14. Juni, 2.06 Uhr, Ionisches Meer, südwestlich von Pylos, Griechenland: Die Adriana mit etwa 750 schutzsuchenden Menschen an Bord versinkt. Der ehemalige Fischkutter war unterwegs von Tobruk, Libyen, nach ltalien. Vermutlich über 600 Flüchtlinge ertrinken, nur 104 werden gerettet. Von den Passagieren unter Deck, wo sich auch Frauen und Kinder befinden, überlebt niemand. Tags zuvor: Bereits um 11 Uhr am Morgen des 13. Juni informiert die italienische Seenotrettungs-
stelle sowohl die EU-Grenzagentur Frontex als auch die griechische Küstenwache über die Position des völlig überfüllten Bootes in der griechischen Rettungszone. Schon zu diesem Zeitpunkt soll es zwei tote Kinder an Bord geben. Ab diesem Notruf haben die Grenzbehörden viele Stunden Zeit, die Menschen zu retten, aber es wird kaum etwas unternommen. Verschiedene Beobachtungsstel-
len dokumentieren dieses Sterbenlassen der Schutzsuchenden auf Hoher See. Kurze Zeit schwappt eine Welle moralischer Empörung durch die Medienlandschaft, dann breitet sich ohrenbetäubende Stille über die weiß-blauen Lande aus.

Auf dem Treffen der EU-Innenministerinnen und Innenminister am 8. Juni werden weitreichende Verschärfungen im Asylrecht beschlossen. Massenhafte Grenzverfahren unter Haftbedingungen werden ebenso die Folge sein, wie Abschiebungen in vermeintlich »sichere Drittstaaten« ohne jede inhaltliche Prüfung des Asylantrags. Nicht einmal Familien mit Kindern werden von den verpflich-
tenden Grenzverfahren ausgenommen – selbst diese rote Linie hat die Bundesregierung über-
schritten. Denn die deutsche Innenministerin Nancy Faeser hat den Forderungen der Ländern mit rechten Regierungen zugestimmt. Die unwilligen Mitgliedsstaaten müssen – trotz der vielbeschwo-
renen Solidarität – außerdem auch zukünftig keine Flüchtlinge aufnehmen. Stattdessen können sie Abschottungs- und Grenzmaßnahmen finanzieren. Am 9. Juni kommt es zu einer Spontandemon-
stration.1 – Die Folgen sind klar: Die Entmenschlichung an den europäischen Außengrenzen wird zur neuen Rechtsform Europas erklärt. Statt die Versprechen aus dem Koalitionsvertrag einzuhal-
ten, wird entschieden, Schutzsuchende noch vor der Europäischen Grenze aufzuhalten. Mit dieser Entscheidung knickt die Bundesregierung gegenüber den rechten Regierungen und Strömungen in Europa ein und macht die Gewalt gegenüber Schutzsuchenden zum Teil des europäischen Werte-
systems. Die angebliche Brandmauer gegen Rechts wird von dieser Politik regelrecht eingetreten. Die rassistische Rhetorik, die Politikerinnen und Politiker wie Orban, Höcke, Meloni und zuletzt Spahn immer wieder verwenden, wird für wirksam erklärt und ihr Kalkül durchgesetzt. Die See-
brücke
organisiert unter dem Motto „Rettet die Menschenrechte!“ am 20. Juni, dem World Refu-
gee Day, von 16 bis 18.30 Uhr auf dem Marienplatz eine Protestkundgebung. Sie fordert eine anti-
rassistische Migrationspolitik und ein offenes und solidarisches Europa für alle.2


„Bleiberecht überall – kein Mensch ist illegal!“ Die Folgen des Klimawandels sind weltweit zentrale Ursachen für Hunger und Armut. Doch nicht nur das: Klimaveränderungen führen zunehmend da-
zu, dass Ernten ausbleiben und Lebensräume zerstört werden. Darum sind immer mehr Menschen gezwungen, ihr Zuhause zu verlassen. Es folgt eine Klimaflucht. Davon sind schon heute im Durch-
schnitt jedes Jahr mehr als 26 Millionen Menschen betroffen. Trotzdem hat die Ampel Regierung zusammen mit den anderen EU Staaten dafür gestimmt, das Grundrecht auf Asyl quasi abzuschaf-
fen. Damit wird die Unantastbarkeit der Menschenwürde ausgehebelt, indem Verfahren an den Außengrenzen & das Einsperren von Schutzsuchenden legalisiert werden sollen. Die Demonstrati-
on des Münchner Bündnisses gegen Krieg und Rassismus beginnt am 7. Juli um 14 Uhr auf dem Stachus.

Über 160 Organisationen, unter ihnen Arbeitsgemeinschaft der Ausländer-, Migranten- und In-
tegrationsbeiräte Bayerns
(AGABY), In Aktion gegen Krieg und Militarisierung_, Alarmphone München, Amnesty International – Bezirk München und Oberbayern, Aufstehen gegen Rassismus München, Bellevue di Monaco, Bayerischer Flüchtlingsrat, Münchner Bündnis gegen Krieg und Rassismus, Nord Süd Forum München e.V., Republikanischer Anwältinnen und Anwälteverein e.V. (RAV), VVN BdA Kreisvereinigung München …) unterstützen den Aufruf für eine solidarische Gesellschaft und gegen Abschottungspolitik. Anlass des breiten Bündnisses sind die Reformpläne zum Gemeinsamen Europäischen Asylsystem, kurz GEAS, oder auch: ein menschenrechtlicher Dammbruch. Die Demo „Offen bleiben! Für eine solidarische Gesellschaft!“ startet am Sonntag, 16. Juli, um 16.00 Uhr am Gärtnerplatz und endet mit einer Abschlusskundgebung ab 17.30 Uhr auf dem Marienplatz. Es sprechen u.a. Betiel Berhe (Autorin, Social Justice Institut München_), Dr. Ifunanya Concilia Dimaku (Ärzte der Welt_), Pia Chojnacki (Aktivistin), Tatjana de Sousa Mendonca Mischek (Migrationsbeirat München_), Peter Probst (Lichterkette_), Tareq Alaows (ProAsyl) und Mouatasem Alrifai (Integrationsbeirat Nürnberg).3

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Im Kreativquartier Ecke Dachauer/Schwere-Reiter-Straße am 4. Oktober


Mit der „Reform“ des „Gemeinsamen Europäischen Asylsystems“ (GEAS) sollen Schutzsuchende zukünftig daran gehindert werden, in der EU einen Asylantrag zu stellen. Die Europäische Union und die Bundesregierung wollen das Recht auf Asyl faktisch abschaffen. Eine individualrechtliche Prüfung wird unterbunden, Abschiebungen in Lager an EU-Außengrenzen und in Drittländer wer-
den erleichtert. Faktisch bedeutet das: Die Genfer Flüchtlingskonvention wird ausgehebelt, und Menschen, die vor Krieg, Verfolgung, Armut und fehlenden Lebensgrundlagen fliehen, haben kaum noch eine Chance auf ein menschenwürdiges Leben. Am Wochenende des 6. – 8. Oktober kommt es daher zu bundesweiten Aktionen gegen die Pläne der Bundesregierung und der Europä-
ischen Union.

Am 1. Februar 2024 teilt der bayrische Innenminister dem Landtag mit, es hätten 2023 in „bayri-
scher Zuständigkeit“ 14.087 Menschen das Land verlassen müssen, davon 2.364 durch Abschie-
bungen und 11.723 mittels freiwilliger Ausreisen: „Trotz schwieriger Rahmenbedingungen konnten wir die Zahl der Abschiebungen um fast 16 Prozent und die Zahl der freiwilligen Ausreisen sogar um rund 27 Prozent im Vergleich zum Vorjahr steigern.“


1 Siehe „Gegen die Abschaffung des Rechts auf Asyl“ von Kerem Schamberger.

2 Siehe https://www.seebruecke.org/aktionen/gegen-geas-2 und https://www.seebruecke.org/aktuelles/kampagnen/eu-beschliesst-abschaffung-des-asylrechts.

3 Siehe https://offen-bleiben-muenchen.de/.

4 Foto: Franz Gans

Überraschung

Jahr: 2023
Bereich: Flüchtlinge