Materialien 2023
Gegen die Abschaffung des Rechts auf Asyl
Rede auf der Spontan-Demo in München
Liebe Freundinnen und Freunde,
es ist wichtig, dass wir heute hier gegen den sogenannten Asylkompromiss demonstrieren, der gestern von den EU-Innenministern beschlossen wurde. Denn er bedeutet die de facto-Abschaf-
fung des individuellen Rechts auf Asyl in ganz Europa. Um nichts weniger handelt es sich, wenn zehntausende Menschen zukünftig an den EU-Außengrenzen inhaftiert werden.
Ich war letzten August auf der griechischen Insel Samos: Dort gibt es schon ein sogenanntes Closed Controlled Access Center – ein Hochsicherheitslager, mit doppeltem Nato-Stacheldraht, Drohnen, Videoüberwachung, deren Aufnahmen in Athen zusammenlaufen, Chip-Karten, privaten Sicher-
heitskräften und Polizei.
Die EU hat schon vor 3 Jahren 276 Mio Euro ausgegeben für fünf solcher exemplarischen Lager. Als ich im letzten Sommer dort war, waren nur wenige hundert Menschen im Lager. Ich habe mich damals gewundert, warum sie einen Platz geschaffen hatten, um 2.000 Menschen in einer haftähn-
lichen Situation unterzubringen.
Jetzt wissen wir es: weil sie schon beim Bau gewusst hatten, dass es bald sehr viel mehr sind, die über Monate dort eingesperrt werden. Bis zu 120.000 – ich wiederhole Einhundertzwanzigtausend Geflüchtete sollen an den EU-Außengrenzen in Zukunft eingesperrt werden können. Darunter Männer, Frauen, Familien mit Kindern. Das, was wir seit Jahren als Festung Europa anprangern, wird damit zur bildlichen Realität: Mauern, Stacheldraht, riesige Lager. Ein unglaublicher Skandal!
Liebe Freundinnen und Freunde, um nichts geringeres als die Abschaffung des Rechts auf Asyl handelt es sich, wenn Beamte bald entscheiden, ob Menschen, die vor Krieg, Verfolgung, wirt-
schaftlicher Ungerechtigkeit aus sogenannten „sicheren Herkunftsländern“ oder „sicheren Dritt-
ländern“ kommen und sie sofort dorthin zurückschicken.
„Sichere Drittländer“. Was heißt das überhaupt? Das heißt zum Beispiel, dass ein Land wie die Türkei mit einer brutalen Autokratie wie dem AKP-Regime als sicher eingestuft werden für Men-
schen aus den Kriegsländern Afghanistan, Syrien oder Somalia. Diese Menschen können dann zurückgeschickt werden. Griechenland hat z.B. schon genau vor 2 Jahren beschlossen, dass die Türkei ein solches sicheres Drittland ist.
Und das, obwohl bekannt ist, dass zehntausende SyrerInnen gegen ihren Willen in das Kriegsland Syrien abgeschoben wurden, teilweise unter vorgehaltener Waffe, wenn sie nicht in den Bus stei-
gen wollten, der sie über die Grenze bringt.
Und das, obwohl bekannt ist, dass die Türkei massenhaft nach Afghanistan abschiebt. Letztes Jahr waren es nach offiziellen(!) Angaben mehr als 61.000 Menschen, die dorthin zurückgeschickt wur-
den. Wir waren als medico international vor Ort und haben mit Asylanwälten gesprochen. Sie ha-
ben uns berichtet, dass in die sogenannten Rückführungszentren Beamte der Taliban per Video zu-
geschaltet werden und sie dann entscheiden, wen sie abgeschoben haben wollen.
Von dem alltäglichen Rassismus gegen syrische Geflüchtete, gegen Kurdinnen und Kurden in der Türkei habe ich noch gar nicht gesprochen. Aber DAS ist es, was die EU nun als sicheren Drittstaat akzeptieren wird.
Länder, wie die Türkei erledigen gegen Bezahlung die Drecksarbeit. Sie ist ganz im Sinne der EU, aber niemand will sich die Hände schmutzig machen. Eines von vielen Beispielen der Externalisie-
rung der Gewalt gegen Geflüchtete und MigrantInnen. Damit wir uns hier weiter gut und wohl fühlen können.
Deshalb spricht Innenministerin Nancy Faeser von der SPD von einem historischen Erfolg. Und Außenministerin Baerbock spricht davon, dass sie mit ihrer Zustimmung die Verhinderung von neuen Binnengrenzen in der EU verhindern will. Und das, während jetzt die Leute an den Nato-Stacheldrähten der Außengrenzen verbluten und zurück in Kriegsgebiete geschickt werden. Das ist neokoloniales Gehabe und einfach nur noch erbärmlich.
Liebe FreundInnen, ich habe es jetzt schon oft gesagt: es geht um die Abschaffung des Rechts auf Asyl auf gesamteuropäischer Ebene.
1993 – vor genau 30 Jahren – wurde es bereits in Deutschland so zurechtgestutzt, dass es prak-
tisch nicht mehr existent war. Damals waren es CDU/CSU, die SPD und die FDP. Zwei dieser Parteien sind auch heute an der Regierung beteiligt. Und diesmal auch mit dabei: die Grünen. Ausgerechnet sie, die sich die Verteidigung der Rechte von Geflüchteten ins Parteiprogramm geschrieben haben. Wir haben gestern gesehen, dass das nicht mal das Papier Wert ist, auf dem das geschrieben steht.
Wovon Horst Seehofer nur träumen konnte – auf dessen Vorschlag die nun beschlossenen Grenzinhaftierungen zurückgehen –, dem hat nun die Ampel-Koalition zugestimmt. Doch wer glaubt Flucht und Migration stoppen oder stark verringern zu können, ohne die imperiale und kapitalistische Produktions- und Lebensweise in Europa zu verändern, irrt gewaltig. Der Preis dieses „Irrtums“ werden noch viel mehr Tote an den Außengrenzen sein.
Liebe FreundInnen, gestern wird als dunkler Tag in die Geschichtsschreibung übergehen. Sorgen wir dafür, dass auch unser Widerstand dagegen und für ein Europa der Solidarität in Erinnerung bleiben wird.
Refugees welcome!
Kerem Schamberger
medico-International
9. Juni 2023